Ein Vortrag von Arno Gruen
Über Identität und Unmenschlichkeit
Es geht um die Frage der Identität des Menschen. Und die Frage nach der Identität des Menschen ist ja die Frage nach seinem Menschsein. Es ist zugleich die Frage nach dem Schaden in Körper und Seele, den ein Mensch aushalten kann, um an seinem Menschsein festhalten zu können. Primo Levi in seinem erschütternden Auschwitz-Bericht "Ist das ein Mensch" schrieb, dass er sich selber schäme, dass es Menschen waren, die Auschwitz erdacht und errichtet hatten. Aber Auschwitz ist weder Anfang noch Ende dieser Scham. Diese fing an mit den Kindsmorden der Antike und findet weiter statt mit den täglichen Verstümmelungen und Vergewaltigungen von Kindern, Frauen, Menschen in Südamerika, Afrika, dem früheren Jugoslawien, Russland, im nahen Osten und bei uns in den Gewalttaten des Fremdenhasses und von Kindern gegen andere Kinder. Die Krise unserer Welt lässt sich eben nicht auf nationale, ökonomische oder technologische Probleme reduzieren. Sie liegt in unserer Definition, in unserem eigentlichen Verständnis des Menschen. Wir nennen das, worin wir leben, stolz Zivilisation. Doch haben unsere Gesetze und Techniken ein Eigenleben entwickelt, das sich gegen unser seelisches und körperliches Überleben richtet. Die politischen Verhältnisse schwanken zwischen Konsolidierung bürokratischer Herrschaft und Ausbrüchen ohnmächtigen Zorns. Die Frage über das Menschsein geht deswegen weit über Auschwitz hinaus. Auschwitz war ein Mahnmal dessen, wozu Menschen im Stande sind und berechtigt zu der Frage, was denn ein Mensch überhaupt ist. Wie kommt es dazu, dass wirtschaftliche Zusammenbrüche, Rezessionen, Kriege, Zerstörung, Hass, Bruderstreit, Gewalttätigkeit, Drogenkonsum, Kriminalität, Verachtung Frauen und Kindern gegenüber, Verrohung und Grausamkeit überall zunehmen? Warum lernen wir nicht aus unserer eigenen Geschichte? Warum (werden wir) heute, in einer Zeit voller Informatik und wissenschaftlicher Erkenntnisse, wieder von unserer Vergangenheit eingeholt? Ist es möglich, dass unsere Denkweisen so festgefahren sind, dass die wahren Ursprünge unseres selbstzerstörerischen Tuns verdeckt bleiben? Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend von einander abhängig sind, gleichzeitig uns aber vermehrt gegeneinander einsetzen. Warum also stellen sich Menschen gegen das, was sie miteinander verbindet, gegen das, was sie miteinander gemeinsam haben? Es ist schwierig, sich dieser Thematik zu nähern.
Das, was unser Bewusstsein formt, dient Systemen, welche unsere wirklichen Bedürfnisse der gesellschaftlichen Ordnung unterordnen. Was uns zwingt, sind Kräfte, die uns dazu bewegen, Macht und Gehorsam als Eigenziele einzuverleiben, so dass die ureigenen Bedürfnisse für Wärme und Liebe von uns losgelöst und sogar verleugnet werden. Diese Bedürfnisse von ihren eigentlichen Verbindungen getrennt, werden zu Erfahrungen, die von zerstörerischer Wut begleitet zur Zersplitterung des Individuums führen und dies macht die Beantwortung der Frage nach der Identität - Wer bin ich, wohin gehöre ich - fast unmöglich. Aber wir müssen versuchen sie zu beantworten, denn das Fortbestehen unserer demokratischen Lebensweisen hängt davon ab. Für viele dreht sich die Antwort um die gesellschaftlichen Rollen, die man spielt. Es ist die Identifizierung mit Rollen und Symbolen aus der diese Art von Identität emporsteigt. Wenn aber in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs, wirtschaftlichen und politischen Chaos diese Identifizierungen keinen Halt geben, wird Unruhe und Unsicherheit zum Merkmal einer so betroffenen Gesellschaft. Menschen fühlen sich bedroht, sind verwirrt, wissen nicht mehr, wo sie hingehören. Manche versuchen durch Gewalt jene Umstände wieder herzustellen, die, wie sie glauben, ihre bedrohte oder verloren gegangene Identität zurückbringen werden. Historiker sprechen von Perioden des Auseinanderfallens und neuen Identitätsgeburten ohne in Frage zu stellen, ob tatsächlich Identität aus neuen gesellschaftlichen Rollen emporsteigt. Das aber versperrt die Sicht darüber was Identität wirklich ist. Zugleich befestigt es jene Sicht der Persönlichkeitsentwicklung, die der Aufrechterhaltung eines Bewusstseins dient, das der Identifikation mit der Macht und dem Gehorsam, den Macht für seine Befestigung benötigt, dient. (Zugleich befestigt es jene Sicht der Persönlichkeitsentwicklung, die der Aufrechterhaltung eines bestimmten Bewusstseins dient. Einem Bewusstsein, das der Identifikation mit der Macht und dem Gehorsam, den Macht für seine Befestigung braucht, dient.) Diese Sicht aber bestimmt unser Denken und führt zu einem verhängnisvollen Dilemma, das die Friedfertigen und demokratisch Gesinnten paralysiert.
Wenn wir glauben, zum Beispiel, dass Identifikation mit Identität gleichgestellt ist, müssen wir den Nationalismus als Ausdruck einer Identitätsentfaltung akzeptieren. Dann haben wir aber Mühe ihn zu bremsen, wenn er in Gewalttätigkeit, Mord, Vergewaltigung und Krieg mündet, in der Entmündigung und dem Missbrauch der Verwundbarsten, das sind die Kinder und die Frauen. Wir hören dann auf Mord als Mord, Gewalttätigkeit als Gewalt zu sehen, denn als Ausdruck eines nationalistischen Anliegens glauben wir diesen respektieren zu müssen und machen uns damit zu seinem nächsten Opfer. Wir versuchen aus dem Zwang unseres Denkens heraus Nationalismus zu dämpfen, einzuschränken, zu besänftigen ohne uns die Frage stellen zu können, ob der Nationalismus in der Tat mit Identität zu tun hat. Vorweg muss ich sagen, dass die Identifikation mit einem Land, mit Menschen und deren Bräuchen, das Teilen von gemeinsamen Hoffnungen, Erlebnissen, Freuden und Trauer, einem Menschen ein Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit geben kann. Wir sind gesellschaftliche Wesen, die andere Menschen für ihr körperliches und seelisches Wachstum benötigen, um selber Menschen zu werden. Aber das, was zu einer Identifikation mit der Macht führt, um der eigenen Unzulänglichkeit zu entkommen, hat einen anderen Werdegang und dem werde ich mich jetzt zuwenden.
Jeder Mensch hat Hilflosigkeit und Ohnmacht als Kernerlebnisse in seiner frühsten Kindheit mitbekommen. Aber bei uns, im Gegensatz zu anderen Tierarten, kann die Hilflosigkeit und Abhängigkeit während der Kindheit zu einem Erlebnis werden, wodurch die Problematik des Prozesses der Identifikation mit dem ihn erziehenden Menschen dazu führt, dass Identifikation nicht zur eignen Identität führt, sondern zu jenem Vorgang, der uns zwingt, unsere wirklichen Bedürfnisse aufzugeben und sich denen eines anderen unterzuordnen. Diese Fehlentwicklung der Identifikation führt zu jenem Zustand im Menschen, den Marcel Proust wie folgt beschrieb:
Wie haben wir den Mut, in einer Welt zu leben, in der die Liebe durch eine Lüge provoziert wird, die aus dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden von denen mildern zu lassen, die uns zum leiden brachten?
Jene, die Macht ausüben, und das sind nicht nur die politisch und wirtschaftlich Mächtigen, es meint alle, wie Eltern zum Beispiel, die in persönlicher Beziehung auf Macht bauen, bestehen darauf, dass Identifizierung mit ihnen der Weg zur eigenen Stärke sei. Und so fangen wir alle an zu glauben, dass der Weg zur eigenen Identität der Weg der Identifizierung ist. Es ist aber nicht nur so, dass solche Identifizierung den Weg zur eigenen Identität versperrt, sie vernichtet ihn und wird zugleich zu einer Quelle einer ungeheuren Aggression. Keiner, der solch eine erzwungene Identifikation als Kind erleben musste, kann sich ungeschoren weiterentwickeln. Indem man nichts Eigenes auf diesem Weg entwickeln kann, wird man zum Opfer. Aber diese Identifikation versperrt dem Opfer nicht nur die Erkenntnis seiner Unterordnung zum Willen eines andern, sondern dadurch auch die Basis seiner Wut. Solch ein Kind, später Erwachsener, fühlt sich schuldig und schwach und schämt sich dafür, dass er sein eigenes Sein zurückdrängen musste. Er hasst sich selber dafür. Es ist das eigene Lebendige, das er fortan hasst, weil es die Beziehung zu seinen Eltern bedroht. Solche Menschen suchen Opfer, um sich dieses Hasses entledigen zu können. Ihr Hass auf das Eigene ist das Zeichen dieser Menschen ohne wahre Identität. Sie entledigen sich ihm, indem sie andere Opfer suchen, um das Lebendige in sich selber, das sie bedroht, zu töten. Ein bezeichnendes Beispiel solch einen Werdegangs war Klaus Barbie, der Gestapo-Chef von Lyon im besetzten Frankreich. Sein Eingeständnis in einem Interview, Jahre bevor die Franzosen ihn zurückholten, in einem Interview mit einem amerikanischen Journalisten, als er zur Folterung und Ermordung des französischen Widerstandskämpfers Jean Moulin befragt wurde, ist hier von außerordentlicher Bedeutung. Er sagte:
Als ich Jean Moulin verhörte, hatte ich das Gefühl, dass er ich selber war.
Mit anderen Worten: Je mehr er in Jean Moulin sein eigenes zurückgewiesenes, rebellisches und menschliches Selbst erkannte, das, was ihm die Grundlage seiner eigenen Identität hätte geben können, um so mehr musste er ihn - also sich - hassen und töten.
Das Resultat dieser Fehlentwicklung zum Menschen ist ein Gefangensein in Emotionen, welche losgelöst von den eigentlichen Aggressoren, die sie erzeugten, zu diskontinuierlichen Erfahrungen verkümmern, welche rückwirkend auf das Gesellschaftssystem, das sie erzeugt, es dazu bringt, sich im Kreise zu drehen. (Das Resultat dieser Fehlentwicklung zum Menschen ist ein Gefangensein in Emotionen. Diese sind losgelöst von den Aggressoren, die sie erzeugten. Dadurch verkümmern die Emotionen zu diskontinuierlichen Erfahrungen und wirken zurück auf das Gesellschaftssystem und bringen es dazu, sich im Kreise zu drehen.) Es meint, das alles Verständnis sich im Kreise dreht, tautologisch wird und dadurch diesem System zum Selbstzweck wird. Das Musterbeispiel ist der Faschismus. Das zersplitterte moderne Individuum, das im disziplinierten Mob oder einer Armee seinen Platz findet, durch Identifikation mit Autoritätssymbolen dann bereit wird, sich befehlen zu fügen, um durch diese Identifikation eine Identität zu erspüren und dann gleich danach in orgiastischer und nihilstischer Wut explodiert. Und das ist der Grund, warum in allen unseren Staatsstrukturen die Gefahren eines Ausbruchs von nuklearen Dimensionen besteht, der alles vernichten kann. Zusätzlich bedroht uns hier die Verbindung zwischen der bürokratischen Persönlichkeit, die alles tun kann ohne menschliches Bedenken, und dieser affektiven Dissoziation - vom Prozess der Identifikation erzeugt. Es ist diese Verbindung, die zu Gewalt und Morden auf hochorganisierter Ebene führt, zu Morden als heilige Tat oder als technische Perfektion, die die Entfremdung einer Bodycount-Mentalität verdeckt. Aber offensichtlich geht es um ein wahres Problem, wenn Menschen sich auf nationale Gemeinschaften stützen, um ein Gefühl des Selbstwertes für sich aufzubauen. Es ist klar, dass ein Gefühl für nationale oder regionale Gemeinschaft nichts mit dem Erringen einer Identität zu tun haben braucht, die dem Erreichen eines eigenen Selbstwertes und der Festigkeit wirklicher persönlicher Identität gleichgesetzt ist. Aber in der Tat setzen wir es gleich und auch in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen wird diese Einstellung geteilt.
Ich werde jetzt ein wenig ausholen, um zu zeigen, wie Selbstwert sich entwickelt. Dieser Vorgang ist nicht so einfach zu erkennen, weil die damit verbundenen Erlebnisse von Hilflosigkeit und Ohnmacht durchzogen sind. Das setzt unseren Selbstwert ab und so wird es schwierig zu sehen, wie dieser Prozess vor sich geht. Zum Beispiel: Wir glauben, dass Selbstwert sich in unserer Kultur, in unserer Zivilisation durch erfolgreiches Erlernen, der uns von Eltern, Kirche und Staat aufgesetzten Wirklichkeit entwickelt.
Möglichst schnell dazu zu gelangen, möglichst wenig Fehler zu machen bzw. die richtigen Antworten zu Verfügung zu haben, schrieb Heinrich Jacobi, ein deutsch-schweizer Pädagoge, ist, was uns scheinbaren Selbstwert einflößt. Aber in der Tat führt das dazu, das jede Regung des Mit-eigenen-Augen-Sehens abgewertet, nicht belohnt wird, deswegen zum Gefühl des Versagens führt. Das Lernen, das einen Menschen von innen heraus zu einem Gefühl des eigenen Wertseins führt, ist etwas ganz Entgegengesetztes. Jacobi nannte es Erarbeiten. Ein durch eigenes Erfahren und Entdecken aufarbeiten, was weniger falsch ist. Dadurch lernt man nicht nur zu erkennen, was richtig ist, sondern vor allem auch, wie das Richtige zustande kommt und warum gerade dieses das Richtige ist. Nur solche Erlebnisse fördern innere Sicherheit und echten Selbstwert.
Wir aber, mit einigen Ausnahmen, gehen davon aus, dass Kinder die Wirklichkeit lernen ohne Selbstentdecken, also ein erzwungenes Lernen, das den Gehorsam zur Autorität untermauert. Das wird zur selbstverständlichen Wirklichkeit, wodurch gleichzeitig das Denken vorprogrammiert wird. Wir tun dies heute auf Wegen, die dem, was wirklich vorgeht, zu widersprechen scheinen. Das ist aber nur die Art, auf die wir uns selber täuschen, um das, was uns angetan wurde und was wir weitergeben, nicht erkennen zu brauchen. So glauben wir zum Beispiel durch Belohnung es dem Kind möglich zu machen, sich frei zu entscheiden, seinen eigenen Weg zu finden. Wir glauben so, dass alles dem freien Willen des Kindes überlassen wird. Aber das Prinzip Belohnung verhüllt, dass damit der Druck des Erfolgreichseins ausgeübt wird, wodurch unser Selbst ausgeschaltet wird.
Es geht subtil vor, weswegen ein Vergleich mit einer anderen Zivilisation notwendig ist. Der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeld, vom Max-Planck-Institut in München, beschreibt eine Ipo-Mutter in West-Neuguinea mit ihren zwei kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der kleine ist ein Taro-Stück, eine Art Brot. Die kleine greift danach. Beide fangen an zu schreien. Die Mutter kommt. Der Junge reicht ihr von sich aus das Taro-Stück. Sie bricht es entzwei und gibt beide Teile dem Bruder zurück. Erstaunt bemerkt er, dass er jetzt zwei Stücke hat. Und nachdem er beide für einen Moment angeschaut hat, gibt eins der Schwester. Wie würden wir uns in einer ähnlichen Situation verhalten? Würden wir nicht das Stückchen Brot austeilen, um auf diese Weise unserem Kind die Wirklichkeit des Teilens beizubringen? Wer von uns hätte es dem Kind überlassen? Wir glauben gar nicht, weil unsere Eltern es nicht glaubten, dass ein Kleinkind von zwei oder drei Jahren es in sich hat so etwas zu begreifen oder tun zu wollen. Und auf solche Weisen geben wir den Inhalt einer Kultur weiter und schränken die Möglichkeiten des Selbstwertes und unserer Wirklichkeit ein. Ein Kind, anstatt (es) von sich heraus initiieren zu können, was der eigentliche Weg zu einem gesunden Selbstwert ist, ordnet sich dem Willen einer Autorität unter und zugleich ist dieser Vorgang die Quelle unerkannter (und) deswegen unbeherrschbarer und unlenkbarer Aggressionen. Und da solche Kinder nicht lernen, die Welt aus den eigenen Möglichkeiten heraus zu bewegen, wird die damit verbundene Hilflosigkeit zu einem unerträglichen Zustand. Und als Selbstschutz werden Kinder dann gefühlslos, gewalttätig oder beides. Der Kontext, in dem dies geschieht, zementiert den Vorgang, wodurch ein Selbstwert unabhängig von äußeren Symbolen der Zulänglichkeit und Stärke gar nicht möglich wird. Sehr früh werden wir dazu gebracht uns dafür zu schämen, dass wir Schmerzen, Angst und Unrecht empfinden - gerade jene Reaktionen, die aus der Ablehnung der eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen emporsteigen. Zum Beispiel: Einem kleinen Kind wird beigebracht: Du darfst nicht Lügen. Im selben Moment sagt die Mutter zur größeren Schwester: Marily, wenns jetzt läutet, sag der Frau Buzili ich sei ausgegangen. Wir verpflichten Kinder an Idealbildern festzuhalten, machen aber aus uns Karrikaturen, welche aber das Kind nicht erkennen darf. Die resultierende Bestürzung, Schmerz und Aggression im Kind vertieft seine Hilflosigkeit, wie in diesem Beispiel, das wir wohl fast alle selber erlebt haben. Diese darf aber nicht wahrgenommen werden, weil das dem Selbstwert der Eltern als gute Eltern widersprechen würde. Was Kinder hier wirklich lernen, ist sich wertlos zu fühlen. Sich für die eigenen Wahrnehmungen zu schämen. Ein Kind kann sich dann nur vom Inneren absperren und sein Nach-Außen-Hin-Leben intensivieren. Und so wird die Hilflosigkeit in unserer Kindheit zu einem prägenden Erlebnis, weit mehr, wie schont erwähnt, als bei anderen Tierarten.
Wenn ein Schimpansen-Baby sich verletzt, wird es sofort von seiner Mutter aufgehoben und umsorgt. Bei Menschen ist es nicht ungewöhnlich, dass Mutter und Vater wütend werden. Vor kurzem, auf einer Eisbahn, rutschte ein kleines Mädchen aus und verletzte sich im Gesicht. Die Eltern, wütend, befahlen ihm zur Strafe nach Hause zu gehen. Die seelischen Verletzungen, welche unsere Kinder täglich erleben, summieren sich zur Grundlage einer tiefen Verdrehung, die dann unser ganzes Sein, unsere Identität selber bestimmt. In dem uns von früher Kindheit an beigebracht wird, dass man Verletzungen nicht zeigen darf, weil man nicht hilflos sein darf, wird Verletzlichkeit zu einem unerträglichen, den eigenen Selbstwert herabsetzenden Zustand. Wenn aber das Sein dadurch bestimmt wurde, dass nur die Identifikation mit jenen, die dieses Sein unterdrückten, es von der Unerträglichkeit seiner Lage retten konnte, dann verlagert sich der Sinn dessen, was ein Mensch sein kann, nach Außen: In Symbolik und symbolische Taten hinein. Dann wird eine Ideologie der Stärke zur einzigen Rettung eines so geschwächten Selbst.
Und hier steigt das Phänomen des Nationalismus ein. Es ist erfolgreich als Förderer eines Selbstwertes, der die Qualen der eigenen Unzulänglichkeit einfach beiseite schiebt und damit wird Identität nicht zu einer inneren Sache, sondern (zu) einer zur Show getragenen Symbolik vermeintlicher Stärke, Hegemonie und Autorität. Kierkegaard charakterisierte deshalb unser Zeitalter als ein öffentliches. Er meinte damit den Zusammenschluss von Individuen, die im Grunde schwach sind, weil sie keine eigenen Identität haben. Deswegen auch keinen eigenen ethischen Standpunkt einnehmen können und deshalb auch keine wirkliche Gemeinschaft bilden können. Solche Menschen werden und lassen sich zu fiktiven aber gefährlich und destruktiven Einheiten reduzieren. Der Massenmensch des Faschismus, egal ob rechts oder links, ist das uns bedrohende Resultat. Es ist uns allen klar, dass wir in einer Zeit großer Bedrohung leben. Die Arbeitslosigkeit wächst, die Desintegration zentraler Machtstrukturen, nicht nur in Russland und im ehemaligen Jugoslawien, sondern auch in allen Ländern, die einen Zerfall gesellschaftlicher Werte aufweisen, verunsichert alle.
Es ist jedoch ein schreckliches Paradoxon, dass gerade die Auflösung von Gehorsamsstrukturen, die ja die Freiheit, die Kreativität und die Spontaneität fördern könnten, zu einer Gegenreaktion führen. Wir können in Jugoslawien und in der früheren Sowjetunion, wie auch in Deutschland und Österreich beobachten, dass Menschen sich in ihrem Sein bedroht fühlen. In der Tat sind sie bedroht. Von Unsicherheiten und Unklarheiten, aber sie glauben für Freiheit und Sicherheit zu kämpfen, indem sie für eine höhere Identität kämpfen, nämlich der ethnischen und linguistischen Homogenität. Und daraus glauben sie ein eigenes Selbstwertgefühl ableiten zu können. Und diese Absicht wird in der gängigen Geschichtsforschung, wie auch Psychologie und Soziologie allzu oft geteilt, in dem das Erringen nationaler Identität mit dem Erreichen eines eigenen Selbstwertes und mit der Festigkeit wirklicher persönlicher Identität gleichgesetzt wird. Die territoriale Verteilung der menschlichen Rasse ist älter als die Idee einer ethnisch-linguistischen Reinheit. Zusätzlich untergräbt die moderne Weltökonomie irgendeine Homogenität. Aber das Phänomen des Nationalismus lässt erkennen, dass ein wahres Problem existiert. Nämlich eine Leere im Innern vieler Menschen. Der Fremdenhass und der Nationalismus sind verzweifelte Versuche diese Leere durch Symbolik und symbolische Taten zu füllen ohne sich dieser Leere und ihren Quellen stellen zu müssen.
Diese Art des Sich-Nicht-Stellens hat viele Gesichter, so dass man sie öfters nicht durchschaut. Zum Beispiel indem man vom Fremdenhass spricht, anstatt vom Hass gegen Menschen, weicht man dieser Leere und dem Hass sofort aus. Die Bezeichnung Fremdenhass verlagert seine Ursache in etwas Äußeres hinein: Weniger Fremde, weniger Hass. Dadurch wird der eigentliche Tatbestand, dass der Hass schon vor dem Fremden da war, in jenen, die zum Hassen schon immer bereit sind, verschleiert. Diese Leere bedroht uns alle. Die, die uns bedrohen, sind jene, denen es nicht möglich war, als Kind eine wahre Identität aufzubauen, weil um am Leben zu bleiben sie sich einer halluzinierten Liebe verschreiben mussten. Wenn Menschen erzogen werden sich nicht um ihrer eigenen Lebendigkeit willen zu lieben, anstatt dessen Lernen müssen, sich wegen korrekter Ausführung von Verhaltensrollen zu schätzen, fängt die Leere an.
Das Verhängnisvolle der menschlichen Entwicklung liegt darin, dass wenn ein Kind vom Erwachsenen, der es lieben, respektieren und vor allem in seiner Individualität erkennen sollte, körperlich und oder seelisch, aber überhaupt seelisch, überwältigt wird, es von einer überwältigenden Angst heimgesucht wird. Um dieser enormen paralysierenden Angst zu entkommen, setzen Kinder ein Manöver in Gang. Dieses Manöver besteht aus etwas Außerordentlichem: Um diese Angst und den mit ihr verbundenen Schmerz weghalten (aushalten) zu können, fängt ein Kind an, den, der es nicht anerkennt, ihn, der seine ihm eigenen Grenzen aggressiv überschreitet, von dem es aber völlig abhängig ist, zu idealisieren. Ihn oder Sie zum Objekt seiner Identifikation zu machen. Auch Erwachsene können diesen Vorgang unter den Bedingungen einer Gefangenschaft und unter Folter wiederholen, wie Jacobo Timmermann es für die Argentinische Diktatur und der Nobel-Preisträger Volis Sujinka (?) es für Nigeria unter dem Diktator General Goran (?) beschrieben haben. Es war jedoch Sandor Ferenci, der im Jahre 1932 nicht nur dies genau beschrieb, sondern auch die Verankerung dieses Vorganges in einem gesellschaftlichen Umfeld, das es dem Erwachsenen erlaubt, die Abhängigkeit ihrer Kinder für die eigenen Selbstwertzwecke auszunutzen. Er schrieb, ich zitiere:
Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos. Ihre Persönlichkeit ist zuwenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können. Die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seine Wunscherregungen zu erraten und zu befolgen. Sich selber ganz zu vergessen, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. (Zitatende ?)
Und diese Identifikation mit dem Aggressor hat politische Konsequenzen. Sie führt zu einem verheerenden gesellschaftlichen Verhaltensmuster: das Verbünden der Opfer mit dem Täter. Und gleichzeitig zum Hass gegen jene, die als schwach eingestuft werden können. Man hasst das Eigene, weil es einen in der Bindung zum einfühlsamen Vater oder Mutter bedrohte. Das war die Schwäche und der Feind und so werden jene zum Feind, die das Opfer in sich selber symbolisieren, das Lebendige, das man selber hätte sein können, das man aber zu fürchten lernte, weil es den Eltern zum Anstoß wurde. Und so sind Menschen auf er Suche nach Feinden, denn ohne diese können sie ihr eigenes Gefüge nicht mehr aufrechterhalten. Der Nationalismus erlaubt solchen Menschen ihren Hass als gerechtfertigt auf andere abzureagieren. Und so rettet sich ein minderwertig Fühlender vom eigenen Hass. Henry Miller, in seiner Würdigung zu Jakob Wassermanns Der Fall Maurizius, schrieb:
Der Feind, der Feind - werden wir nie von ihm loskommen? Wer ist er, der so schnell und so listig sein Aussehen wechseln kann. Ja, wer ist der Feind? Sicher wird er ein schreckliches Ungeheuer sein, sonst müssten wir nicht immer wieder gegen ihn zu Felde ziehen.
Was dies sagt, ist: Dass viele gewalttätig werden um Hass auszudrücken, nicht um Gerechtigkeit zu erlangen. Der Hass war schon vor der Ideologie da, die ihn nur rechtfertigt. Es geht darum, dass Menschen, deren Identität auf Identifizierung mit Autoritätsfiguren gründet, immer bereit sind sich bedroht zu fühlen. Die Zeiten eines gesellschaftlichen Umbruchs dienen als Auslöser dieser schon vorhandenen Bereitschaft. Wenn der gesicherte Status im gesellschaftlichen Leben, in der Familie, auf der Arbeit, im sozialen Leben auseinanderzufallen droht, werden solche Menschen versuchen ihren persönlichen Zusammenhalt durch das zu befestigen, was sie geformt hat: Autorität. Sich einer Autorität zu unterwerfen, die Gehorsam fordert, Ordnung und Stabilität verspricht, zugleich Feindbilder liefert, mit denen sich Hass entladen lässt, wird zum Allheilmittel. Dass es hier nicht um ideologische Inhalte geht, legt eine Studie des amerikanischen Historikers John Bushnell dar: Die russische Armee in den Jahren 1905 und 1906 meuterte ständig selber, diente aber auch der Niederschlagung der damaligen Aufstände in der Bevölkerung. Dieselben Soldaten wechselten in rascher Folge ihr Verhalten und durchliefen innerhalb von zehn Monaten zweimal den kompletten Zyklus von Rebellion und neuer Loyalität. Truppen, die von Januar bis Oktober 1905 Aufstände niederschlugen, meuterten von Ende Oktober bis Anfang Dezember, und bereits ab Ende Dezember schossen sie wieder auf Zivilisten, um vom Mai bis Juni 1906 erneut zu rebellieren und Ende Juli wieder gegen Aufständische vorzugehen. Bushnell zeigte, dass das wechselnde Verhalten der Soldaten nichts mit ihrer Behandlung oder mit politischen Anschauungen zu tun hatte. Ausschlaggebend war einzig, wen sie für die Autorität hielten. Nur die gab ihrem Selbstgefühl halt. Glaubten sie das alte Regime sei am Ende, dann revoltierten sie. Glaubten sie aber, dass es noch Befehlsgewalt habe, dann gingen sie gegen die Zivilisten vor.
Eine auf Identifizierung aufgebaute Identität revoltiert nicht, weil es die wahren Quellen ihres Unbehagens erkennt: Menschen mit solch einer Identitätsentwicklung ändern nur die Richtung ihrer Gewalttätigkeit. Revolutionen mögen an den Formen einer Knechtschaft etwas ändern oder nicht. An der Knechtschaft selber ändert sich nichts, solange die Autoritätshörigkeit nicht überwunden ist. Im Grunde wird Autorität selber als das Gute verteidigt und eine wirkliche Befreiung findet dann nicht statt. Der Nationalismus, der einer Ersatzidentität dient, macht es Menschen unmöglich von der eigenen Geschichte zu lernen. Er führt dazu, dass wir immer wieder von jenen bestimmt werden, die am wenigsten eine eigene Identität entwickeln konnten, und deswegen auch Gewalttätig werden müssen. Solange wir aber die Identifikation mit Menschen und Symbolen mit Identität verwechseln, sind wir diesem Prozess ausgeliefert. Wenn Menschen sich mit dem Aggressor identifizieren, verlieren sie ihre eigenen menschlichen Gefühle, sie werden gefühlsarm, weil ihnen das Bewusstsein ihrer Verletzlichkeit durch die Identifikation mit Symbolen der Stärke und des Heldentums ersetzt werden. Sie können ihren eigenen Schmerz nicht mehr wahrnehmen und deswegen auch nicht den Schmerz des Opfers. Der Mangel an Miterleben führt zum indirekten Mitmachen mit jenen, die (am) meisten von Eigenhass gesteuert sind. Mit der Es-geht-mich-nichts-an-Haltung machen sie es den Schlimmsten möglich, ihre Gewalttätigkeit auszuagieren. Albert Einstein sagte mal hierzu: Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.
Sie hassen das Opfer in sich selber und peinigen andere, um so ihr eigenes Opfersein zu bestrafen. Das eigene Bestrafen ist der eigentliche Sinn dieses in Völkermorde ausartenden Wahnsinns. Indem man (es) dem Opfer dafür heimzahlt, dass es Opfer ist, lügt man die eigene Sünde weg. Man hält sich schuldig dafür, dass man selber Opfer wurde und ist. Und das ist auch der Grund dafür, dass das Böse in Zeiten wirtschaftlicher Not und des politischen Chaos wächst. Solange man sich als erfolgreich einstufen kann, solange man sich in seinem Schaffen nicht bedroht fühlt, ruht das Opfer in einem. Es erwacht und damit erwacht auch der Hass auf sich selber, den man loswerden muss, wenn das Selbstwertgefühl bedroht ist. Und hier treten politische Führer ein, um jene Feindbilder zu liefern, mit denen sich solche Menschen ihren Selbsthass entledigen können. In diesem Vorgang verlieren Menschen ihre Betroffenheit und können auf höchst unpersönliche Weise andere Menschen Verachten und Niedermetzeln. Man lebt sein politisches Leben, schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Musil, wie ein serbisches (?) Heldenepos, weil das Heldentum die unpersönlichste Form des Handelns ist. Nationalismus macht Menschen zu unpersönlichen Mördern, weil sie das Leben nicht ertragen, aber sie brauchen das Leben um es töten zu können. Sie müssen andere fertig machen, weil sie selber, wie Adorno es formulierte, sich als selbstbestimmende Wesen ausgelöscht haben. Sie können ihre eigene Kälte, die daraus entsteht nicht ertragen, finden aber Lebendigkeit im Töten selber. Man tötet wiederholt das Leben im andern, das Opfer, das man in sich selber hasst und rächt sich auf diese Weise an der eigenen Unterdrückung, indem man sie weitergibt. Ein Paradoxon, dass bis wir merken, dass der Hass auf das eigene Opfer in sich selber, diese Umkehr der Gefühlswelt herbeibringt. (Es ist solange ein Paradoxon, solange wir nicht merken, dass der Hass auf das eigene Opfer in uns diese Umkehr der Gefühlswelt herbeibringt. Oder: Es ist ein Paradoxon, dass wir nicht merken, dass der Hass auf das Opfer in uns diese Umkehr der Gefühlswelt herbeibringt). Die eigentlichen Täter, wie auch der Gegenwart (?), die Eltern und andere Autoritätsfiguren, werden als solche verneint, weil man den Schmerz ihrer unzureichenden Liebe und falschen Liebe nicht ertragen konnte. Menschen, deren Identität auf Anpassung und Gehorsam basiert, können ihre wirklichen Unterdrücker nicht erkennen. Ihr Hass verlagert sich von den Tätern, denen sie selber ausgeliefert waren, auf andere Opfer. Monika Nienstedt und Arnim Westermann, deutsche Kinderpsychologen, in ihrer Studie zur Sozialisierung schwer traumatisierter Kinder, beschreiben sehr genau, wie die Abhängigkeit solcher Menschen, wenn noch Kinder, zu einer auf Überanpassung beruhenden Angstbindung führt. Sie sehen sozialisiert aus, sind aber voller Gewalttätigkeit gegen andere Schwache. Es sollte deswegen nicht erstaunen, dass die Gewalttätigen unter uns solch einer Entwicklung ausgesetzt waren. Denken wir nur daran, dass mindestens achtzig Prozent der rechtsradikalen Jugend körperlicher und seelischer Gewalt seitens ihrer Eltern ausgesetzt waren. Die Hasserfüllten, die auf ethnischer, linguistischer und religiöser Reinheit bestehen, glauben eine Identität für sich entwickeln zu können. Sie machen es uns und sich selber weis, dass dies unseren ursprünglichen Bedürfnissen und biologischen Anlagen entspreche und weisen auf unsere Urahnen in ihren Stämmen und Gruppierungen hin. Nichts könnte entfernter von der Wahrheit über diese sogenannten primitiven Vorahnen sein. Die Stammesgemeinschaften der primitiven Vorahnen kreisten nicht um Angst, sondern Kooperation, um Respekt und Würde, um die Erhaltung der Vielfalt der Persönlichkeit, um das liebevolle Fördern der eigenen Identität des Kindes. Nicht Macht und Besitz waren die Grundlagen ihrer Gemeinschaften, sondern das Fördern jener kulturellen Formen, die es dem einzelnen von Geburt an möglich machen, Leiden wie auch Freude zu ertragen. Die eigene wachsende Tätigkeit in ein Weltbild der Verbundenheit mit seiner Umwelt hinein zu integrieren.
Der kanadische Verhaltensforscher Burline zeigte schon vor dreißig Jahren, dass das Fremde nicht automatisch als bedrohlich bei Kleinkindern und Tieren erlebt wird - im Gegenteil. Ein Lebewesen mit einer gesunden Neugier würde das Neue und Fremde als Quelle bereichernder Erfahrung erleben. Es waren deswegen nicht unsere Vorahnen, die dem Schmerz entrannen. Es sind jene unter uns, die ohne wahres Selbst, ohne wirkliche Identität die Wahnideen fördern von einer Stärke, die durch einen Nationalismus erreicht werden soll, der das Hassen legitimiert, um dadurch ihrer Unzulänglichkeit zu entkommen. Die, die diese Lüge fordern sind jene, die damit die unzureichende Liebe ihrer Eltern und der dahinter stehenden Gesellschaft vertuschen.
Und so kommen wir der Antwort auf Primo Levis Frage nach dem Menschsein näher. Ein Mensch, der ohne wahre Liebe aufwächst, kann kein Mensch werden. Und deswegen sah auch ein Pfarrer in Hoyerswerda, die Stadt in der früheren DDR, in der der Fremdenhass zu allererst ausbrach, die dortigen Gewaltausschreitungen als Folge, ich zitiere: des Liebesverlustes der Kinder dieser Stadt. Der Hass der Nichtgeliebten bedroht uns alle. Und heute wieder durch das Phänomen des Nationalismus. Wenn wir die dahinterstehende Gewalttätigkeit erkennen und nicht davor zurückschrecken sie als solche zu benennen, werden wir bereits einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung dieser gegenwärtigen Krankheit gemacht haben. Diese Gewalttätigkeit als Verachtung der Liebe zu sehen, sie so Menschen vor Augen zu halten, wird dazu führen, dass Menschen ihren Hass als solchen erkennen. Nur wenn wir und politische Führer die Rolle des Hasses im Nationalismus unterschätzen, ihn sogar legitimieren, kommt Demokratie in Gefahr. Es stimmt nicht, dass Hass durch Abreaktion gemildert werden kann. Im Gegenteil. Jede einzelne zerstörerische Handlung erhöht die Zerstörungswut solcher Menschen. Nur durch mehr Zerstörung können sie ihre Schuldgefühle unterdrücken. Das ist der Grund, warum politische Denkschablonen, die den Nationalismus und den dahinterliegenden Hass verniedlichen, in der Tat Destruktivität fördern. Menschen ohne wirkliche Identität haben nicht die Kraft (sich) sich selber stellen zu können. Deswegen können sie auch keine Verantwortung tragen. Verwechseln diese mit Pflicht. Diese drückt aber nur ihre Gehorsamkeitsbereitschaft aus. Schuld ist unerträglich für sie. Schuld ist gleichgesetzt mit Ungehorsam mit Minderwertigkeit, weil sie nicht einem Vorbild entsprachen, sich nicht richtig verhalten hatten, sich nicht richtig dargestellt hatten. So führt Schuld dazu, Gewalttätigkeit zu schüren. Indem man anderen Schmerzen zufügt, braucht man sich nicht den eigenen zu stellen und diese Dynamik gibt der Gesellschaft jedoch die Möglichkeit, diesen die Menschlichkeit zerstörenden Vorgang halt zu bieten. Indem man mit solchen geschädigten Menschen konsequent umgeht, dadurch kann man sie erreichen.
Im deutschen Bundesland Sachsen wurde der gewalttätige Rechtsextremismus schon Anfang 1991 zurückgebunden. Die damalige Regierung fing an sich eindeutig von der Gewalttätigkeit zu distanzieren. Zerstörerischer Gewalt wurde vom Staat durch konsequente Taten entgegengetreten. Ein Sonderkomission für Rechtsextremismus leitete 651 Ermittlungsverfahren ein mit einer Aufklärungsquote von annähernd 90 Prozent. Alle die Gewalt predigten oder ausübten wurden unter permanenten Druck gesetzt. Solche Menschen benötigen ein veräußertes Gewissen. Die Meldung: Das geht nicht, der ihr Inneres dann nachkommen kann. Mancher der abends noch lautstark mit seinen Kumpels wegen einer Brandflasche, die er auf ein Asylbewerberheim schleuderte, geprahlt hatte, sagte nach einer Durchsuchung im Beisein seiner entsetzten Eltern, das mache er nie wieder. Indem mit solchen sofortigen Gegenreaktionen auf die Gewalt auch zugleich eine Aufarbeitung der emotionalen Probleme der Täter eingeleitet wurde, konnten viele von ihnen sich ihren noch vorhandenen Schuldgefühlen stellen, anstatt sie durch steigernde Gewalt noch mehr zu verdrängen. Gewalttätigkeit nicht konsequent zu begegnen, bedeutet den Täter in der Verleugnung seiner eigenen Schuld zu unterstützen und dadurch begraben wir uns selber und machen des dem Täter unmöglich zu seinen noch vorhandenen menschlichen Möglichkeiten zurückzukehren. Gewalttätigkeit als Verachtung der Liebe zu erkennen ist ein erster Schritt, um Verachtung die Schranken zu bieten.
Dieser Kampf muss vom Moralischen her geführt werden. Durch die Anerkennung des Leids unserer Kinder. Alles, was dazu führt, sie in Liebe aufwachsen zu lassen, wird die Identifikation mit der Gewalt unterbinden. Dieser Weg ist schwierig, da wir im Allgemeinen noch nicht die Bedeutung der Kindheit für die Politik begriffen haben. Wir sehen nicht, dass unsere Sozialisierungsprozesse die Gefahren für eine demokratische Gesellschaft herbeirufen. Im politischen Denken spielt die Technik eine große Rolle. Wir sind deswegen kaum in der Lage in unserem Denken , die psychologischen Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf das politische Verhalten zu berücksichtigen. Was als Psychologie missverstanden wird, ist öfters ein Rückfall auf Regeln, auf Methodik, weil man glaubt dadurch besser lenken zu können. Es gibt aber keinen Ersatz für das Erkennen von seelischen Zusammenhängen. Den Prozess der Identifikation mit dem Aggressor in seinen politischen Auswirkungen zu erkennen, führt zu den konsequenten Haltungen, die die Lösungen herbeibringen werden. Erst dann werden wir aufhören Opfer, anstatt die eigentlichen Verantwortlichen für unser Unbehagen zu suchen. Der wahre Täter kann nur im Teufelskreis des Gehorsams und des sich daraus ergebenen Hasses erkannt werden. Danke.