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Jacob Burckhardt - Die Kultur der Renaissance in Italien

Jacob Burckhardt - Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch.
Vierter Abschnitt: Die Entdeckung der Welt und des Menschen - Schilderung des bewegten Lebens

Zu der Entdeckung des Menschen dürfen wir endlich auch die schildernde Teilnahme an dem wirklichen bewegten Menschenleben rechnen.

Die ganze komische und satirische Seite der mittelalterlichen Literaturen hatte zu ihren Zwecken das Bild des gemeinen Lebens nicht entbehren können. Etwas ganz anderes ist es, wenn die Italiener der Renaissance dieses Bild um seiner selbst willen ausmalen, weil es an sich interessant, weil es ein Stück des grossen allgemeinen Weltlebens ist, von welchem sie sich zauberhaft umwogt fühlen. Statt und neben der Tendenzkomik, welche sich in den Häusern, auf den Gassen, in den Dörfern herumtreibt, weil sie Bürgern, Bauern und Pfaffen eines anhängen will, treffen wir hier in der Literatur die Anfänge des echten Genre, lange Zeit bevor sich die Malerei damit abgibt. Dass beides sich dann oft wieder verbindet, hindert nicht, dass es verschiedene Dinge sind.

Wie viel irdisches Geschehen muss Dante aufmerksam und teilnehmend angesehen haben, bis er die Vorgänge eines Jenseits so ganz sinnlich wahr schildern konnte1). Die berühmten Bilder von der Tätigkeit im Arsenal zu Venedig, vom Aneinanderlehnen der Blinden vor den Kirchtüren2) u. dgl. sind lange nicht die einzigen Beweise dieser Art; schon seine Kunst, den Seelenzustand in der äussern Gebärde darzustellen, zeigt ein grosses und beharrliches Studium des Lebens.

Die Dichter, welche auf ihn folgen, erreichen ihn in dieser Beziehung selten, und den Novellisten verbietet es das höchste Gesetz ihrer Literaturgattung, bei dem einzelnen zu verweilen (vgl. S. 334, 375). Sie dürfen so weitschweifig präludieren und erzählen als sie wollen, aber nicht genrehaft schildern. Wir müssen uns gedulden, bis die Männer des Altertums Lust und Gelegenheit finden, sich in der Beschreibung zu ergehen.

Hier tritt uns wiederum der Mensch entgegen, welcher Sinn hatte für alles: Aeneas Sylvius. Nicht bloss die Schönheit der Landschaft, nicht bloss das kosmographisch oder antiquarisch Interessante (S. 211, 313 f., 330 f.) reizt ihn zur Darstellung, sondern jeder lebendige Vorgang3). Unter den sehr vielen Stellen seiner Memoiren, wo Szenen geschildert werden, welchen damals kaum jemand einen Federstrich gegönnt hätte, heben wir hier nur das Wettrudern auf dem Bolsener See hervor4). Man wird nicht näher ermitteln können, aus welchen antiken Epistolographen oder Erzählern die spezielle Anregung zu so lebensvollen Bildern auf ihn übergegangen ist, wie denn überhaupt die geistigen Berührungen zwischen Altertum und Renaissance oft überaus zart und geheimnisvoll sind.

Sodann gehören hieher jene beschreibenden lateinischen Gedichte, von welchen oben (S. 288) die Rede war: Jagden, Reisen, Zeremonien u. dgl. Es gibt auch Italienisches dieser Gattung; wie z. B. die Schilderungen des berühmten mediceischen Turniers von Poliziano und Luca Pulci. Die eigentlichen epischen Dichter, Luigi Pulci, Bojardo und Ariost, treibt ihr Gegenstand schon rascher vorwärts, doch wird man bei allen die leichte Präzision in der Schilderung des Bewegten als ein Hauptelement ihrer Meisterschaft erkennen müssen. Franco Sacchetti macht sich einmal das Vergnügen, die kurzen Reden eines Zuges hübscher Weiber aufzuzeichnen5), die im Wald vom Regen überrascht werden.

Andere Beschreibungen der bewegten Wirklichkeit findet man am ehesten bei Kriegsschriftstellern u. dgl. (vgl. S. 130). Schon aus früherer Zeit ist uns in einem umständlichen Gedicht6) das getreue Abbild einer Söldnerschlacht des 14. Jahrhunderts erhalten, hauptsächlich in Gestalt der Zurufe, Kommandos und Gespräche, die während einer solchen vorkommen.

Das Merkwürdigste dieser Art aber ist die echte Schilderung des Bauernlebens, welche besonders bei Lorenzo magnifico und den Dichtern in seiner Umgebung bemerklich wird.

Seit Petrarca7) gab es eine falsche, konventionelle Bukolik oder Eklogendichtung, eine Nachahmung Virgils, mochten die Verse lateinisch oder italienisch sein. Als ihre Nebengattungen traten auf der Hirtenroman von Boccaccio (S. 285) bis auf Sannazaros Arcadia, und später das Schäferspiel in der Art des Tasso und Guarini, Werke der allerschönsten Prosa wie des vollendetsten Versbaues, worin jedoch das Hirtenwesen nur ein äusserlich übergeworfenes ideales Kostüm für Empfindungen ist, die einem ganz andern Bildungskreis entstammen8).

Daneben aber tritt gegen das Ende des 15. Jahrhunderts jene echt genrehafte Behandlung des ländlichen Daseins in die Dichtung ein. Sie war nur in Italien möglich, weil nur hier der Bauer (sowohl der Kolone als der Eigentümer) Menschenwürde und persönliche Freiheit und Freizügigkeit hatte, so hart bisweilen auch sein Los sein mochte. Der Unterschied zwischen Stadt und Dorf ist bei weitem nicht so ausgesprochen wie im Norden; eine Menge Städtchen sind ausschliesslich von Bauern bewohnt, die sich des Abends Städter nennen können. Die Wanderungen der comaskischen Maurer gingen fast durch ganz Italien; das Kind Giotto durfte von seinen Schafen hinweg und konnte in Florenz zünftig werden; überhaupt war ein beständiger Zustrom vom Lande nach den Städten, und gewisse Bergbevölkerungen schienen dafür eigentlich geboren9). Nun sorgen zwar Bildungshochmut und städtischer Dünkel noch immer dafür, dass Dichter und Novellisten sich über den villano lustig machen10), und die Improvisier-Komödie (S. 350 f.) tat vollends das übrige. Aber wo fände sich ein Ton von jenem grausamen, verachtungsvollen Rassenhass gegen die vilains, der die adligen provenzalischen Dichter und stellenweise die französischen Chronisten beseelt? Vielmehr11) erkennen italienische Autoren jeder Gattung das Bedeutende und Grosse, wo es sich im Bauernleben zeigt, freiwillig an und heben es hervor. Gioviano Pontano erzählt12) mit Bewunderung Züge von Seelenstärke der wilden Abruzzesen; in den biographischen Sammelwerken wie bei den Novellisten fehlt auch das heroische Bauermädchen13) nicht, welches sein Leben dran setzt, um seine Unschuld oder seine Familie zu verteidigen14).

Unter solchen Voraussetzungen war eine poetische Betrachtung des Bauernlebens möglich. Zunächst sind hier zu erwähnen die einst viel gelesenen und noch heute lesenswerten Eklogen des Battista Mantovano (eines seiner frühern Werke, etwa um 1480). Sie schwanken noch zwischen echter und konventioneller Ländlichkeit, doch überwiegt die erstere. Im wesentlichen spricht daraus der Sinn eines wohldenkenden Dorfgeistlichen, nicht ohne einen gewissen aufklärerischen Eifer. Als Karmelitermönch mag er viel mit Landleuten verkehrt haben.

Allein mit einer ganz andern Kraft versetzt sich Lorenzo magnifico in den bäurischen Gesichtskreis hinein. Seine Nencia di Barberino15) liest sich wie ein Inbegriff echter Volkslieder aus der Umgegend von Florenz, zusammengegossen in einen grossen Strom von Ottaven. Die Objektivität des Dichters ist der Art, dass man im Zweifel bleibt, ob er für den Redenden (den Bauerburschen Vallera, welcher der Nencia seine Liebe erklärt) Sympathie oder Hohn empfindet. Ein bewusster Gegensatz zur konventionellen Bukolik mit Pan und Nymphen ist unverkennbar; Lorenzo ergeht sich absichtlich im derben Realismus des bäurischen Kleinlebens, und doch macht das Ganze einen wahrhaft poetischen Eindruck.

Ein zugestandenes Seitenstück zur Nencia ist die Beca da Dicomano des Luigi Pulci16). Allein es fehlt der tiefere objektive Ernst; die Beca ist nicht sowohl gedichtet aus innerem Drang, ein Stück Volksleben darzustellen, als vielmehr aus dem Verlangen, durch etwas der Art den Beifall gebildeter Florentiner zu gewinnen. Daher die viel grössere, absichtlichere Derbheit des Genrehaften und die beigemischten Zoten. Doch wird der Gesichtskreis des ländlichen Liebhabers noch sehr geschickt festgehalten.

Der dritte in diesem Verein ist Angelo Poliziano mit seinem Rusticus17) in lateinischen Hexametern. Er schildert, unabhängig von Virgils Georgica, speziell das toscanische Bauernjahr, beginnend mit dem Spätherbst, da der Landmann einen neuen Pflug schnitzt und die Wintersaat bestellt. Sehr reich und schön ist die Schilderung der Fluren im Frühling, und auch der Sommer enthält vorzügliche Stellen; als eine Perle aller neulateinischen Poesie aber darf das Kelterfest im Herbste gelten. Auch auf italienisch hat Poliziano einzelnes gedichtet, woraus hervorgeht, dass man im Kreise des Lorenzo bereits irgendein Bild aus dem leidenschaftlich bewegten Leben der untern Stände realistisch behandeln durfte. Sein Liebeslied des Zigeuners18) ist wohl eines der frühsten Produkte der echt modernen Tendenz, sich in die Lage irgendeiner Menschenklasse mit poetischem Bewusstsein hineinzuversetzen. Mit komischer Absicht war dergleichen wohl von jeher versucht worden19), und in Florenz boten die Gesänge der Maskenzüge sogar eine bei jedem Karneval wiederkehrende Gelegenheit hiezu. Neu aber ist das Eingehen auf die Gefühlswelt eines andern, womit die Nencia und diese »Canzone zingaresca« einen denkwürdigen neuen Anfang in der Geschichte der Poesie ausmachen.

Auch hier muss schliesslich darauf hingewiesen werden, wie die Bildung der Kunst vorangeht. Von der Nencia an dauert es wohl achtzig Jahre bis zu den ländlichen Genremalereien des Jacopo Bassano und seiner Schule.

Im nächsten Abschnitt wird es sich zeigen, dass in Italien damals die Geburtsunterschiede zwischen den Menschenklassen ihre Geltung verloren. Gewiss trug hiezu viel bei, dass man hier zuerst die Menschen und die Menschheit in ihrem tiefern Wesen vollständig erkannt hatte. Schon dieses eine Resultat der Renaissance darf uns mit ewigem Dankgefühl erfüllen. Den logischen Begriff der Menschheit hatte man von jeher gehabt, aber sie kannte die Sache.

Die höchsten Ahnungen auf diesem Gebiete spricht Pico della Mirandola aus in seiner Rede von der Würde des Menschen20), welche wohl eines der edelsten Vermächtnisse jener Kulturepoche heissen darf. Gott hat am Ende der Schöpfungstage den Menschen geschaffen, damit derselbe die Gesetze des Weltalls erkenne, dessen Schönheit liebe, dessen Grösse bewundre. Er band denselben an keinen festen Sitz, an kein bestimmtes Tun, an keine Notwendigkeiten, sondern er gab ihm Beweglichkeit und freien Willen. »Mitten in die Welt«, spricht der Schöpfer zu Adam, »habe ich dich gestellt, damit du um so leichter um dich schauest und sehest alles was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich allein, damit du dein eigener freier Bildner und Ueberwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit was sie haben sollen, die höhern Geister sind von Anfang an oder doch bald hernach21) was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime eines allartigen Lebens in dir.«


  1. Ueber die Wahrheit seines Raumsinns vgl. S. 326, Anm. [4] Zurück
     
  2. Inferno XXI, 7. Purgat. XIII, 61. Zurück
     
  3. Man muss es nicht zu ernst nehmen, dass er an seinem Hofe eine Art Spottdrossel, den Florentiner Greco hatte, hominem certe cuiusvis mores, naturam, linguam cum maximo omnium qui audiebant risu facile exprimentem. Platina, Vitae Pontiff. p. 310. Zurück
     
  4. Pii II. Comment. VIII, p. 391. Zurück
     
  5. Diese sogenannte Caccia ist abgedruckt im Kommentar zu Castigliones Ekloge. Zurück
     
  6. Siehe die Serventese des Giannozzo von Florenz, bei Trucchi, Poesie italiane inedite, II, p. 99. Die Worte sind zum Teil ganz unverständlich, d. h. wirklich oder scheinbar aus den Sprachen der fremden Söldner entlehnt. - Auch Macchiavells Beschreibung von Florenz während der Pest von 1527 gehört gewissermassen hieher. Lauter lebendig sprechende Einzelbilder eines schrecklichen Zustandes. Zurück
     
  7. Laut Boccaccio (Vita di Dante, p. 77) hätte schon Dante zwei, wahrscheinlich lateinische, Eklogen gedichtet. Zurück
     
  8. Boccaccio gibt in seinem Ameto schon eine Art von mythisch verkleidetem Decamerone und fällt bisweilen auf komische Weise aus dem Kostüm. Eine seiner Nymphen ist gut katholisch und wird in Rom von den Prälaten lüstern angesehen; eine andere heiratet. Im Ninfale Fiesolano zieht die schwangere Nymphe Mensola eine »alte, weise Nymphe« zu Rate, u. dgl. Zurück
     
  9. Nullum est hominum genus aptius urbi, sagt Battista Mantovano (Ecl. VIII) von den zu allen Dingen brauchbaren Bewohnern des Monte Baldo und der Val Sassina. Bekanntlich haben einzelne Landbevölkerungen noch heute ein Vorrecht auf gewisse Beschäftigungen in grossen Städten. Zurück
     
  10. Vielleicht eine der stärksten Stellen: Orlandino, cap. V, str. 54-58. Zurück
     
  11. In der Lombardie scheuten sich zu Anfang des 16. Jahrhunderts die Edelleute nicht, mit den Bauern zu tanzen, zu ringen, zu springen und um die Wette zu laufen. Il cortigiano, L. II, fol. 54. - Ein Gutsbesitzer, der sich über Gier und Trug seiner Pachtbauern damit tröstet, dass man sich dabei in die Leute schicken lerne, ist A. Pandolfini, im Trattato del governo della famiglia, p. 86. Zurück
     
  12. Jovian. Pontan. de fortidudine, lib. II. Zurück
     
  13. Die berühmte veltlinische Bäurin Bona Lombarda als Gemahlin des Condottiere Pietro Brunoro lernt man kennen aus Jacobus Bergomensis und aus Porcellius, bei Murat. XXV, Col. 43. - Vgl. oben S. 180, Anm. [4] Zurück
     
  14. Ueber das Schicksal der damaligen italienischen Bauern überhaupt und je nach den Landschaften insbesondere sind wir ausserstande, Näheres hier beizubringen. Wie sich der freie Grundbesitz damals zum gepachteten verhielt, welches die Belastung beider im Verhältnis zur jetzigen Zeit war, müssen Spezialwerke lehren, die uns nicht zu Gebote stehen. In stürmischen Zeiten pflegen die Bauern bisweilen schrecklich zu verwildern (Arch. stor. XVI, I, p. 451, s. - Corio, fol. 259. - Annales Foroliv. bei Murat. XXII, Col. 227), aber nirgends kommt es zu einem grossen gemeinsamen Bauernkrieg. Von einiger Bedeutung und an sich sehr interessant ist der Bauernaufstand um Piacenza 1462. Vgl. Corio, Storia di Milano, fol. 409. Annales Placent. bei Murat. XX, Col. 907. Sismondi, X, p. 138. Zurück
     
  15. Poesie di Lorenzo magnif., I, p. 37, s. - Die sehr merkwürdigen Gedichte aus der Zeit des deutschen Minnegesanges, welche den Namen des Neithard von Reuenthal tragen, stellen das Bauernleben doch nur dar, insoweit sich der Ritter zu seinem Vergnügen darauf einlässt. Zurück
     
  16. Ebenda, II, p. 149. Zurück
     
  17. U. a. in den Deliciae poetar. ital. und in den Werken Polizianos. - Die Lehrgedichte des Rucellai und Alamanni, welche einiges Aehnliches enthalten sollen, stehen mir nicht zu Gebote. Zurück
     
  18. Poesie di Lorenzo m. II, p. 75. Zurück
     
  19. Dahin gehört schon das Nachmachen verschiedener Dialekte, wozu das der Landesmanieren sich gesellt haben muss. Vgl. S. 186. Zurück
     
  20. Jo. Pici oratio de hominis dignitate, in den Opera und in besondern Abdrücken. Zurück
     
  21. Eine Anspielung auf den Sturz Lucifers und seiner Genossen. Zurück

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