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Jacob Burckhardt - Die Kultur der Renaissance in Italien

Jacob Burckhardt - Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch.
Sechster Abschnitt: Sitte und Religion - Die Moralität

Das Verhältnis der einzelnen Völker zu den höchsten Dingen, zu Gott, Tugend und Unsterblichkeit, lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grade erforschen, niemals aber in strenger Parallele darstellen. Je deutlicher die Aussagen auf diesem Gebiete zu sprechen scheinen, desto mehr muss man sich vor einer unbedingten Annahme, einer Verallgemeinerung derselben hüten.

Vor allem gilt dies von dem Urteil über die Sittlichkeit. Man wird viele einzelne Kontraste und Nuancen zwischen den Völkern nachweisen können, die absolute Summe des Ganzen aber zu ziehen ist menschliche Einsicht zu schwach. Die grosse Verrechnung von Nationalcharakter, Schuld und Gewissen bleibt eine geheime, schon weil die Mängel eine zweite Seite haben, wo sie dann als nationale Eigenschaften, ja als Tugenden erscheinen. Solchen Autoren, welche den Völkern gerne allgemeine Zensuren und zwar bisweilen im heftigsten Tone schreiben, muss man ihr Vergnügen lassen. Abendländische Völker können einander misshandeln, aber glücklicherweise nicht richten. Eine grosse Nation, die durch Kultur, Taten und Erlebnisse mit dem Leben der ganzen neuern Welt verflochten ist, überhört es, ob man sie anklage oder entschuldige; sie lebt weiter mit oder ohne Gutheissen der Theoretiker.

So ist denn auch, was hier folgt, kein Urteil, sondern eine Reihe von Randbemerkungen, wie sie sich bei mehrjährigem Studium der italienischen Renaissance von selber ergaben. Ihre Geltung ist eine um so beschränktere, als sie sich meist auf das Leben der höhern Stände beziehen, über welche wir hier im Guten wie im Bösen unverhältnismässig reichlicher unterrichtet sind als bei andern europäischen Völkern. Weil aber Ruhm und Schmach hier lauter tönen als sonst irgendwo, so sind wir deshalb der allgemeinen Bilanz der Sittlichkeit noch um keinen Schritt näher.

Wessen Auge dringt in die Tiefen, wo sich Charaktere und Schicksale der Völker bilden? Wo Angeborenes und Erlebtes zu einem neuen Ganzen gerinnt und zu einem zweiten, dritten Naturell wird? Wo selbst geistige Begabungen, die man auf den ersten Blick für ursprünglich halten würde, sich erst relativ spät und neu bilden? Hatte z. B. der Italiener vor dem 13. Jahrhundert schon jene leichte Lebendigkeit und Sicherheit des ganzen Menschen, jene mit allen Gegenständen spielende Gestaltungskraft in Wort und Form, die ihm seitdem eigen ist? - Und wenn wir solche Dinge nicht wissen, wie sollen wir das unendlich reiche und feine Geäder beurteilen, durch welches Geist und Sittlichkeit unaufhörlich ineinander überströmen? Wohl gibt es eine persönliche Zurechnung und ihre Stimme ist das Gewissen, aber die Völker möge man mit Generalsentenzen in Ruhe lassen. Das scheinbar kränkste Volk kann der Gesundheit nahe sein, und ein scheinbar gesundes kann einen mächtig entwickelten Todeskeim in sich bergen, den erst die Gefahr an den Tag bringt.

Zu Anfang des 16. Jahrhunderts, als die Kultur der Renaissance auf ihrer Höhe angelangt und zugleich das politische Unglück der Nation soviel als unabwendbar entschieden war, fehlte es nicht an ernsten Denkern, welche dieses Unglück mit der grossen Sittenlosigkeit in Verbindung brachten. Es sind keine von jenen Busspredigern, welche bei jedem Volke und zu jeder Zeit über die schlechten Zeiten zu klagen sich verpflichtet glauben, sondern ein Macchiavell ist es, der mitten in einer seiner wichtigsten Gedankenreihen1) es offen ausspricht: ja, wir Italiener sind vorzugsweise irreligiös und böse. - Ein anderer hätte vielleicht gesagt: wir sind vorzugsweise individuell entwickelt; die Rasse hat uns aus den Schranken ihrer Sitte und Religion entlassen, und die äussern Gesetze verachten wir, weil unsere Herrscher illegitim und ihre Beamten und Richter verworfene Menschen sind. - Macchiavell selber setzt hinzu: weil die Kirche in ihren Vertretern das übelste Beispiel gibt.

Sollen wir hier noch beifügen: »weil das Altertum ungünstig einwirkte?« - jedenfalls bedürfte eine solche Annahme sorgfältiger Beschränkungen. Bei den Humanisten (S. 301) wird man am ehesten davon reden dürfen, zumal in betreff ihres wüsten Sinnenlebens. Bei den übrigen möchte sich die Sache ungefähr so verhalten haben, dass an die Stelle des christlichen Lebensideals, der Heiligkeit, das der historischen Grösse trat, seit sie das Altertum kannten (S. 177, Anm. [23]). Durch einen naheliegenden Missverstand hielt man dann auch die Fehler für indifferent, trotz welcher die grossen Männer gross gewesen waren. Vermutlich geschah dies fast unbewußt, denn wenn theoretische Aussagen dafür angeführt werden sollen, so muss man sie wieder bei den Humanisten suchen wie z. B. bei Paolo Giovio, der den Eidbruch des Giangaleazzo Visconti, insofern dadurch die Gründung eines Reiches ermöglicht wurde, mit dem Beispiel des Julius Cäsar entschuldigt2). Die grossen florentinischen Geschichtschreiber und Politiker sind von so knechtischen Zitaten völlig frei, und was in ihren Urteilen und Taten antik erscheint, ist es, weil ihr Staatswesen eine notwendig dem Altertum einigermassen analoge Denkweise hervorgetrieben hatte.

Immerhin aber fand Italien um den Anfang des 16. Jahrhunderts sich in einer schweren sittlichen Krisis, aus welcher die Bessern kaum einen Ausweg hofften.

Beginnen wir damit, die dem Bösen aufs stärkste entgegenwirkende sittliche Kraft namhaft zu machen. Jene hochbegabten Menschen glaubten sie zu erkennen in Gestalt des Ehrgefühls. Es ist die rätselhafte Mischung aus Gewissen und Selbstsucht, welche dem modernen Menschen noch übrigbleibt, auch wenn er durch oder ohne seine Schuld alles übrige, Glauben, Liebe und Hoffnung eingebüsst hat. Dieses Ehrgefühl verträgt sich mit vielem Egoismus und grossen Lastern und ist ungeheurer Täuschungen fähig; aber auch alles Edle, das in einer Persönlichkeit übriggeblieben, kann sich daran anschliessen und aus diesem Quell neue Kräfte schöpfen. In viel weiterm Sinne, als man gewöhnlich denkt, ist es für die heutigen individuell entwickelten Europäer eine entscheidende Richtschnur des Handelns geworden; auch viele von denjenigen, welche noch ausserdem Sitte und Religion treulich festhalten, fassen doch die wichtigsten Entschlüsse unbewusst nach jenem Gefühl3).

Es ist nicht unsere Aufgabe nachzuweisen, wie schon das Altertum eine eigentümliche Schattierung dieses Gefühles kannte und wie dann das Mittelalter die Ehre in einem speziellen Sinne zur Sache eines bestimmten Standes machte. Auch dürfen wir mit denjenigen nicht streiten, welche das Gewissen allein statt des Ehrgefühls als die wesentliche Triebkraft ansehen; es wäre schöner und besser, wenn es sich so verhielte, allein sobald man doch zugeben muss, dass die bessern Entschlüsse aus einem »von Selbstsucht mehr oder weniger getrübten Gewissen« hervorgehen, so nenne man lieber diese Mischung mit ihrem Namen. Allerdings ist es bei den Italienern der Renaissance bisweilen schwer, dieses Ehrgefühl von der direkten Ruhmbegier zu unterscheiden, in welche dasselbe häufig übergeht. Doch bleiben es wesentlich zwei verschiedene Dinge.

An Aussagen über diesen Punkt fehlt es nicht. Eine besonders deutliche mag statt vieler hier ihre Stelle finden; sie stammt aus den erst neuerlich an den Tag getretenen4) Aphorismen des Guicciardini. »Wer die Ehre hochhält, dem gelingt alles, weil er weder Mühe, Gefahr noch Kosten scheut; ich habe es an mir selbst erprobt und darf es sagen und schreiben: eitel und tot sind diejenigen Handlungen der Menschen, welche nicht von diesem starken Antrieb ausgehen.« Wir müssen freilich hinzusetzen, dass nach anderweitiger Kunde vom Leben des Verfassers hier durchaus nur vom Ehrgefühl und nicht vom eigentlichen Ruhme die Rede sein kann. Schärfer aber als vielleicht alle Italiener hat Rabelais die Sache betont. Zwar nur ungern mischen wir diesen Namen in unsere Forschung; was der gewaltige, stets barocke Franzose gibt, gewährt uns ungefähr ein Bild davon, wie die Renaissance sich ausnehmen würde ohne Form und ohne Schönheit5). Aber seine Schilderung eines Idealzustandes im Thelemitenkloster ist kulturgeschichtlich entscheidend, so dass ohne diese höchste Phantasie das Bild des 16. Jahrunderts unvollständig wäre. Er erzählt6) von diesen seinen Herren und Damen vom Orden des freien Willens unter andern wie folgt:

En leur reigle n'estoit que ceste clause: Fay ce que vouldras. Parce que gens liberes, bien nayz7), bien instruictz, conversans en compaignies honnestes, ont par nature ung instinct et aguillon qui tousjours les poulse à faictz vertueux, et retire de vice: lequel ilz nommoyent honneur.

Es ist derselbe Glaube an die Güte der menschlichen Natur, welcher auch die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts beseelte und der französischen Revolution die Wege bereiten half. Auch bei den Italienern appelliert jeder individuell an diesen seinen eigenen edeln Instinkt, und wenn im grossen und ganzen - hauptsächlich unter dem Eindruck des nationalen Unglückes - pessimistischer geurteilt oder empfunden wird, gleichwohl wird man immer jenes Ehrgefühl hochhalten müssen. Wenn einmal die schrankenlose Entwicklung des Individuums eine welthistorische Fügung, wenn sie stärker war als der Wille des einzelnen, so ist auch diese gegenwirkende Kraft, wo sie im damaligen Italien vorkömmt eine grosse Erscheinung. Wie oft und gegen welch heftige Angriffe der Selbstsucht sie den Sieg davontrug, wissen wir eben nicht, und deshalb reicht unser menschliches Urteil überhaupt nicht aus, um den absoluten moralischen Wert der Nation richtig zu schätzen.

Was nun der Sittlichkeit des höher entwickelten Italieners der Renaissance als wichtigste allgemeine Voraussetzung gegenübersteht, ist die Phantasie. Sie vor allem verleiht seinen Tugenden und Fehlern ihre besondere Farbe; unter ihrer Herrschaft gewinnt seine entfesselte Selbstsucht erst ihre volle Furchtbarkeit.

Um ihretwillen wird er z. B. der frühste grosse Hazardspieler der neuern Zeit, indem sie ihm die Bilder des künftigen Reichtums und der künftigen Genüsse mit einer solchen Lebendigkeit vormalt, dass er das Aeusserste daran setzt. Die mohammedanischen Völker wären ihm hierin ohne allen Zweifel vorangegangen, hätte nicht der Koran von Anfang an das Spielverbot als die notwendigste Schutzwehr islamitischer Sitte festgestellt und die Phantasie seiner Leute an Auffindung vergrabener Schätze gewiesen. In Italien wurde eine Spielwut allgemein, welche schon damals häufig genug die Existenz des Einzelnen bedrohte oder zerstörte. Florenz hat schon zu Ende des 14. Jahrhunderts seinen Casanova, einen gewissen Buonaccorso Pitti, welcher auf beständigen Reisen als Kaufmann, Parteigänger, Spekulant, Diplomat und Spieler von Profession enorme Summen gewann und verlor und nur noch Fürsten zu Partnern gebrauchen konnte, wie die Herzoge von Brabant, Baiern und Savoyen8). Auch der grosse Glückstopf, welchen man die römische Kurie nannte, gewöhnte seine Leute an ein Bedürfnis der Aufregung, welches sich in den Zwischenpausen der grossen Intrigen notwendig durch Würfelspiel Luft machte. Franceschetto Cybò verspielte z. B. einst in zweien Malen an Kardinal Raffaele Riario 14 000 Dukaten und klagte hernach beim Papst, sein Mitspieler habe ihn betrogen9). In der Folge wurde bekanntlich Italien die Heimat des Lotteriewesens.


  1. Discorsi L. I, c. 12. Auch c. 55: Italien sei verdorbener als alle andern Länder; dann kommen zunächst Franzosen und Spanier. Zurück
     
  2. Paul. Jov. viri illustres; Jo. Gal. Vicecomes. Zurück
     
  3. Ueber diese Stellung des Ehrgefühls in der jetzigen Welt vgl. die tiefernste Auseinandersetzung bei Prévost-Paradol, la France nouvelle, Livre III, chap. 2 (verfasst 1868). Zurück
     
  4. Franc. Guicciardini, Ricordi politici e civili, N. 118. (Opere inedite, vol. I.) Zurück
     
  5. Seine nächste Parallele ist Merlinus Coccajus (Teofilo Folengo), dessen Opus Macaronicorum (S. 190 und 298) Rabelais erweislich gekannt und mehrmals zitiert hat (Pantagruel L. II, ch. 1 und ch. 7, Ende). Ja die Anregung zum Gargantua und Pantagruel möchte überhaupt aus Merlinus Coccajus stammen. Zurück
     
  6. Gargantua L. I, chap. 57. Zurück
     
  7. D. h. wohlgeboren im höhern Sinn, denn Rabelais, der Wirtssohn von Chinon, hat keine Ursache, dem Adel als solchem hier ein Vorrecht zu gestatten. - Die Predigt des Evangeliums, von welcher in der Inschrift des Klosters die Rede ist, würde zu dem sonstigen Leben der Thelemiten wenig passen; sie ist auch eher negativ, im Sinne des Trotzes gegen die römische Kirche zu deuten. Zurück
     
  8. Dessen Tagebuch im Auszug bei Delécluze, Florence et ses vicissitudes, vol. 2. - Vgl. S. 365. Zurück
     
  9. Infessura, ap. Eccard, scrippt. II, Col. 1892. Vgl. oben S. 139. Zurück

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