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Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und KreativitätProf.Dr.
Arno Gruen
Diese Treue ist in der Tat ein Gehorsam, durch den diese junge Frau jede Regung dieser Großmutter zu Ihrer eigenen machte. Dadurch wurden die Missstände ihres Lebens nicht nur aufrechterhalten, sondern auch moralisch gerechtfertigt und verteidigt. Es ist genau diese moralische Rechtfertigung, die wir im gesellschaftlichen Leben immer wieder da treffen, wo Menschen ihrem Unterdrücker beigetreten sind. Die Kehrseite jeder Treue ist eben der Gehorsam um umgekehrt impliziert jeder Gehorsam diese Treue. Nur glauben Menschen sich treu und deswegen nicht gehorsam, weil sie sich als treu - also aus "freier Wahl" - erleben. Aber der Tatbestand, dass man Treue als einen moralischen Wert empfindet, den man selber wählt, verhüllt seine Wurzeln in einem Gehorsam, der der Identifikation mit den Mächtigen dient. Beide, Treu und Gehorsam, haben dieselben Wurzeln in einem Beitreten zur Autorität, wodurch die resultierende freiwillige Knechtschaft als moralischer Wert und bewundernswerte Qualität eines Menschen vor Augen gehalten wird. Solches Verhalten ist das Resultat eines destruktiven Vorgangs, indem eigener Wert zum Unwert und Unwert zum Wert umgewandelt wurde. Es ist schon etwas eigenartiges, dass der Mensch, wenn er mit Terror und Nichtexistenz bedroht ist, sich mit der ihn bedrohenden Instanz identifiziert, sich mit ihr verschmelzt, seine Identität aufgibt, um vermeintliche Rettung zu erlangen. Der Dichter Rainer Maria Rilke erkennt in seinem "Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke", ein Vorfahre von Ihm, diesen Tatbestand, intuitiv. Dieser Cornet Rilke ist, auf einem der Kreuzzüge gegen die Heiden, von einer Gruppe von ihnen umzingelt. Im Gedicht erlebt dieser Held, die auf ihn niederschlagenden blitzenden Säbel als einen lachenden, auf ihn rieselnden Wasserbrunnen. Um unsere eigene Einheit zu bewahren werden wir blind, um den uns konfrontierenden Terror nicht zu registrieren. Statt dessen halluzinieren wir eine Einheit mit dem uns bedrohenden Andern und verlieren unsere eigene Identität und manchmal unser Leben. Silverberg (1947) beschreibt diesen Mechanismus der Identifizierung mit dem Aggressor als eine bereits in frühester Kindheit auftretende Reaktion auf äußerste Hilflosigkeit. Was hier zu passieren scheint, ist eine Verneinung der Differenzierung, der Trennung vom bemutternden Objekt, weil das in diesem Entwicklungsstadium zu bedrohlich wäre. Diese Trennung darf nicht, kann nicht wahrgenommen werden, sonst wäre das Überleben gefährdet. Damit dies ermöglicht wird, bedarf es eines Manövers, vergleichbar mit einer Halluzination, einer Phantasie oder einem Traum. Es besteht darin, dass die Wirklichkeit zwischen sich selbst und dem anderen verdreht wird. Es ist, als ob das frühkindliche Ich doch einmal etwas besseres erlebt hat und nun versucht, diesen Zustand zurückzuholen (Silverberg, 1952), indem es eine phantasierte Homöostasis aufrechterhält, um sein Weiterleben zu ermöglichen - Terror kippt in Geborgenheit um. Das
ist, was Gehorsam bewirkt und zugleich steuert. Es ist ein uralter Mechanismus,
dessen Wurzeln in frühester Kindheit liegen, als wir dem Versuch der
uns versorgenden Erwachsenen ausgesetzt waren, uns ihren Willen aufzuzwingen.
Diese Erfahrung bedroht jedes Kind mit dem Erlöschen seines eigenen,
gerade im Keimen begriffenen Selbst. Das Ergebnis dieses Prozesses ist,
dass gerade solche Kinder, deren Willen besonders stark einem Ausmerzen
unterworfen war, einen verhängnisvollen Gehorsam und Treue gegenüber
Autoritäten entwickeln. Um
diese Angst, wie auch den mit ihr verbundenen Schmerz von sich weghalten
zu können, geschieht etwas Außerordentliches. Das Kind fängt an, seinen
Unterdrücker, den Aggressor, zu idealisieren, ihn zum Objekt seiner
Identifikation zu machen. Auch Erwachsene können diesen Vorgang unter
den Bedingungen einer Gefangenschaft und der Folter wiederholen. Anna Freud hat 1936 diesen Vorgang der Identifikation mit dem Aggressor verdeutlicht. Es war jedoch Sandor Ferenczi, der im Jahr 1932 dies nicht nur beschrieb, sondern auch die Verankerungen dieses Vorgangs in einem gesellschaftlichen Umfeld, das es den Eltern erlaubt, die Abhängigkeit ihrer Kinder für eigene Selbstzwecke auszunützen, klarmachte. Er zeigte, wie Kinder, wenn sie elterlicher Gewalt ausgesetzt sind, paralysiert werden. "Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren." Mit solch einem Vorgang entwickelt sich ein Kind mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne. Noch
etwas Grundlegendes für jegliche dem Gehorsam ergebene Kultur geschieht
während dieses Vorgangs. Ferenczi beschreibt nämlich, wie die ängstliche
Identifizierung mit dem Erwachsenen im Seelenleben des Kindes auch Schuldgefühle
hervorruft. Das Kind introjiziert die Schuldgefühle des Erwachsenen.
Durch die Identifikation übernimmt das Kind, was der Erwachsene sich
selbst nicht wissen lässt. Zusätzlich jedoch passiert noch etwas: Schuldgefühle
halten die Bindung an die Eltern aufrecht, denn sie geben ihm vermeintliche
Hoffnung, aus eigener Kraft eine Besserung der Beziehung zu den Eltern
herbeizuführen. Schuldgefühle, die einerseits das Gefühl von Wertlosigkeit
auslösen, werden so andererseits zur Rettung. Ursachen
des Gehorsams stehen in unmittelbarer Verbindung zu den Vorgängen der
Entfremdung. Denn die Gewalt, die unser Eigenes zum Fremden macht, ist
dieselbe, die den Gehorsam erzwingt. Das Ausmaß an Gewalt, das der Einzelne
erfährt, bestimmt den Grad seiner Autoritätshörigkeit. Die
Anfänge dieser Entfremdung von eigener Wahrnehmung der Gefühlslage eines
anderen liegen, wie schon gesagt, in der Kindheit. Das wird nirgendwo
deutlicher als in einem Satz, den Hitler 1934 bei einer Rede vor der
NS-Frauenschaft formulierte: "Jedes Kind ist eine Schlacht" (S. Chamberlain,
1977). Damit drückte er in erschreckend klarer Weise aus, was in westlichen
Kulturen auch heute noch oft als unumstößliche Wahrheit angesehen wird:
Dass es eine natürliche Feindschaft gibt zwischen Säugling und Eltern.
Im Kampf der sogenannten Sozialisation muss das Kind dazu gebracht werden,
sich dem Willen der Eltern zu unterwerfen. Das Kind muss daran gehindert
werden, seinen eigenen Bedürfnissen und Genüssen nachzugehen. Der Konflikt,
so heißt es, ist unvermeidlich und er muss zum Wohle des Kindes durch
die Beharrlichkeit der Eltern gelöst werden. Wie
diese Erziehungsmethoden sich in einem Gehorsam umsetzen, der die Persönlichkeitsstrukturen
eines Menschen verzehrt, zeigt folgendes Beispiel: ein Patient, ein
50jähriger Geologe, berichtet von seinem Vater, der freiwillig in Hitlers
Wehrmacht gekämpft hatte. Der Vater zeigte nicht nur eine extrem autoritäre
Haltung seinem kleinen Sohn gegenüber, er züchtigte ihn auch körperlich
für die kleinsten Abweichungen vom vorgeschriebenen Verhalten. Seine
Frau behandelte er ebenfalls herabsetzend und gewalttätig. Die Mutter
nahm den Sohn allerdings nie in Schutz. Nur einmal, als das Kind 7 Jahre
alt war, griff sie ein, weil sie glaubte, der Vater würde ihn in seiner
Wut erschlagen. Der Sohn, gehorsam und stets bereit, sich zu fügen,
wurde auch als Erwachsener noch von großen Schuldgefühlen geplagt, wenn
er an seinem Vater zweifelte. Er kam in die Therapie, weil er sich trotz
allem das Gefühl bewahrt hatte, dass mit der Welt, in der lebte, etwas
nicht in Ordnung war. Hier haben wir es mit einem Menschen zu tun, der nicht weitergeben wollte, was ihm angetan wurde. Trotzdem wirkte die Identifikation unbewusst in ihm weiter. Seine Reaktion auf das Schreien von Kindern war ja die Reaktion des Vaters auf ihn als Säugling. Seine Wut war die Wut seines Vaters. Dessen Hass hatte er völlig als seinen eigenen verinnerlicht. So wird das Eigene wie auch die vom Vater übernommene Verurteilung seines Schmerzes zum Fremden, um es dann außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst zu bestrafen. Es ist nicht einfach, den Terror zu realisieren, der hinter all dem steht. Zu sehr haben wir alle gelernt, ihn zu verleugnen. Dieser Terror ist so groß, dass Menschen ihre Eltern trotz aller rationaler Kenntnisse nur so erleben können, wie diese es ihnen aufgetragen haben. Auch
Kurt Meyer durchlebte eine Erziehung, die sich dem Mythos der Stärke
und der emotionalen Verhärtung verschrieben hatte. Sein Vater war der
Panzergeneral der Waffen-SS Kurt Meyer. Meyers Bericht: "Gemeint ist,
wenn der Kopf ab ist" (1998) spiegelt mit großer Eindringlichkeit wider,
wie schwierig es ist, sich der Wahrheit über Eltern zu nähern, die gehorsam
durch Demütigung und Bestrafung erzwungen hatten. Kinder, die einen
solchen Terror erlitten haben, müssen oft ein Leben lang ein Elternbild
verteidigen, das diese als liebevoll, warmherzig und fürsorglich erscheinen
lässt. Das nicht zu tun macht angst. Diese Angst ist so immens, dass
man sie bereits abwehrt, bevor man sie überhaupt spüren kann. Der
Ursprung des Gehorsams ist also in den Prozessen zu suchen, der das
Eigene zum Fremden macht. Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen
Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Verlauf seiner Identitätsentwicklung
einmal in diese Richtung gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach
Gesetzen, die völlig anders sind als die, die das heute gängige psychologische
Denken vorgibt. Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem
Lebensgrundsatz. Obwohl man sie hasst, identifiziert man sich mit ihr.
Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und auch Aggressionen aus, die
sich aber nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, sondern an andere
Opfer weitergegeben werden. Typisch für diese Entwicklung ist immer,
dass das eigene Opfersein verleugnet wird. Denn der eigene Schmerz und
das eigene Leid waren ja einmal Bestandteil dessen, was uns wertlos
machte. So wird Opfersein zur unbewussten Basis für das Tätersein. Gleichzeitig
wird der Gehorsam zur gesellschaftlichen Institution, mit der diese
Krankheit, von der wir alle zu einem gewissen Grad betroffen sind, die
wir aber nicht als Krankheit erkennen, weitergegeben. Bluvol und Roskam fanden noch etwas heraus: Die erfolgsorientierten Schüler, die ihre Eltern idealisierten, hatten eine starke Tendenz, ihre Mitschüler zu Unterlegenen zu machen. Nur dann empfanden sie sich als "autonom". Hier sehen wir die Auswirkungen des Gehorsams. Die Gruppe, die sich im Hinblick auf Erfolg und allgemeines "Wohlverhalten" den allgemeinen Normen unterordnete und somit am stärksten im System elterlich autoritärer Erwartungen gefangen war, fühlte sich unabhängig - und zwar dann, wenn sie andere niedermachen konnte. Das heißt: Wir erleben das Gefühl von Freiheit und Autonomie, wenn wir das Fremde im andern - und damit in uns selbst - bestrafen. So kommt es zu zwei problematischen Fehlentwicklungen. Erstens: Im Falle der gehorsamen Leistungsorientierten wird Ehrgeiz verknüpft mit dem Prozess der Entfremdung. Ehrgeiz als ein "mit sich selbst ringen" kann auch zum Transzendieren eigener Möglichkeiten führen. Wenn er jedoch auf die Bestätigung für gehorsames Verhalten abzielt, ist er ein Resultat der Entfremdung. Zweitens: "Autonomie" kehrt sich bei dieser Entwicklung in eine Perversion um und bringt eine Verzerrung der Gefühlslage mit sich. Einen andern zu beherrschen und runterzumachen vermittelt dabei ein Gefühl des Freiseins, weil es von der Last des eigenen Opferseins befreit. Wenn wir zum Gehorsam erzogen werden, ist der Fremde in uns das eigentliche Opfer unseres Selbst. Dieses Selbst wird verzerrt durch den Gehorsam, der es unmöglich macht, die Wahrheit des ganzen Vorgangs zu erkennen. Gehorsam, könnte man sagen, dient nicht nur dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen, sondern auch seine Taten zu verschleiern. Mit anderen Worten: Gehorsam untermauert Macht. Er macht es unmöglich, die angestaute Wut gegen jene zu richten, die für sie verantwortlich sind. Die Wut jedoch ist da, genauso wie der Hass auf das eigene Opfer, das man als fremd von sich weisen muss, um sich mit den Mächtigen zu arrangieren. In
dem Buch "Familie und Aggression" veröffentlichte David Mark Mantell
eine Studie, die er zur Einübung von Gewalt durchgeführt hatte. Mantell
untersuchte 25 Soldaten der Green Berets, die sich freiwillig für den
Kriegseinsatz gemeldet hatten. Diese US-Eliteeinheit wurde durch ihre
besondere Härte und Grausamkeit im Vietnamkrieg bekannt. Die Daten und
Interviews verglich Mantell mit denen von 25 Kriegsdienstverweigerern.
Es stellte sich heraus, dass die Familiengeschichten der Green Berets
von einer ausgesprochen autoritären, dem Gehorsam gewidmeten Erziehung
geprägt waren - im Gegensatz zur Sozialisation der Vergleichsgruppe.
Die Soldaten identifizierten sich stark mit dem Erziehungsstil ihrer
Eltern. Nach außen waren sie unauffällige und erfolgreiche junge Männer.
Ihr auffallender Gehorsam in der Familie steigerte sich im Dschungelkrieg
zu einer blinden Befehlsunterwerfung. Ihnen fehlte jedes Gefühl von
Scham, Schuld und Verantwortung für ihre mörderischen Verbrechen an
Frauen, Kindern und alten Menschen. Menschen,
die ihr eigenes Selbst aufgeben mussten, um sich mit ihren Eltern zu
arrangieren, suchen sich immer wieder in dem Fremden, der ja das eigene
Selbst ist, das sie in der Gestalt des feindlichen Fremden bekämpfen
müssen. Auf diesem Wege gelingt es dem Rechtsradikalen tatsächlich,
seinen durch den Gehorsam verlorenen, verschmähten, abgetrennten Teil
wiederzufinden und dann zu bestrafen. So gibt er weiter, was man ihm
angetan hat. In der Bekämpfung des Feindes wird die Frage, wer oder
wie man ist, negativ beantwortet. In der Gestalt des Feindes kann man
des abgewiesenen Teils des Selbst, das man hätte werden können, habhaft
werden und ihn erneut verwerfen. Dies resultiert in einer verdrehten
Rache, bei der der Hass sich auf das Eigene richtet, das zum Feind wurde,
weil es die lebensnotwendige Verbindung mit den Eltern bedrohte. Die
Statistiken von Dicks zeigen deutliche Übereinstimmungen mit den vor
kurzem durch die Friedrich-Ebert-Stiftung erhobenen Daten über Rechtsradikalismus
und Gewalt. Zwei Drittel der Deutschen glauben heute noch, Deutschland
brauche eine starke Hand, und nur ein Politiker, der hart durchgreife
und eine starke Partei im Rücken habe, bekäme die aktuellen Probleme
in den Griff. Die Studie zeigte auch, dass diese Menschen Leid und Not
als Schwäche abtun, kein Mitgefühl empfinden. So
entwickelt sich eine Persönlichkeitsstruktur, die keine eigene Identität
als Kern hat, aber voll destruktiver Gewalt steckt. Winnicott bezeichnete
solche Menschen als "anti-sozial", als Personen, die "ungesund und unreif"
sind, da ihre Identifikation mit dem Aggressor eine Selbst-Entdeckung
verhindert. Es sind Menschen ohne Sinn für den Rahmen unserer Existenz,
ohne Gefühl und Bild für unser Menschsein, sie erkennen die Form des
Menschen, haben aber kein Erleben seiner wahren Gefühle. Nach Winnicott
resultiert daraus eine Vermassungstendenz, die sich gegen die Individualität
des einzelnen richtet. "Antisozial" im Sinne von Winnicott ist gleichbedeutend
mit einer antidemokratischen Haltung, die ihre Wurzeln im tiefsten Innern
hat. Bei solchen Menschen finden wir eine Fehlentwicklung von Menschlichkeit,
da sie nicht die Chance hatten, das innere Potential menschlicher Möglichkeiten
inklusive der eigenen Identität zu entfalten. Unserer
gängigen Vorstellung zufolge sollen Kinder die Wirklichkeit `erlernen´,
ohne sie jedoch zuvor selbst entdeckt zu haben. Ein solches Lernen ist
ein erzwungenes, ein Lernen, das auf intensiven Reizen basiert, die
sich durch die Umkehr ein positives Vorzeichen angeeignet haben. Heutzutage
vollzieht sich dieser Vorgang - auf verschleierte subtile Art: Nicht
der erzwungene Gehorsam, die Bestrafung der alten Schule, soll Lernen
bewirken, sondern es soll sich über Belohnung vollziehen. Belohnung
als Erziehungsmittel lässt uns nämlich die Illusion aufrechterhalten,
das Kind könne sich frei entscheiden, könne seinen eigenen Weg finden.
Doch die Entdeckung und Entfaltung seines Selbst wird dadurch keineswegs
erleichtert. Nur die Erziehenden fühlen sich besser, da sie glauben,
mit dem Prinzip Belohnung seien alle Entscheidungen dem freien Willen
des Kindes überlassen, es werde nicht von ihnen genötigt, beherrscht.
Doch das Prinzip Belohnung ist nichts anderes als eine raffinierte Verhüllung
des Drucks zum Erfolg. Und durch diesen Erfolgsdruck wird das Selbst
vorprogrammiert. All
dies geht, wie gesagt, äußerst subtil vor sich. Ein Vergleich mit einer
anderen Kultur mag dies veranschaulichen. Eibl-Eibesfeldt (1993), Verhaltensforscher
am Max-Planck-Institut für Völkerkunde, filmte folgende Situation zwischen
einer Eipo-Mutter in West Neuguinea und ihren beiden kleinen Kindern,
einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge isst ein Tarostück, das Mädchen
greift danach, worauf beide zu schreien anfangen. Die Mutter kommt herbei,
und beide Kinder lächeln sie an. Der Junge reicht ihr von sich aus das
Tarostück, sie bricht es in zwei Teile und gibt beide dem Jungen zurück.
Er bemerkt erstaunt, dass er jetzt zwei Stücke hat, und nachdem er beide
einen Moment lang betrachtet hat, gibt er eines seiner Schwester. Wir missachten die Möglichkeiten des Kindes, weil wir sie gar nicht erst erkennen, und wir missachten ebenfalls seine wirklichen Grenzen. Sie hören damit auf zu existieren. Anstatt aus sich heraus Verhalten initiieren zu können, ordnet sich das Kind dem Willen der Autorität unter. Der Gehorsam macht es uns unmöglich die kreativen Kräfte in einem Lebewesen zu erkennen. Die Wahl ist immer zwischen dem Eigenen zu vertrauen oder es verwerfen. Aber nur das Eigene führt ein Kind, später Erwachsener, dazu seine Phantasie und Kreativität zur Entfaltung zu bringen. "Gehorsam", schreibt Peter Brückner in `Zur Pathologie des Gehorsams´, "erspart Unlust und verleiht eine wenn auch vom Wohlleben der Mächtigen abhängige Sicherheit. Erziehung sollte deshalb lehren, wie man Unsicherheit erträgt..." (S.110). A. Mitcherlich schrieb vom Triebgehorsam und vom Lerngehorsam. Jedoch, so Brückner, wandern soziale Forderungen als regulative Mechanismen in das Innere des Heranwachsenden und werden so zur psychischen Struktur, gar zum `Charakter´, und vertreten die Gesellschaft gegenüber den eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnissen. Die Voraussetzung für eine Erziehung, die dem Menschen Freiheit gewährt, ist das Erlebnis von Nähe. Nähe gedeiht aber nicht wenn Gehorsam das Ziel ist. Um Nähe gedeihen zu lassen "...müssen (wir) Kinder verstehen, ehe wir ihnen Lösungen für soziale Situationen anbieten. Lösungen, die nicht kurzweg von irgendwelchen tradierten Ordnungsvorstellungen abgeleitet wurden, und deren Legitimität dann nur darin besteht, dass die Erwachsenen sie als ihr `Gewissen´ idealisieren" (S.108). Wenn das aber an der Tagesordnung steht, dann entwickelt sich eine Persönlichkeitsstruktur, die keine eigene Identität als Kern hat, aber voller destruktiver Gewalt steckt. Das zu vermeiden ist unsere Aufgabe, sonst kommt zustande, was der englische Dichter Edward Young im 18. Jahrhundert schon befürchtete. Er schrieb: Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.
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