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(Liebe Freunde, erst hatte ich es drin, dann wieder draußen wegen Bedenken, und jetzt ist es wieder drin. Wer das nicht möchte, bitte Bescheid sagen, ich baue es sofort wieder aus.)

Da machte Gott, der Herr,

den Menschen aus Erde vom Acker

und blies ihm den Odem des Lebens

in seine Nase.

Und so ward der Mensch

ein lebendiges Wesen.

Genesis 2,7

 

fragendes fürwort

wer bin ich

warum bin ich

wie bin ich

wo ich doch nicht so war

was bin ich geworden

wie lange werde ich sein

wem werde ich was gewesen sein

wie oft werde ich noch werden

wann werde ich sagen ich bin

woher wissen wie das ist

wen fragen wie das sein wird

wohin gehen was zu werden

wessen verlust gewesen zu sein

warum geworden

warum nicht anders geworden

wem sage ich das

Rudolf Otto Wierner

 

 

 

Ich wurde nicht gefragt

Ich wurde nicht gefragt

bei meiner Zeugung

und die mich zeugten

wurden auch nicht gefragt

bei ihrer Zeugung

niemand wurde gefragt

außer dem Einen

und der sagte ja

Ich wurde nicht gefragt

bei meiner Geburt

und die mich gebar

wurde auch nicht gefragt

bei ihrer Geburt

niemand wurde gefragt

außer dem Einen

und der sagte ja

Kurt Marti

 

 

 

Zu sein

ist Wunder genug.

Zu spüren, daß ich bin,

hier,

in dieser Zeit

in diesem Raum

so einmalig und besonders.

Eines Tages auf dieser Erde erschienen

und später gesagt: Ich bin ich.

Das ist Wunder genug.

In den unendlichen, leeren Räumen des Universums,

lm Wunder des geheimen Ablaufs aller Dinge

ist es das größere Wunder,

daß ich bin,

daß ich die Leere ausfülle

mit dem Wunder des Lebens,

daß ich mich selbst erlebe,

daß ich um mich weiß

und dann nach außen vorstoße

und dir begegne.

Ich will nicht nach Wundern suchen,

sondern mir bewußt machen,

daß ich Wunder genug bin.

Ich will mich feiern,

wie Gott mich feiert.

Ulrich Schaffer

 

 

 

Nicht von außen,

von innen,

nicht von der Leere,

von der Fülle,

nicht vom Wissen,

von der Weisheit,

nicht von der Erde,

vom Kosmos,

nicht vom Jetzt,

von urher,

nicht vom Trieb,

vom Wesen,

nicht vom Ich,

von Gott

kam die Stimme,

die Abraham

zur Wanderschaft

berief.

Auf der Flucht

vor dem Gespräch

ins Geschwätz,

auf der Flucht

vor dem Schweigen

in das Lärmen,

auf der Flucht

vor mir selbst

in die Masse -

wird Gott

mich nicht

ergreifen können.

Da ich nicht

zu mir gekommen bin,

wird Er mich nicht

treffen können.

Martin Gutl

 

 

 

Der Mensch zwischen zwei Polen

Flackernde Herzen

auf den Friedhöfen

der Erde -

und darüber

die ruhigen Sterne.

Zuckendes Feuer

in den Augen des Menschen

und tief innen in ihm

der gelassene Gott.

Martin Gutl

 

 

 

Normalzeit

Keine Bäume entwurzeln, keine

Berge versetzen wollten wir. Doch

im Lieben und in manchem Kuß

erzittert die Kruste bis ins Jura.

Hände vergraben wir im Haar, treiben

unsere Blicke über erinnerte Sommer,

schwimmen, schwimmen bis ans entfernte

Ufer im Herbst.

Hinter der Tür, draußen

angekommen in einer anderen Zeit,

vor der Geschichte geflohen, bin ich,

Staub von Erdzeitaltern auf den Brauen,

mit feuchten Händen,

ohne Ziel.

Träume, daß meine Angst einfriert

in der nächsten Eiszeit,

über dem Weiß ohne Ende

dein warmes Lachen.

Heinz Kattner

 

 

 

Als ich aus sowjetischer Gefangenschaft heimkehrte, schickten wohlmeinende Freunde mich in ein hessisches Städtchen, wo einige weise Damen eine segensreiche Tätigkeit ausübten. Sie lehrten ihre Patienten nämlich 'richtig" atmen, sprechen, singen - wobei das 'Kommenlassen" des Atem sowie das bewußte Ausatmen, also Goethes zweierlei Gnaden ('die Luft einholen, sich ihrer entladen") als das A und O gesunder Leiblichkeit überhaupt betrachtet wurden. Mir tat diese Atemkur sehr wohl, und als ich sie zwei Wochen lang betrieben hatte, stellte sich eines Tages bei einer Mahlzeit im Kreis der Mit-atmer aus unbedeutendem Anlaß eine solche Nötigung zum Lachen ein, daß die ganze Tischrunde schließlich mit mir lachte, ohne zu wissen, warum. Es war dies der Anfang neugewonnener Daseinsfreude, und mein Leib hatte stellvertretend für die Seele diesen Zugang zur Fröhlichkeit gefunden.

Ich habe Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie einseitig intellektuell beanspruchte Studenten, wenn sie "richtig atmen lernten", nahezu andere Menschen wurden; welche Freude es ihnen machte zu entdecken, daß sie nicht nur einen Verstand, sondern auch einen Leib hatten, der es gut mit ihnen meinte, ich sah, wie sie wieder identisch wurden mit sich selbst, plastischer sprachen und dachten als zuvor, überhaupt ihres Daseins und seiner vielfältigen schöpferischen Möglichkeiten neu inne wurden.

Es überraschte mich nicht, in Herrigels 'Kunst des Bogenschießens" zu lesen, daß der richtig Atmende zu physischen Leistungen imstande ist - sozusagen "ohne Anstrengung" -, die ihm rein kräftemäßig nicht möglich wären. In Ostpreußen erzählte mir jemand, es sei kaum glaublich (aber wahr), daß die schweren Elche über ganz dünnes Eis laufen könnten - von ihrem Atem leicht gemacht! Mag bei dieser Behauptung waidmännische Phantasie im Spiele sein, sicher ist, daß jeder von uns eine Treppe anders - nämlich leichter - emporsteigt, wenn er dabei bewußt und 'richtig" atmet.

Der Volksmund spricht von Menschen, die einen 'langen Atem" haben. Hier ist genau beobachtet und genau formuliert. Der 'lange Atem" gibt Distanz zu den Dingen, ermöglicht ruhiges Abwägen, Leichtigkeit des Denkens, Güte und schlichten leiblichen Frieden. Wo es gelingt, den 'langen Atem" umzusetzen in Sprache und Stimme, da wird das Atem-Glück des Gesanges erlebt. Es besteht darin, daß wir von unserer Stimme getragen werden, während wir sie zugleich formen.

Der richtig Atmende hat Haltung. Im Hause meiner bäuerlichen Nachbarn in Westfalen lebt eine über neunzigjährige Frau, die zeit ihres Lebens schwer gearbeitet hat. Mir füllt auf, daß diese Greisin mühelos aufrecht sitzt, ohne Lehne und Polster, Warum kann sie das? Weil sie rhythmisch und tief atmet. Ihr Atem stützt sie.

Richtiges Atmen schafft richtige - das heißt: harmonische - Bewegung, glaubhafte Gebärde, Ein Tanz ist schön, wenn er aus dem Atem geboren wird; er ist häßlich, wenn ungeformter Trieb, verkrampfter Wille ihn hervorbringen.

Der Atem ist Mittler zwischen Leiblichem, Seelischem und Geistigem. Würden wir ihn sein versöhnliches Werk an uns tun lassen, so würden wir vielleicht friedlicher, verstehender, menschlicher miteinander umgehen.

Willy Kramp

 

 

 

Ich möchte endlich den eigenen Körper bewohnen

Mein Rücken ist mir so fremd,

als gehöre er gar nicht mir.

Wie vertraut sind mir die Hüften und der Hals?

Die rechte Hand ist mir vertraut, natürlich.

Aber erst wenn ich Schmerzen habe, werde ich erinnert,

daß es sich nicht um ein austauschbares Instrument handelt.

Mit meiner Zunge lecke ich meine Lippen,

ich werde dadurch meiner Lippen und meiner Zunge inne.

Gaumen und Kehle nehme ich noch wahr,

aber wo sitzt eigentlich mein Magen?

Irgendwann einmal hatte ich Nierenschmerzen.

Wo sitzen eigentlich diese Gebilde?

Ganze Zonen meiner Haut sind entlegene Kontinente,

unerforschtes Gebiet.

Gehört das alles zu meinem Ich?

Habe ich Augen oder bin ich sie?

Bin ich in meinen Nervenbahnen und Poren?

Wenn du meinen Rücken streichelst,

entdecke ich, daß ich dir auch dort antworten kann,

Allmählich beginne ich, meinen Körper zu bewohnen.

Bisher wohnte ich in engen Kammern,

die Fenster waren verhängt,

vor den Fluren und Sälen hatte ich Angst.

Es ist ein wohnliches Haus, das mir gewährt wurde.

Ich werde noch eine Weile brauchen,

bis ich alle Kammern vom Speicher bis zum Keller entdecke.

Ich möchte endlich den eigenen Körper bewohnen.

Otto und Felicitos Betz

 

 

 

großer gott klein

großer gott:

uns näher

als haut

oder halsschlagader

kleiner

als herzmuskel

zwerchfell oft:

zu nahe zu klein -

wozu

dich suchen?

wir:

deine verstecke

Kurt Marti

 

 

 

Der Engel in dir

Der Engel in dir

freut sich über dein

Licht

weint über deine Finsternis

Aus seinen Flügeln rauschen

Liebesworte

Gedichte Liebkosungen

Er bewacht

deinen Weg

Lenk deinen Schritt

engelwärts

Rose Ausländer

 

 

 

Am Hofe gab es starke Leute und gescheite Leute, der König war ein König, die Frauen waren schön und die Männer mutig, der Pfarrer war fromm und die Küchenmagd fleißig - nur Colombin war nichts, Wenn jemand sagte: 'Komm, Colombin, kämpf mit mir, sagte Colombin: 'Ich bin schwächer als du." Wenn jemand sagte: 'Wieviel gibt zwei mal sieben?", sagte Colombin: 'Ich bin dümmer als du," Wenn jemand sagte: 'Getraust du dich, über den Bach zu springen?", sagte Colombin: 'Nein, ich getraue mich nicht." Und wenn der König fragte: "Colombin, was willst du werden?", antwortete Colombin: 'Ich will nichts werden, ich bin schon etwas, ich bin Colombin."

Peter Bichsel

 

 

Ecce Homo

Weniger als die Hoffnung auf ihn

das ist der Mensch

einarmig

immer

Nur der gekreuzigte

beide Arme

weit offen

der Hier-Bin-Ich

Hilde Domin

 

 

 

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,

niemand bespricht unsern Staub.

Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.

Dir zulieb wollen

wir blühn.

Dir

entgegen.

Ein Nichts

waren wir, sind wir, werden

wir bleiben, blühend:

die Nichts-, die

Niemandsrose.

Mit

dem Griffel seelenhell,

dem Staubfaden himmelswüst,

der Krone rot

vom Purpurwort, das wir sagen

über, o über

dem Dorn.

Paul Celan

 

 

 

Mit allen Gedanken ging ich

hinaus aus der Welt; da warst du,

du meine Leise, du meine Offne, und -

du empfingst uns.

Wer

sagt, daß uns alles erstarb,

da uns das Auge brach?

Alles erwachte, alles hob an.

Groß kam eine Sonne geschwommen, hell

standen ihr Seele und Seele entgegen, klar,

gebieterisch schwiegen sie ihr

ihre Bahn vor.

Leicht

tat sich dein Schoß auf, still

stieg ein Hauch in den Äther,

und was sich wölkte, war's nicht,

war's nicht Gestalt und von uns her,

war's nicht

so gut wie ein Name?

Paul Celan

 

 

 

Die Schritte

Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,

Klein wird dein letzter sein.

Den ersten gehn Vater und Mutter mit,

Den letzten gehst du allein.

Seis um ein Jahr, dann gehst du, Kind,

Viel Schritte unbewacht,

Wer weiß, was das dann für Schritte sind

lm Licht und in der Nacht?

Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt,

Groß ist die Welt und dein.

Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt

Wieder beisammen sein.

Albrecht Goes

 

 

 

Ich bin das Gefäß. Gottes ist das Getränk.

Und Gott der Dürstende.

Vor dir in Demut, mit dir in Treue, in dir in Stille.

In dem Einen bist du niemals einsam,

in dem Einen bist du allezeit zu Haus.

Heraus aus mir, dem Hindernis,

hinein zu mir, der Erfüllung.

Dag Hammarskjöld

 

 

 

Mit dem rechten Schwerpunkt in der Leibesmitte entdeckt der Mensch den Wurzelraum seines Daseins. Dies bedeutet aber zweierlei: Der Wurzelraum ist der Raum, auf den man sich niederlassen und verlassen kann, der trägt und einem, vorausgesetzt, daß man sich ihm anvertraut, das Gefühl eines sicheren Haltes vermittelt. Zum anderen aber ist er der Raum, aus dem man hervorwächst. Und je tiefer man in ihm Wurzeln schlägt, umso deutlicher spürt man, daß es einen wie von selbst nach oben wachsen läßt. Wird die Bewegung nach unten, in der man sich in den Schultern losläßt, im Becken niederläßt und dort Wurzeln schlagen läßt, in der rechten Weise vollzogen, so ist sie automatisch mit der Bewegung eines natürlichen nach oben Wachsens verbunden. Man spürt, wie die Kraft, die im Becken aufgeht, vor allem im 'Rücken", aber dann auch im ganzen Leibe nach oben steigt und in einem Freiwerden des oberen Raumes ein Gefühl des Gehobenwerdens erzeugt, Wie von selbst reckt die Wirbelsäule sich empor, und der ganze Oberkörper schwebt gleichsam in einem lebendigen, schwingenden Gleichgewicht auf dem Rumpf. Der gesamte Körper befindet sich im labilen Gleichgewicht. Die so entstehende 'Aufrechte" ist voller Elastizität und Bewegung.

Karifried Graf Dürckheim

 

 

 

Wer bin ich?

Du Mensch nach Gott gebildet bist.

Dein Leib ist Gleichnis: Kreuz und Christ.

Gerammt in Grund der Hauptstamm steht,

Seitab der Schultern Querholz geht,

Erkenn das Kreuz. Du hängst daran.

Schmerzenkind und Schmerzensmann.

Halswirbel führn den Sprossenlauf

Der Jakobsleiter himmelauf,

Verhüllt von dunklen Rippen brennt

Herz: - ewiges Licht und Sakrament.

Verborgener Felsborn pocht und schwillt.

Neig dich vor allem Menschenbild.

Wemer Bergengruen

 

 

 

Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest,

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Dietrich Bonhoeffer

 

 

 

Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand,

ohne Gott ein Tropfen in der Glut,

ohne Gott bin ich ein Gras lm Sand

und ein Vogel, dessen Schwinge ruht.

Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,

bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.

Jochen Klepper

 

 

 

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: bin ich Falke,

ein Sturm oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke

 

 

 

Ich sitze am Straßenrand.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel in Ungeduld?

Bert Brecht

 

 

 

Ich komm', weiß nit woher,

ich bin und weiß nit wer.

ich leb', weiß nit wie lang,

ich sterb' und weiß nit wann,

ich fahr', weiß nit wohin:

Mich wundert's, daß ich fröhlich bin,

Da mir mein Sein so unbekannt,

geb' ich es ganz in Gottes Hand, -

die führt es wohl, so her wie hin.

Mich wundert's, wenn ich noch traurig bin.

Hans Thoma

 

 

 

Der Mensch

Empfangen und genähret

vom Weibe wunderbar,

kömmt er und sieht und höret

und nimmt des Trugs nicht wahr;

gelüstet und begehret, und bringt sein Tränlein dar;

verachtet und verehret,

hat Freude und Gefahr;

glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,

hält nichts und alles wahr;

erbauet und zerstöret,

und quält sich immerdar;

schläft, wachet, wächst und zehret;

trügt braun und graues Haar ...

und alles dieses währet,

wenns hoch kommt, achtzig Jahr.

Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,

und er kämmt nimmer wieder.

Matthias Claudius

 

 

 

Gesang der Geister über den Wassern

Des Menschen Seele

Gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder

Zur Erde muß es,

Ewig wechselnd,

Strömt von der hohen,

Steilen Felswand

Der reine Strahl,

Dann stäubt er lieblich

In Wolkenwellen

Zum glatten Fels,

Und leicht empfangen

Wallt er verschleiernd,

Leisrauschend

Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen

Dem Sturz entgegen,

Schäumt er unmutig

Stufenweise

Zum Abgrund,

lm flachen Bette

Schleicht er das Wiesental hin,

Und in dem glatten See

Weiden ihr Antlitz

Alle Gestirne.

Wind ist der Welle

Lieblicher Buhler,

Wind mischt vom Grund aus

Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!

Johann Wolfgang Goethe

 

 

 

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,

Weil die Menge gleich verhöhnet,

Das Lebendge will ich preisen,

Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,

Die dich zeugte, wo du zeugtest,

Überfält dich fremde Fühlung,

Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen

In der Finsternis Beschattung,

Und dich reißet neu Verlangen

Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,

kommst geflogen und gebannt,

Und zuletzt, des Lichts begierig,

Bist Du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,

Dieses: Stirb und werde!

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Johann Wolfgang Goethe

 

 

 

Ich glaube, daß wir einen Funken jenes ewigen Lichtes in uns tragen, das lm Grunde des Seins leuchten muß und das unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können. Diesen Funken zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.

Johann Wolfgang Goethe

 

 

 

Freund, so du etwas bist,

so bleib doch ja nicht stehn,

Man muß aus einem Licht

fort in das andere gehn.

Der Punkt der Seligkeit

besteht in dem allein:

Daß man muß wesentlich

aus Gott geboren sein.

O Wesen, dem nichts gleicht.

Gott ist ganz außer mir,

und innen mir auch ganz,

ganz dort und auch ganz hier.

Wird Christus tausendmal

zu Bethlehem geboren

und nicht in dir:

du bleibst noch ewiglich verloren.

Angelus Silesius

 

 

 

Ich trage in meinem Herzen nicht erst

Buchstaben zusammen aus vielen

Büchern, sondern ich habe den Buch-

staben in mir. Liegt doch Himmel

und Erden mit allem Wesen, dazu

Gott selbst, lm Menschen.

Jakob Böhme

 

 

 

Der Jünger fragte den Meister:

Wo fähret die Seele denn hin,

wann der Leib stirbt,

sie sei selig oder finster?

Der Meister sprach:

Sie bedarf keines Ausfahrens;

das äußerliche, tödliche Leben

samt dem Leibe

scheiden sich nur von ihr.

Sie hat Himmel oder Hölle

zuvor in sich. Welches in ihr

offenbar wird,

entweder der Himmel oder die Hölle,

darinnen stehet sie.

Jakob Böhme

 

 

 

Nicht kann auch

aus Gottes Hand fallen,

wer (sogar) außerhalb seiner selbst

und aller Kreatur fällt,

die doch Gottes Hand

von allen Seiten umfaßt.

Stürze also durch die Welt,

wohin stürzest du?

Doch nur in die Hand

und an die Brust Gottes.

Martin Luther

 

 

 

Was du suchst,

ist das, was sucht.

Franz von Assisi

 

 

 

Die Seele ist geschaffen an einem Ort

zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit,

in die beide sie hineinragt.

Mit ihren höchsten Kräften

rührt sie an die Ewigkeit,

aber mit ihren untersten Kräften

berührt sie die Zeitlichkeit.

Seht, so wirkt sie in der Zeit

nicht nach der Zeitlichkeit,

sondern nach der Ewigkeit,

die sie mit den Engeln gemein hat.

In zeitlichen Dingen kann der

Heilige Geist nicht ausgeteilt werden.

Wenn sich aber der Mensch abkehrt

von zeitlichen Dingen

und zurück in sich selbst wendet,

da nimmt er ein himmlisches Licht wahr,

das von den Himmeln gekommen ist.

Niemand kann den rechten Weg gehen,

wenn er nicht früher lm Lichte

der Betrachtung gesessen hat,

wo er gelernt hat,

die rechten Wege zu finden;

denn alle unsere Werke

müssen licht sein und sollen unserem

Nächsten in der Dunkelheit leuchten.

Meister Eckhart

 

 

 

Du magst es beschreiben,

also vergeblich.

Male es, es hat keinen Wert.

Wenn die Welt zusammenstürzt,

'Es" ist unzerstörbar.

Zen

 

Vorwort - Loccum - Einkehr Stille Gebet - Wer bin ich - Der Tag - Das Jahr - Ich und die anderen - Ich und die Welt - Mein Glaube - Unser Leid unsere Hoffnung - Quellenangaben

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