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Interview mit dem Psychoanalytiker Arno Gruen über den "Wahnsinn der Normalität"

Barbara Lukesch - Freischaffende Journalistin - BR Seminare / Coaching Öffentlichkeitsarbeit - barbara@lukesch.ch

c/o Bürogemeinschaft Presseladen - Weinbergstrasse 133 - Postfach 266, 8042 Zürich - Telefon 0041 1 363 08 88 / Fax 363 03 26

Interview mit dem Psychoanalytiker Arno Gruen über den "Wahnsinn der Normalität" Die sechsten Basler Psychotherapietage, die vom 13. - zum 15. Mai 1999 im Kongresszentrum Messe Basel stattfinden, tragen in Anlehnung an Arno Gruens gleichnamiges Buch den Titel "Der Wahnsinn der Normalität". Abgesehen von dem in Zürich lebenden Psychoanalytiker, der auch den Eröffnungsvortrag halten wird, nehmen zahlreiche Experten wie der deutsche Buchautor und einstige TV-Moderator Franz Alt, der Regisseur und Theaterpädagoge David Gilmore, der Theologe Eugen Drewermann und der Musiker Konstantin Wecker an der Veranstaltung teil.

Die sechsten Basler Psychotherapietage, die vom 13. - zum 15. Mai 1999 im Kongresszentrum Messe Basel stattfinden, tragen in Anlehnung an Arno Gruens gleichnamiges Buch den Titel "Der Wahnsinn der Normalität". Abgesehen von dem in Zürich lebenden Psychoanalytiker, der auch den Eröffnungsvortrag halten wird, nehmen zahlreiche Experten wie der deutsche Buchautor und einstige TV-Moderator Franz Alt, der Regisseur und Theaterpädagoge David Gilmore, der Theologe Eugen Drewermann und der Musiker Konstantin Wecker an der Veranstaltung teil.

 

Arno Gruen, der Titel Ihres bereits vor zehn Jahre erschienenen Buches "Der Wahnsinn der Normalität" ist Thema und Motto der diesjährigen Basler Therapietage. Klären wir zunächst einmal einen Begriff: Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter "Wahnsinn"?

Arno Guen: Ich spreche nicht in einem klinischen Sinn von Wahnsinn, sondern verstehe Wahnsinn im Sinne von Unmenschlichkeit, die allerdings nicht als solche erkannt wird und gerade deshalb viele Menschen zerstört. Denken Sie an all jene Menschen in unserer Kultur der Grösse und des Besitzes, die zwar ihre eigenen Gefühle des Schmerzes und Mitleids unterdrücken, dafür aber bestens funktionieren und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Erfolg davontragen. Nur wer unempfindlich ist für den Schmerz eines anderen, kann diesem auf den Kopf hauen oder ihn im täglichen Konkurrenzkampf ausschalten.

Was hat Sie seinerzeit veranlasst, den "Wahnsinn der Normalität" zu schreiben?

Gruen: Das ist ein Thema, das mich schon immer beschäftigt hat. Ich wollte immer schon herausfinden, was die Menschen bewegt beziehungsweise zu dem werden lässt, was sie sind. Auf diesem Weg hat mich insbesondere Huxleys utopischer Roman "Brave New World" beeinflusst. Freud war für mich natürlich bedeutend, weil ich in ihm einen Denker sah, der in die Tiefe geht und uns die Kindheit zurückbringt.

Warum nehmen sich die Basler Psychotherapietage ausgerechnet dieses Jahr des "Wahnsinns der Normalität" an?

Gruen: Das hat mich selber eigentlich auch erstaunt. Ich vermute, dass die Gedanken, die ich in meinem Buch vertrete, mehr und mehr Fuss gefasst haben, dass mehr Leute sie an sich herankommen lassen, während sie in früheren Jahren vor allem Abwehr und auch Wut ausgelöst haben.

Das Buch wurde zum Bestseller, und trotzdem hat keine einzige grosse Zeitung es je besprochen.

Gruen: Da sehen Sie, wie gross die Abwehr war. Das Buch weckt eben wirklich Aengste.

Gut möglich. Schliesslich lautet Ihre Grundaussage ja auch: "Während jene als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben." Ueberspitzt gesagt: Die Realitätstauglichen, Pflichtbewussten gehören eigentlich zum Psychiater, während die sogenannt "Verrückten" die letzten empfindsamen Menschen sind.

Gruen: Ich stelle mithin die Werteskala unserer Gesellschaft auf den Kopf, und das ist tatsächlich etwas sehr Beunruhigendes.

Sprechen wir über den Wahnsinn unserer Zeit. Vor kurzem töteten zwei Jugendliche in den USA offenbar lachend dreizehn Menschen...

Gruen: ...und die US-Waffenlobby besteht darauf, dass das Gesetz, das den Waffenerwerb Jugendlicher regelt, unverändert bleibt. Das ist verrückt, aber niemand kommt dagegen an. Nicht einmal Clinton hat es geschafft, das Gesetz zu verschärfen.

Das ist wirklich eine Bankrotterklärung. Da werden dreizehn Unschuldige niedergemäht und uns bleibt nichts anderes übrig als zu konstatieren: Keiner kommt dagegen an.

Gruen: Kommen wir denn dagegen an, was in Serbien und im Kosovo vor sich geht? Oder was in Tschetschenien und Ruanda geschah? Oder gegen die Auswüchse des Fremdenhasses?

Sind die Menschen heute mehr als frühere Generationen von ihren echten, authentischen Gefühlen abgeschnitten?

Gruen: Das frage ich mich sehr oft. Wenn man sieht, dass immer mehr Jugendliche, ja, Kinder zu extremer Gewalt greifen, muss man diese Frage wohl bejahen. In unserer Konsumgesellschaft lernen Kinder eben schon sehr früh, ihren persönlichen Wert in den Dingen, die sie kaufen, zu finden. Kein Wunder, werden für Uhren und Turnschuhe Morde begangen.

Wie verliert ein Mensch den Kontakt zu seinen emotionalen Wurzeln?

Gruen: Wer als Kind keine wirkliche Liebe erfahren hat, ist am radikalsten von dem, was er als Mensch hätte werden können, abgeschnitten. Das fängt damit an, dass Eltern - selber im Konsumzwang gefangen - nicht angemessen auf ihre Kinder eingehen können. Es ist Terror, wenn ein Säugling stundenlang schreit und trotzdem weggesperrt wird, nur damit seine Eltern ihre Ruhe haben. Weil solcher Schmerz auf Dauer unerträglich ist, nabelt sich ein Mensch mit der Zeit von all seinen Gefühlen ab.

Und die Konsequenzen?

Gruen: Lassen Sie mich Ihnen ein extremes Beispiel erzählen. Während meiner Arbeit in dem englischen Psychiatrie-Gefängnis Broadmoore, in dem psychotische Mörder und Mörderinnen einsitzen, schilderte mir einst ein Insasse seine Kindheitsgeschichte. Völlig kalt und ohne jede Erinnerung an den Schmerz erzählte er, dass seine Mutter ihn im Alter von drei Jahren mit kochendem Wasser übergossen hatte. Das war ein emotional toter Mensch, der so abgeschnitten von seinem eigenen Leid war, dass er schliesslich andere töten musste, um überhaupt wieder so etwas wie Leben zu spüren. Im Grunde genommen haben wir es in all diesen Fällen mit Menschen zu tun, die eigentlich sich selber hassen, aber ihren Hass nach aussen verlagert haben. Sie benötigen Feinde beziehungsweise Opfer, um sich selber überhaupt wahrnehmen zu können.

Gibt es denn überhaupt therapeutische Hilfe für solche Menschen?

Gruen: Der englische Psychiater und Psychoanalytiker Murray Cox, der jahrelang in Broadmoore arbeitete, fand einen interessanten Weg. Er liess schwerste Gewaltverbrecher in Dramen von Shakespeare, die voller Leid, Hass, Schmerz und Aggressionen sind, mitspielen. Was passierte? Die Mörder empfanden beim Ausagieren ihrer Rollen plötzlich Gefühle: Schmerz, Mitleid, Trauer. Der Beweis für die Echtheit ihrer Gefühle war, dass etliche als erstes versuchten, sich selber umzubringen. Zum erstenmal erlebten sie den Schmerz ihrer Opfer und dadurch auch ihren eigenen.

Kehren wir vom Rand unserer Gesellschaft zurück und sprechen beispielsweise über jene Topmanager, die lächelnd, zuvorkommend und hochanerkannt ihren Job machen, der nicht selten darin besteht, kaltschnäuzig ihre Konkurrenten auszustechen...

Gruen: ... und - wie es so schön heisst - über Leichen zu gehen. Lesen Sie das Buch des ehemaligen VW-Spitzenmanagers Daniel Goeudevert "Wie ein Vogel im Aquarium". Darin werden zwar keine Mörder beschrieben, aber gefühlskalte, machtgierige Menschen, die im Namen der Sachzwänge und für ihren Erfolg nahezu alles tun. Auch sie sind abgeschnitten von ihrer Fähigkeit, Schmerz, Mitleid, aber auch grosse Freude zu empfinden.

Gehen wir noch einen Schritt weiter in Sachen alltäglicher Wahnsinn. Jahr für Jahr nimmt unsere Gesellschaft die Zahl der Verkehrstoten stoisch, unberührt und ohne grosse Empörung zur Kenntnis. Nach dem Absturz der Swissair-Maschine hingegen bricht eine nationale Tragödie aus. Da stimmt doch auch etwas mit unseren Gefühlen nicht.

Gruen: ...oder denken Sie an die Reaktionen beim Tod von Lady Diana. Die ganze Welt hat geweint. Hier haben wir uns einen Schmerz zugestanden, aber nichts Vergleichbares passierte angesichts des Tötens in Ruanda, in Tschetschenien - und jetzt im Kosovo.

Schmerz welcher Art ist das?

Gruen: Ich denke, das ist jener Schmerz, der aus der frühen Beziehung mit unseren Eltern resultiert, aus den Versagungen, Enttäuschungen, Abwertungen, Kränkungen. Ich erinnere mich an eine Szene, die ich auf der Eisbahn Dolder beobachtet habe. Ein kleines Mädchen fällt hin, hat eine kleine Wunde am Knie und dreckige Strumpfhosen. Sie weint. Was machen ihre Eltern? Sie befehlen ihr, sofort heimzugehen. Jede Schimpansenmutter hätte ihr Junges auf den Arm genommen und es getröstet.

Menscheneltern sind also Rabeneltern.

Gruen: Nein. Sie sind nicht böse, sondern geben einfach das weiter, was ihnen selber angetan wurde, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein Kind weint. Als wir selber früher weinten, wurden wir angeschnauzt und zum Schweigen gebracht. Nun tun wir dasselbe mit unserem Kind: Hör auf. Sei still. Denn das weinende Kind erinnert uns an unsere eigenen alten ungestillten Bedürfnisse nach Trost oder Schutz, und mit denen wollen wir nicht konfrontiert werden. Das wäre viel zu schmerzhaft.

Sie sind also davon überzeugt, dass uns unsere frühesten Kindheitserfahrungen ein Leben lang verfolgen können?

Gruen: Sofern es nicht gelingt, sie uns bewusst zu machen und damit diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel. Eine meiner Studentinnen arbeitete als Sozialarbeiterin mit albanischen Jugendlichen. Sie erzählte mir, dass etliche von diesen eines Tages unmissverständlich gefordert hätten: "Ich will eine Lehrstelle", woraufhin plötzlich sehr fremdenfeindliche Gedanken und Gefühle in ihr aufgestiegen seien: "Was meinen diese Albaner eigentlich?" habe sie sich gefragt. In unserem Gespräch erinnerte sie sich dann daran, dass sie selber als Kind nie "ich will", sondern höchstens "ich möchte" sagen durfte. Für "ich will" wurde sie bestraft. Nun erkannte sie, dass sie die Albaner dafür hasste, dass sie sie mit ihrem direkten "Ich will" an ihre eigenen seinerzeit unterdrückten und bestraften Wünsche erinnerte.

Unsere Generation ist so gut informiert wie keine vor ihr. Wir kennen die Risiken und Gefahren des "Rüstungswahnsinns" oder des "Wahnsinns der Umweltzerstörung" und steuern dennoch, sehenden Auges sozusagen, auf die Katastrophe zu. Das ist doch verrückt.

Gruen: Wir sind zwar informiert über die Folgen all des Wahnsinns, haben in der Schule Zahlen und Fakten gelernt, aber das allein reicht nicht. Wir müssen auch bereit sein, die Gefahren innerlich wahrzunehmen und zu erkennen. Aber davor haben wir Angst. Denken Sie doch nur daran, wie auf Menschen reagiert wird, die es wagen, öffentlich aufzustehen und uns zu warnen. Die werden lächerlich gemacht, als "Nestbeschmutzer", "Querulanten" oder "Verrückte" abqualifiziert. Da heisst es schnell: "Mach keis Büro auf". Nein, viele von uns haben sich eingerichtet in ihrer "freiwilligen Knechtschaft", wie bereits 1550 ein französischer Denker diese Haltung bezeichnete. Nur ein Drittel der Schweizer und Schweizerinnen geht ja überhaupt noch abstimmen. Warum? Fühlen sich die anderen ohnmächtig, gleichgültig oder sind sie bereits völlig distanziert gegenüber dem Gemeinwesen?

Sie glauben also nicht an den Widerstandswillen der Menschen?

Gruen: Viele Menschen haben Angst, gegen die Autoritäten aufzustehen. Wir wollen ja auch gar nicht wissen, was mit uns geschieht, denn dann müssten wir uns ja stellen. Und das können viele nicht, weil sie so früh eingeschüchtert wurden.

Der Leidensdruck, der auf vielen lastet, ist aber immerhin schon so gross, dass Workshops, esoterische Zirkel, aber auch Sekten regen Zuspruch finden.

Gruen: Es zeigt immerhin, dass die Menschen auf der Suche nach Alternativen sind.

Was müsste denn - Ihrer Einschätzung nach - passieren, damit ein tiefgreifendes Umdenken stattfinden kann und sich die Menschen nicht länger mit den Formeln von "Realpolitik", vermeintlichem "Fortschritt" und "Sachzwängen" abspeisen lassen?

Gruen: Ich denke, dass das ein langwieriger Prozess ist, der voraussetzen würde, dass die Menschen keine Angst zu haben bräuchten, wenn ihr Herz ihnen sagt, einfühlsam und mitfühlend zu sein. Dieser Prozess würde Mut, Energie, Aufmerksamkeit, Zeit beanspruchen.

Wer hat denn heute noch Zeit?

Gruen: Es müssen sich aber mehr Menschen Zeit dafür nehmen, öffentlich einander Mut zu machen und wieder die "Sprache des Herzens" zu sprechen. Das ist unsere einzige Chance.

Wo sind diese Menschen?

Gruen: Es gibt sie. Wer als Kind echte Zuwendung erfährt, und das kann unter ärmsten Verhältnissen passieren, verfügt über die besondere Stärke, die es braucht, um seinen Mitmenschen mit Empathie und Mitgefühl zu begegnen. Verschiedene Studien belegen, dass es im Vietnamkrieg um die zwanzig Prozent Menschen gab, die niemals an den Gemetzeln gegen den Feind teilgenommen haben. Da ist jenes Fundament von Menschen, das mit sich und seinen Gefühlen verbunden ist. Das muss dauernd von uns allen angesprochen werden. Das ist Arbeit. Aber sie muss getan werden, auch wenn die Gegenseite, also die Mächtigen unserer Welt, den öffentlichen Diskurs beherrschen.

Eine letzte Frage aus aktuellem Anlass. Im "Wahnsinn der Normalität" beschreiben Sie den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon als kalten menschenverachtenden Machtmenschen, der abgeschnitten von seinen emotionalen Wurzeln ist. Wie würden Sie im Vergleich zu ihm Bill Clinton charakterisieren?

Gruen: Er ist genauso kalt und menschenverachtend, aber in Sachen Imagepflege noch viel cleverer als Nixon.

Das müssen Sie erklären.

Gruen: Als Clinton noch Gouverneur von Arkansas war, musste er als letzte Instanz in jenem berühmten Fall eines geistig und seelisch schwerbehinderten Schwarzen, der wegen Mordes zum Tode verurteilt worden war, dessen Gnadengesuch beantworten. Clinton begnadigte den Mann nicht. Wissen Sie warum? Weil er kurz vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten durch die demokratische Partei stand und Angst davor hatte, dass ihm eine Begnadigung als mangelnde Stärke ausgelegt worden wäre.

Arno Gruen wurde am 26. Mai 1923 in Berlin geboren. Er emigrierte 1936 in die USA. Nachdem er ursprünglich Historiker und Philosoph werden wollte, entdeckte er schliesslich in der Psychoanalyse seine wahre Berufung und promovierte 1961 in den USA als Analytiker. Tätigkeiten an verschiedenen Universitäten und Kliniken schlossen sich an. Zuletzt war er Professor an der Rutgers Universität New Jersey. Seit mehr als vierzig Jahren führt er zudem eine psychotherapeutische Privatpraxis. Sein 1984 erschienenes Buch "Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau" wurde 120'000mal verkauft. Seine letzten Bücher sind "Der Verlust des Mitgefühls" und eine psychosomatische Studie über den plötzlichen Kindstod. Gruen lebt seit 1979 in der Schweiz.

Facts, 12. Mai 1999

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