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Zu der Entdeckung der Welt fügt die Kultur der Renaissance eine noch grössere Leistung, indem sie zuerst den ganzen, vollen Gehalt des Menschen entdeckt und zu Tage fördert1).
Zunächst entwickelt dies Weltalter, wie wir sahen, auf das Stärkste den Individualismus; dann leitet es denselben zur eifrigsten, vielseitigsten Erkenntnis des Individuellen auf allen Stufen an. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist wesentlich an das Erkennen derselben bei sich und andern gebunden. Zwischen beide grosse Erscheinungen hinein haben wir die Einwirkung der antiken Literatur deshalb versetzen müssen, weil die Art des Erkennens und Schilderns des Individuellen wie des allgemein Menschlichen wesentlich durch dieses Medium gefärbt und bestimmt wird. Die Kraft des Erkennens aber lag in der Zeit und in der Nation.
Die beweisenden Phänomene, auf welche wir uns berufen, werden wenige sein. Wenn irgendwo im Verlauf dieser Darstellung, so hat der Verfasser hier das Gefühl, dass er das bedenkliche Gebiet der Ahnung betreten hat und dass, was ihm als zarter, doch deutlicher Farbenübergang in der geistigen Geschichte des 14. und 15. Jahrhunderts vor Augen schwebt, von andern doch schwerlich mag als Tatsache anerkannt werden. Dieses allmähliche Durchsichtigwerden einer Volksseele ist eine Erscheinung, welche jedem Beschauer anders vorkommen mag. Die Zeit wird sichten und richten.
Glücklicherweise begann die Erkenntnis des geistigen Wesens des Menschen nicht mit dem Grübeln nach einer theoretischen Psychologie - denn dafür genügte Aristoteles -, sondern mit der Gabe der Beobachtung und der Schilderung. Der unerlässliche theoretische Ballast beschränkt sich auf die Lehre von den vier Temperamenten in ihrer damals üblichen Verbindung mit dem Dogma vom Einfluss der Planeten. Diese starren Elemente behaupten sich als unauflöslich seit unvordenklichen Zeiten in der Beurteilung der Einzelmenschen, ohne weiter dem grossen allgemeinen Fortschritt Schaden zu tun. Freilich nimmt es sich sonderbar aus, wenn damit manövriert wird in einer Zeit, da bereits nicht nur die exakte Schilderung, sondern auch eine unvergängliche Kunst und Poesie den vollständigen Menschen in seinem tiefsten Wesen wie in seinen charakteristischen Aeusserlichkeiten darzustellen vermochten. Fast komisch lautet es, wenn ein sonst tüchtiger Beobachter Clemens VII. zwar für melancholischen Temperamentes hält, sein Urteil aber demjenigen der Aerzte unterordnet, welche in dem Papste eher ein sanguinisch-cholerisches Temperament erkennen2). Oder wenn wir erfahren, dass derselbe Gaston de Foix, der Sieger von Ravenna, welchen Giorgione malte und Bambaja meisselte, und welchen alle Historiker schildern, ein saturnisches Gemüt gehabt habe3). Freilich wollen die, welche solches melden, damit etwas sehr Bestimmtes bezeichnen; wunderlich und überlebt erscheinen nur die Kategorien, durch welche sie ihre Meinung ausdrücken.
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