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Kein Flugzeug, sondern eine Uhr

Mit seinen Entwürfen und Skizzen beschäftigt Leonardo da Vinci die Gelehrten heute mehr denn je. Und immer wieder gelingen verblüffende Neu-Interpretationen. So entpuppte sich der "Motor" jenes weltbekannten Flugapparates in Wirklichkeit als Uhrwerk.

Von Walter E. Hanwyler

Über 6000 Seiten mit Zeichnungen und Erklärungen hinterließ Leonardo da Vinci der Welt, als er im Jahr 1519 auf Schloß Cloux bei Amboise starb, angeblich in den Armen Franz I. Diese Manuskripte waren eine unerschöpfliche Quelle technischer Inspirationen beim Aufbruch der Menschheit in die Neuzeit. Erst hundert Jahre nach seinem Tod systematisch gesammelt, zu kleineren Formaten geschnitten(!) und gebunden, hüten heute Museen und Sammler in aller Welt die "Codices". Die oft wenig systematisch kombinierten Teile seines Werkes sind heute Schätze, die zu absurden Preisen gehandelt werden. Erst kürzlich ersteigerte der amerikanische Leonardo-Fan und Microsoft-Chef Bill Gates den bedeutenden "Codex Hammer" (seinerzeit vom Unternehmer und Philanthropen Armand Hammer erworben), in dem da Vinci über Klimaphänomene und Naturkatastrophen nachdenkt, für die unglaubliche Summe von 30 Millionen Pfund.

Die Leonardo-Forschung hat mittlerweile das gesamte Werk des Renaissance-Genies gründlich studiert und interpretiert. Dabei ist sie immer wieder auf Unbekanntes gestossen. So stieß sie zum Beispiel erst in den sechziger Jahren auf die Zeichnung seines "Fahrrades". Sie fanden sich auf einer überklebten Rückseite des "Codex Atlanticus". Eine Zufallsentdeckung. Eher amüsiert registrierten die Forscher, daß Leonardo manchmal auch seine Einkäufe für den nächsten Tag auf den Seiten notierte, an denen er gerade arbeitete - Käse, Eier, Wein - gleich neben komplizierten Zeichnungen über technische Neuerungen oder architektonischen Studien. Das Genie war eben auch Mensch.

Daß wirklich neue Funde von wissenschaftlichem Wert im Laufe der Beschäftigung mit dem Nachlaß Leonardos seltener wurden, versteht sich. Um so sensationeller ist deshalb eine Entdeckung, die der Leonardo-Forscher Alessandro Vezzosi 1995 in Vinci präsentierte. Vezzosi ist Initiator und Leiter des "Museo Ideale" in Vinci, ein Mann von profunder Gelehrsamkeit und ein passionierter Leonardista, der intensiv den 1493 angelegten Codex Atlanticus studierte.

Als er sich auf das Blatt 863 recto (die Archivsprache der Historiker und Kunsthistoriker kennt keine Seiten, sondern spricht nur von Blättern, deren Vorderseite als "recto" und deren Rückseite als "verso" bezeichnet wird) vorgearbeitet hatte, fand er die bisher übliche Deutung der Skizze als "Motor" eines hubschrauberähnlichen Flugapparates nicht überzeugend. Zu Recht.(s. Zeichnung). Nicht über einen Helikopter hatte Leonardo nachgedacht, wie sich 502 Jahre später herausstellt, sondern über etwas Naheliegenderes und technisch Dringlicheres: das funktionsfähige Werk einer Uhr mit Federaufzug.

Sein Leben lang war das Thema der Zeitmessung eine der großen Herausforderungen für den Genius. Aber so sehr es ihm auch zu gönnen gewesen wäre: Er hat die Uhr nicht erfunden. Die nicht. Was Leonardo zu seiner Zeit an Techniken der Zeitmessung vorfand, war beachtlich: Sonnenuhren, Wasseruhren, recht genau gehende "Sanduhren", gefüllt mit Marmor- oder Bleipulver - er kannte sie alle und hat die Sanduhr als Chiffre für die Vergänglichkeit immer wieder skizziert.

Fasziniert müssen Leonardo jedoch die damals schon bekannten Astrolabien haben und die ersten mechanischen Uhren. Sie arbeiteten bereits mit der Einteilung des Tages in 24 gleich lange Stunden und teilten die Stunde in 60 Minuten. Leonardo da Vinci kannte auch bis ins kleinste Rädchen die erste Räderwerksuhr, die bereits seit 1309 im Glockenturm der Kirche St. Eustorgio in Mailand eingebaut war. Unter seinen vielen Uhrwerksskizzen (Leonardo zeichnete nie ein Gehäuse, das war nebensächlich) taucht mehrfach die berühmte Monduhr der Zisterzienser-Abtei von Chiaravalle bei Mailand auf. Doch diese Mechanismen hatten für Leonardo zwei gravierende Nachteile: Sie waren nicht genau genug, und sie benötigten, bedingt durch ihren Gewichtsantrieb, zuviel Platz.

Dem "Motor" und der Energieübertragung der Uhr widmete Leonardo als geborener "Maschinenbau-Ingenieur" seine ganze Aufmerksamkeit. Alle seine fundamentalen Erfindungen im Bereich von Spiralgetrieben, mechanischen Kupplungen, komplizierten Schraubenübertragungen und vor allem seine Forschungen auf dem Gebiet des Federantriebs sind heute auch Bestandteile vieler Maschinen, auch der kleinsten, die wir nutzen - nämlich der mechanischen Uhr.

Hier schließt sich auch der Kreis zur überzeugenden Neu-Interpretation, die Alessandro Vezzosi in Vinci gelang, indem er nach der Zeichnung Leonardos ein exaktes Modell bauen ließ.

Der Gelehrte enthüllte damit das Geheimnis jenes Apparates, der mit seinen zwei gebogenen Schwingen an eine Armbrust erinnert. An einem seitlichen Handrad (der "Krone") zieht man den Mechanismus geräuschvoll auf. Der Bogen (die Antriebsfeder) spannt und krümmt sich nach unten. Die auf beiden Seiten daran befestigten Seile werden jeweils über Rollen auf konisch geformte Schneckengetriebe aufgewickelt. Der mit Gewichten präzise regulierbare, horizontale Schwingbalken setzt sich in Bewegung. Unter lautem Ticken greift die daran angebrachte, senkrechte Welle mit ihren zwei Vorsprüngen in das auffällig gezackte Hemmrad (das sogenannte Katarinenrad) ein, "reguliert" die Bewegungen des Rades in gleich große Schritte und erzielt so den gleichmäßigen Ablauf. Genauso funktioniert die mechanische Uhr im Prinzip auch heute noch.

Leonardo hatte hier ganz klar den Federantrieb realisiert. Auch erkannte er die Gesetzmäßigkeit, daß eine Feder gegen Ende ihrer Entspannungsphase an Kraft verliert. Deshalb die pyramidale, also konische Form der Walze, auf die das Seil aufgewickelt ist. Sie sorgt für die nötige Kompensation. Das Prinzip ist im Uhrenbau als Antrieb über "Kette und Schnecke" bekannt. Ebenfalls von Leonardo erfunden wurde das Gesperr - ein Klinke, die in ein Aufzugsrad eingreift und dessen Rückschlagen verhindert.

Alessandro Vezzosi ist stolz auf seine Entdeckung, die in Vinci, am Geburtsort Leonardos, gelang. Sie spiegelt überzeugend Leonardos Vorstellung von einer perfekt funktionierenden Mechanik wider. Der "Motor" neben dem Flugapparat auf da Vincis Manuskript - in Wirklichkeit also ein Uhrwerk - verbindet zwei ewige

Träume des Genies: den vom Fliegen und den von der Reise durch die Zeit. Das Modell ist auch auf der Leonardo-Ausstellung zu sehen.

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Alle Rechte an den Texten hat wahrscheinlich das Historische Museum Schottenstift in Wien. Für jegliche Veröffentlichungen waren die Texte als Pressedokumentation kostenlos im Internet verfügbar.

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