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Ausserhalb des Gebietes der Poesie haben die Italiener zuerst von allen Europäern den historischen Menschen nach seinen äussern und innern Zügen und Eigenschaften genau zu schildern eine durchgehende Neigung und Begabung gehabt.
Allerdings zeigt schon das frühere Mittelalter bemerkenswerte Versuche dieser Art, und die Legende musste als eine stehende Aufgabe der Biographie das Interesse und das Geschick für individuelle Schilderung wenigstens bis zu einem gewissen Grade aufrecht halten. In den Kloster- und Domstiftannalen werden manche Hierarchen, wie z. B. Meinwerk von Paderborn, Godehard von Hildesheim usw. recht anschaulich beschrieben, und von mehrern unserer deutschen Kaiser gibt es Schilderungen, nach antiken Mustern, etwa Sueton, verfasst, welche die kostbarsten Züge enthalten; ja diese und ähnliche profane »vitae« bilden allmählich eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeschichten. Doch wird man weder Einhard noch Radevicus1) nennen dürfen neben Joinvilles Schilderung des heiligen Ludwig, welche als das erste vollkommene Geistesbildnis eines neu-europäischen Menschen allerdings sehr vereinzelt dasteht. Charaktere wie St. Ludwig sind überhaupt selten, und dazu gesellt sich noch das seltene Glück, dass ein völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Zügen und Ereignissen eines Lebens die Gesinnung heraus erkennt und sprechend darstellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muss man das innere Wesen eines Friedrich II., eines Philipp des Schönen zusammen erraten. Vieles, was sich dann bis zu Ende des Mittelalters als Biographie gibt, ist eigentlich nur Zeitgeschichte und ohne Sinn für das Individuelle des zu preisenden Menschen geschrieben.
Bei den Italienern wird nun das Aufsuchen der charakteristischen Züge bedeutender Menschen eine herrschende Tendenz, und dies ist es, was sie von den übrigen Abendländern unterscheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zufällig und in ausserordentlichen Fällen vorkömmt. Diesen entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur derjenige haben, welcher selbst aus der Rasse herausgetreten und zum Individuum geworden ist.
Im Zusammenhang mit dem weitherrschenden Begriff des Ruhmes (S. 172 f.) entsteht eine sammelnde und vergleichende Biographik, welche nicht mehr nötig hat, sich an Dynastien und geistliche Reihefolgen zu halten wie Anastasius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogenbiographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menschen schildern, wenn und weil er bedeutend ist. Als Vorbilder wirken hierauf ausser Sueton auch Nepos, die viri illustres und Plutarch ein, soweit er bekannt und übersetzt war; für literaturgeschichtliche Aufzeichnungen scheinen die Lebensbeschreibungen der Grammatiker, Rhetoren und Dichter, welche wir als Beilagen zu Sueton kennen2), wesentlich als Urbilder gedient zu haben, auch das vielgelesene Leben Virgils von Donatus.
Wie nun biographische Sammlungen, Leben berühmter Männer, berühmter Frauen, mit dem 14. Jahrhundert aufkamen, wurde schon oben (S. 177 ff.) erwähnt. Soweit sie nicht Zeitgenossen schildern, hängen sie natürlich von den frühern Darstellern ab; die erste bedeutende freie Leistung ist wohl das Leben Dantes von Boccaccio. Leicht und schwungvoll hingeschrieben und reich an Willkürlichkeiten, gibt diese Arbeit doch das lebhafte Gefühl von dem Ausserordentlichen in Dantes Wesen. Dann folgen, zu Ende des 14. Jahrhunderts, die »vite« ausgezeichneter Florentiner, von Filippo Villani. Es sind Leute jedes Faches: Dichter, Juristen, Aerzte, Philologen, Künstler, Staats- und Kriegsmänner, darunter noch lebende. Florenz wird hier behandelt wie eine begabte Familie, wo man die Sprösslinge notiert, in welchen der Geist des Hauses besonders kräftig ausgesprochen ist. Die Charakteristiken sind nur kurz, aber mit einem wahren Talent für das Bezeichnende gegeben und noch besonders merkwürdig durch das Zusammenfassen der äussern Physiognomie mit der innern. Fortan3) haben die Toscaner nie aufgehört, die Menschenschilderung als eine Sache ihrer speziellen Befähigung zu betrachten, und von ihnen haben wir die wichtigsten Charakteristiken der Italiener des 15. und 16. Jahrhunderts überhaupt. Giovanni Cavalcanti (in den Beilagen zu seiner florentinischen Geschichte, vor 1450) sammelt Beispiele bürgerlicher Trefflichkeit und Aufopferung, politischen Verstandes, sowie auch kriegerischer Tüchtigkeit, von lauter Florentinern. Papst Pius II. gibt in seinen Kommentarien wertvolle Lebensbilder von berühmten Zeitgenossen; neuerlich ist auch eine besondere Schrift seiner frühern Zeit4) wieder abgedruckt worden, welche gleichsam die Vorarbeiten zu jenen Porträts, aber mit eigentümlichen Zügen und Farben enthält. Dem Jakob von Volterra verdanken wir pikante Porträts der römischen Kurie5) nach Pius. Von Vespasiano Fiorentino war schon oft die Rede, und als Quelle im ganzen gehört er zum Wichtigsten, was wir besitzen, aber seine Gabe des Charakterisierens kommt noch nicht in Betracht neben derjenigen eines Macchiavelli, Niccolò Valori, Guicciardini, Varchi, Francesco Vettori und anderer, von welchen die europäische Geschichtschreibung vielleicht so nachdrücklich als von den Alten auf diesen Weg gewiesen wurde. Man darf nämlich nicht vergessen, dass mehrere dieser Autoren in lateinischen Uebersetzungen frühe ihren Weg nach dem Norden fanden. Und ebenso gäbe es ohne Giorgio Vasari von Arezzo und sein unvergleichlich wichtiges Werk noch keine Kunstgeschichte des Nordens und des neuern Europas überhaupt.
Von den Oberitalienern des 15. Jahrhunderts soll Bartolommeo Fazio (von Spezzia) höhere Bedeutung haben (S. 181 Anm. [5]). Platina, aus dem Cremonesischen gebürtig, repräsentiert in seinem »Leben Pauls II.« (S. 256) bereits die biographische Karikatur. Vorzüglich wichtig aber ist die von Piercandido Decembrio verfasste Schilderung des letzten Visconti6), eine grosse erweiterte Nachahmung des Sueton. Sismondi bedauert, dass so viele Mühe an einen solchen Gegenstand gewandt worden, allein für einen grössern Mann hätte vielleicht der Autor nicht ausgereicht, während er völlig genügt, um den gemischten Charakter des Filippo Maria und an und in demselben mit wunderwürdiger Genauigkeit die Voraussetzungen, Formen und Folgerungen einer bestimmten Art von Tyrannis darzustellen. Das Bild des 15. Jahrhunderts wäre unvollständig ohne diese in ihrer Art einzige Biographie, welche bis in die feinsten Miniaturpünktchen hinein charakteristisch ist. - Späterhin besitzt Mailand an dem Geschichtschreiber Corio einen bedeutenden Bildnismaler; dann folgt der Comaske Paolo Giovio, dessen grössere Biographien und kleinere Elogien weltberühmt und für Nachfolger aller Länder ein Vorbild geworden sind. Es ist leicht, an hundert Stellen Giovios Flüchtigkeit und auch wohl (doch nicht so häufig als man glaubt) seine Unredlichkeit nachzuweisen, und eine ernste höhere Absicht liegt ohnehin nie in einem Menschen wie er war. Allein der Atem des Jahrhunderts weht durch seine Blätter, und sein Leo, sein Alfonso, sein Pompeo Colonna leben und bewegen sich vor uns mit völliger Wahrheit und Notwendigkeit, wenngleich ihr tieferes Wesen uns hier nicht kund wird.
Unter den Neapolitanern nimmt Tristan Caracciolo (S. 62 [Anm. 2]), soweit wir urteilen können, ohne Frage die erste Stelle ein, obwohl seine Absicht nicht einmal eine streng biographische ist. Wundersam verflechten sich in den Gestalten, die er uns vorführt, Schuld und Schicksal, ja man könnte ihn wohl einen unbewussten Tragiker nennen. Die wahre Tragödie, welche damals auf der Szene keine Stätte fand, schritt mächtig einher durch die Paläste, Strassen und Plätze. - Die »Worte und Taten Alfons des Grossen«, von Antonio Panormita bei Lebzeiten des Königs geschrieben, sind merkwürdig als eine der frühsten derartigen Sammlungen von Anekdoten und weisen wie scherzhaften Reden.
Langsam nur folgte das übrige Europa den italienischen Leistungen in der geistigen Charakteristik7), obschon die grossen politischen und religiösen Bewegungen so manche Bande gesprengt, so viele Tausende zum Geistesleben geweckt hatten. Ueber die wichtigsten Persönlichkeiten der damaligen europäischen Welt sind wiederum im ganzen unsere besten Gewährsmänner Italiener, sowohl Literaten als Diplomaten. Wie rasch und unwidersprochen haben in neuester Zeit die venezianischen Gesandtschaftsberichte des 16. und 17. Jahrhunderts in betreff der Personalschilderungen die erste Stelle errungen.
Auch die Selbstbiographie nimmt bei den Italienern hie und da einen kräftigen Flug in die Tiefe und Weite und schildert neben dem buntesten Aussenleben ergreifend das eigene Innere, während sie bei andern Nationen, auch bei den Deutschen der Reformationszeit, sich an die merkwürdigen äussern Schicksale hält und den Geist mehr nur aus der Darstellungsweise erraten lässt. Es ist als ob Dantes vita nuova mit ihrer unerbittlichen Wahrheit der Nation die Wege gewiesen hätte.
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