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Venedig erkannte sich selbst als eine wunderbare, geheimnisvolle Schöpfung, in welcher noch etwas anderes als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen. Es gab einen Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am 25. März 413 um Mittag hätten die Uebersiedler aus Padua den Grundstein gelegt am Rialto, damit eine unangreifbare, heilige Freistätte sei in dem von den Barbaren zerrissenen Italien. Spätere haben in die Seele dieser Gründer alle Ahnungen der künftigen Grösse hineingelegt; M. Antonio Sabellico, der das Ereignis in prächtig strömenden Hexametern gefeiert hat, lässt den Priester, der die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: »Wenn wir einst Grosses wagen, dann gib Gedeihen! Jetzt knien wir nur vor einem armen Altar, aber wenn unsere Gelübde nicht umsonst sind, so steigen Dir, o Gott, hier einst hundert Tempel von Marmor und Gold empor!«1) - Die Inselstadt selbst erschien zu Ende des 15. Jahrhunderts wie das Schmuckkästchen der damaligen Welt.
Derselbe Sabellico schildert sie als solches2) mit ihren uralten Kuppelkirchen, schiefen Türmen, inkrustierten Marmorfassaden, mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken und die Vermietung jedes Winkels sich miteinander vertrugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor S. Giacometto am Rialto, wo die Geschäfte einer Welt sich nicht durch lautes Reden oder Schreien, sondern nur durch ein vielstimmiges Summen verraten, wo in den Portiken3) ringsum und in denen der anstossenden Gassen die Wechsler und die Hunderte von Goldschmieden sitzen, über ihren Häuptern Läden und Magazine ohne Ende, jenseits von der Brücke beschreibt er den grossen Fondaco der Deutschen, in dessen Hallen ihre Waren und ihre Leute wohnen, und vor welchem stets Schiff an Schiff im Kanal liegt; von da weiter aufwärts die Wein- und Oelflotte und parallel damit am Strande, wo es von Facchinen wimmelt, die Gewölbe der Händler; dann vom Rialto bis auf den Marcusplatz die Parfümeriebuden und Wirtshäuser. So geleitet er den Leser von Quartier zu Quartier bis hinaus zu den beiden Lazaretten, welche mit zu den Instituten hoher Zweckmässigkeit gehörten, die man nur hier so ausgebildet vorfand. Fürsorge für die Leute war überhaupt ein Kennzeichen der Venezianer, im Frieden wie im Kriege, wo ihre Verpflegung der Verwundeten, selbst der feindlichen, für andere ein Gegenstand des Erstaunens war4).
Was irgend öffentliche Anstalt hiess, konnte in Venedig sein Muster finden; auch das Pensionswesen wurde systematisch gehandhabt, sogar in betreff der Hinterlassenen. Reichtum, politische Sicherheit und Weltkenntnis hatten hier das Nachdenken über solche Dinge gereift. Diese schlanken, blonden5) Leute mit dem leisen, bedächtigen Schritt und der besonnenen Rede unterschieden sich in Tracht und Auftreten nur wenig voneinander; den Putz, besonders Perlen, hingen sie ihren Frauen und Mädchen an. Damals war das allgemeine Gedeihen, trotz grosser Verluste durch die Türken, noch wahrhaft glänzend; aber die aufgesammelte Energie und das allgemeine Vorurteil Europas genügten auch später noch, um Venedig selbst die schwersten Schläge lange überdauern zu lassen: die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, den Sturz der Mameluckenherrschaft von Aegypten und den Krieg der Liga von Cambray. Sabellico, der aus der Gegend von Tivoli gebürtig und an das ungenierte Redewerk der damaligen Philologen gewöhnt war, bemerkt an einem andern Orte6) mit einigem Erstaunen, dass die jungen Nobili, welche seine Morgenvorlesungen hörten, sich gar nicht auf das Politisieren mit ihm einlassen wollten: »Wenn ich sie frage, was die Leute von dieser oder jener Bewegung in Italien dächten, sprächen und erwarteten, antworten sie mir alle mit Einer Stimme, sie wüssten nichts.« Man konnte aber von dem demoralisierten Teil des Adels trotz aller Staatsinquisition mancherlei erfahren, nur nicht so wohlfeilen Kaufes. Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts gab es Verräter in den höchsten Behörden7); die Päpste, die italienischen Fürsten, ja ganz mittelmässige Condottieren im Dienst der Republik hatten ihre Zuträger, zum Teil mit regelmäßiger Besoldung; es war so weit gekommen, dass der Rat der Zehn für gut fand, dem Rat der Pregadi wichtigere politische Nachrichten zu verbergen, ja man nahm an, dass Lodovico Moro in den Pregadi über eine ganz bestimmte Stimmenzahl verfüge.
Ob das nächtliche Aufhenken einzelner Schuldigen und die hohe Belohnung der Angeber (z. B. sechzig Dukaten lebenslängliche Pension) viel fruchteten, ist schwer zu sagen; eine Hauptursache, die Armut vieler Nobili, liess sich nicht plötzlich beseitigen. Im Jahr 1492 betrieben zwei Nobili einen Vorschlag, der Staat solle jährlich 70 000 Dukaten zur Vertröstung derjenigen armen Adligen auswerfen, welche kein Amt hätten; die Sache war nahe daran, vor den grossen Rat zu kommen, wo sie eine Majorität hätte erhalten können - als der Rat der Zehn noch zu rechter Zeit eingriff und die beiden auf Lebenszeit nach Nicosia auf Cypern verbannte8). Um diese Zeit wurde ein Soranzo auswärts als Kirchenräuber gehenkt, und ein Contarini wegen Einbruchs in Ketten gelegt; ein anderer von derselben Familie trat 1499 vor die Signorie und jammerte, er sei seit vielen Jahren ohne Amt, habe nur 16 Dukaten Einkünfte und 9 Kinder, dazu 60 Dukaten Schulden, verstehe kein Geschäft und sei neulich auf die Gasse gesetzt worden. Man begreift, daß einzelne reiche Nobili Häuser bauten, um die armen darin gratis wohnen zu lassen. Der Häuserbau um Gottes willen, selbst in ganzen Reihen, kommt in Testamenten als gutes Werk vor9).
Wenn die Feinde Venedigs auf Uebelstände dieser Art jemals ernstliche Hoffnungen gründeten, so irrten sie sich gleichwohl. Man könnte glauben, daß schon der Schwung des Handels, der auch dem Geringsten einen reichlichen Gewinn der Arbeit sicherte, dass die Kolonien im östlichen Mittelmeer die gefährlichen Kräfte von der Politik abgelenkt haben möchten. Hat aber nicht Genua, trotz ähnlicher Vorteile, die sturmvollste politische Geschichte gehabt? Der Grund von Venedigs Unerschütterlichkeit liegt eher in einem Zusammenwirken von Umständen, die sich sonst nirgends vereinigten. Unangreifbar als Stadt, hatte es sich von jeher der auswärtigen Verhältnisse nur mit der kühlsten Ueberlegung angenommen, das Parteiwesen des übrigen Italiens fast ignoriert, seine Allianzen nur für vorübergehende Zwecke und um möglichst hohen Preis geschlossen. Der Grundton des venezianischen Gemütes war daher der einer stolzen, ja verachtungsvollen Isolierung und folgerichtig einer stärkern Solidarität im Innern, wozu der Hass des ganzen übrigen Italiens noch das Seine tat. In der Stadt selbst hatten dann alle Einwohner die stärksten gemeinschaftlichen Interessen gegenüber den Kolonien sowohl als den Besitzungen der Terraferma, indem die Bevölkerung der letztern (d. h. der Städte bis Bergamo) nur in Venedig kaufen und verkaufen durfte. Ein so künstlicher Vorteil konnte nur durch Ruhe und Eintracht im Innern aufrechterhalten werden - das fühlte gewiss die übergrosse Mehrzahl, und für Verschwörer war schon deshalb hier ein schlechter Boden. Und wenn es Unzufriedene gab, so wurden sie durch die Trennung in Adlige und Bürger auf eine Weise auseinandergehalten, die jede Annäherung sehr erschwerte. Innerhalb des Adels aber war den möglicherweise Gefährlichen, nämlich den Reichen, eine Hauptquelle aller Verschwörungen, der Müssiggang, abgeschnitten durch ihre grossen Handelsgeschäfte und Reisen und durch die Teilnahme an den stets wiederkehrenden Türkenkriegen. Die Kommandanten schonten sie dabei, ja bisweilen in strafbarer Weise, und ein venezianischer Cato weissagte den Untergang der Macht, wenn diese Scheu der Nobili, einander irgend wehe zu tun, auf Unkosten der Gerechtigkeit fortdauern würde10).
Immerhin aber gab dieser grosse Verkehr in der freien Luft dem Adel von Venedig eine gesunde Richtung im ganzen. Und wenn Neid und Ehrgeiz durchaus einmal Genugtuung begehrten, so gab es ein offizielles Opfer, eine Behörde und legale Mittel. Die vieljährige moralische Marter, welcher der Doge Francesco Foscari (+ 1457) vor den Augen von ganz Venedig unterlag, ist vielleicht das schrecklichste Beispiel dieser nur in Aristokratien möglichen Rache. Der Rat der Zehn, welcher in alles eingriff, ein unbedingtes Recht über Leben und Tod, über Kassen und Armeebefehl besass, die Inquisitoren in sich enthielt, und den Foscari wie so manchen Mächtigen stürzte, dieser Rat der Zehn wurde alljährlich von der ganzen regierenden Kaste, dem gran consiglio, neu gewählt, und war somit der unmittelbarste Ausdruck derselben. Grosse Intrigen mögen bei diesen Wahlen kaum vorgekommen sein, da die kurze Dauer und die spätere Verantwortlichkeit das Amt nicht sehr begehrenswert machten. Allein vor diesen und andern venezianischen Behörden, mochte ihr Tun noch so unterirdisch und gewaltsam sein, flüchtete sich doch der echte Venezianer nicht, sondern er stellte sich; nicht nur weil die Republik lange Arme hatte und statt seiner die Familie plagen konnte, sondern weil in den meisten Fällen wenigstens nach Gründen und nicht aus Blutdurst verfahren wurde11). Ueberhaupt hat wohl kein Staat jemals eine grössere moralische Macht über seine Angehörigen in der Ferne ausgeübt. Wenn es z. B. Verräter in den Pregadi gab, so wurde dies reichlich dadurch aufgewogen, dass jeder Venezianer in der Fremde ein geborner Kundschafter für seine Regierung war. Von den venezianischen Kardinälen in Rom verstand es sich von selbst, dass sie die Verhandlungen der geheimen päpstlichen Konsistorien nach Hause meldeten. Kardinal Domenico Grimani liess in der Nähe von Rom (1500) die Depeschen wegfangen, welche Ascanio Sforza an seinen Bruder Lodovico Moro absandte, und schickte sie nach Venedig; sein eben damals schwer angeklagter Vater machte dies Verdienst des Sohnes öffentlich vor dem gran consiglio, d. h. vor der ganzen Welt geltend12).
Wie Venedig seine Condottieren hielt, ist oben (S. 48) angeordnet worden. Wenn es noch irgendeine besondere Garantie ihrer Treue suchen wollte, so fand es sie etwa in ihrer grossen Anzahl, welche den Verrat ebensosehr erschweren, als dessen Entdeckung erleichtern musste. Beim Anblick venezianischer Armeerollen fragt man sich nur, wie bei so bunt zusammengesetzten Scharen eine gemeinsame Aktion möglich gewesen? In derjenigen des Krieges von 1495 figurieren13) 15 526 Pferde in lauter kleinen Posten; nur der Gonzaga von Mantua hatte davon 1200, Gioffredo Borgia 740; dann folgen sechs Anführer mit 700-600, zehn mit 400, zwölf mit 400-200, etwa vierzehn mit 200-100, neun mit 80, sechs mit 60-50 usw. Es sind teils alte venezianische Truppenkörper, teils solche unter venezianischen Stadtadligen und Landadligen, die meisten Anführer aber sind italienische Fürsten und Stadthäupter oder Verwandte von solchen. Dazu kommen 24 000 Mann Infanterie, über deren Beischaffung und Führung nichts bemerkt wird, nebst weitern 3 300 Mann wahrscheinlich besonderer Waffengattungen. Im Frieden waren die Städte der Terraferma gar nicht oder mit unglaublich geringen Garnisonen besetzt. Venedig verliess sich nicht gerade auf die Pietät, wohl aber auf die Einsicht seiner Untertanen; beim Kriege der Liga von Cambray (1509) sprach es sie bekanntlich vom Treueid los und liess es darauf ankommen, daß sie die Annehmlichkeiten einer feindlichen Okkupation mit seiner milden Herrschaft vergleichen würden; da sie nicht mit Verrat von S. Marcus abzufallen nötig gehabt hatten und also keine Strafe zu fürchten brauchten, kehrten sie mit dem grössten Eifer wieder unter die gewohnte Herrschaft zurück. Dieser Krieg war, beiläufig gesagt, das Resultat eines hundertjährigen Geschreies über die Vergrösserungssucht Venedigs. Letzteres beging bisweilen den Fehler allzu kluger Leute, welche auch ihren Gegnern keine nach ihrer Ansicht törichten, rechnungswidrigen Streiche zutrauen wollen14). In diesem Optimismus, der vielleicht den Aristokratien am ehesten eigen ist, hatte man einst die Rüstungen Mohammeds II. zur Einnahme von Konstantinopel, ja die Vorbereitungen zum Zuge Karls VIII. völlig ignoriert, bis das Unerwartete doch geschah15). Ein solches Ereignis war nun auch die Liga von Cambray, insofern sie dem klaren Interesse der Hauptanstifter, Ludwigs XII. und Julius II., entgegenlief. Im Papst war aber der alte Hass von ganz Italien gegen die erobernden Venezianer aufgesammelt, so dass er über den Einmarsch der Fremden die Augen schloss, und was die auf Italien bezügliche Politik des Kardinals Amboise und seines Königs betraf, so hätte Venedig deren bösartigen Blödsinn schon lange als solchen erkennen und fürchten sollen. Die meisten übrigen nahmen an der Liga teil aus jenem Neid, der dem Reichtum und der Macht als nützliche Zuchtrute gesetzt, an sich aber ein ganz jämmerliches Ding ist. Venedig zog sich mit Ehren, aber doch nicht ohne bleibenden Schaden aus dem Kampfe. Eine Macht, deren Grundlagen so kompliziert, deren Tätigkeit und Interessen auf einen so weiten Schauplatz ausgedehnt waren, liesse sich gar nicht denken ohne eine grossartige Uebersicht des Ganzen, ohne eine beständige Bilanz der Kräfte und Lasten, der Zunahme und Abnahme. Venedig möchte sich wohl als den Geburtsort der modernen Statistik geltend machen dürfen, mit ihm vielleicht Florenz, und in zweiter Linie die entwickeltern italienischen Fürstentümer. Der Lehnsstaat des Mittelalters bringt höchstens Gesamtverzeichnisse der fürstlichen Rechte und Nutzbarkeiten (Urbarien) hervor; er fasst die Produktion als eine stehende auf, was sie annäherungsweise auch ist, solange es sich wesentlich um Grund und Boden handelt. Diesem gegenüber haben die Städte im ganzen Abendlande wahrscheinlich von frühe an ihre Produktion, die sich auf Industrie und Handel bezog, als eine höchst bewegliche erkannt und danach behandelt, allein es blieb - selbst in den Blütezeiten der Hansa - bei einer einseitig kommerziellen Bilanz. Flotten, Heere, politischer Druck und Einfluss kamen einfach unter das Soll und Haben eines kaufmännischen Hauptbuches zu stehen. Erst in den italienischen Staaten vereinigen sich die Konsequenzen einer völligen politischen Bewusstheit, das Vorbild mohammedanischer Administration und ein uralter starker Betrieb der Produktion und des Handels selbst, um eine wahre Statistik zu begründen16). Der unteritalische Zwangsstaat Kaiser Friedrichs II. (S. 29 f.) war einseitig auf Konzentration der Macht zum Zwecke eines Kampfes um Sein oder Nichtsein organisiert gewesen. In Venedig dagegen sind die letzten Zwecke Genuss der Macht und des Lebens, Weiterbildung des von den Vorfahren Ererbten, Ansammlung der gewinnreichsten Industrien und Eröffnung stets neuer Absatzwege. Die Autoren sprechen sich über diese Dinge mit grösster Unbefangenheit aus17). Wir erfahren, daß die Bevölkerung der Stadt im Jahr 1422 190 000 Seelen betrug; vielleicht hat man in Italien am frühsten angefangen, nicht mehr nach Feuerherden, nach Waffenfähigen, nach solchen, die auf eigenen Beinen gehen konnten u. dgl., sondern nach anime zu zählen und darin die neutralste Basis aller weitern Berechnungen anzuerkennen. Als die Florentiner um dieselbe Zeit ein Bündnis mit Venedig gegen Filippo Maria Visconti wünschten, wies man sie einstweilen ab, in der klaren, hier durch genaue Handelsbilanz belegten Ueberzeugung, dass jeder Krieg zwischen Mailand und Venedig, d. h. zwischen Abnehmer und Verkäufer, eine Torheit sei. Schon wenn der Herzog nur sein Heer vermehre, so werde das Herzogtum wegen sofortiger Erhöhung der Steuern ein schlechterer Konsument. »Besser man lasse die Florentiner unterliegen, dann siedeln sie, des freistädtischen Lebens gewohnt, zu uns über und bringen ihre Seiden- und Wollenweberei mit, wie die bedrängten Lucchesen getan haben.« Das Merkwürdigste aber ist die Rede des sterbenden Dogen Mocenigo (1423) an einige Senatoren, die er vor sein Bett kommen liess18). Sie enthält die wichtigsten Elemente einer Statistik der gesamten Kraft und Habe Venedigs. Ich weiss nicht, ob und wo eine gründliche Erläuterung dieses schwierigen Aktenstückes existiert; nur als Kuriosität mag folgendes angeführt werden. Nach geschehener Abzahlung von 4 Millionen Dukaten eines Kriegsanlehens betrug die Staatsschuld (il monte) damals noch 6 Millionen Dukaten. Der Gesamtumlauf des Handels (wie es scheint) betrug 10 Millionen, welche 4 Millionen abwarfen. (So heisst es im Text.) Auf 3000 Navigli, 300 Navi und 45 Galere fuhren 17 000, resp. 8000 und 11 000 Seeleute. (Ueber 200 Mann per Galera.) Dazu kamen 16 000 Schiffszimmerleute. Die Häuser von Venedig hatten 7 Millionen Schätzungswert und trugen an Miete eine halbe Million ein19). Es gab 1000 Adlige von 70 bis 4000 Dukaten Einkommen. - An einer andern Stelle wird die ordentliche Staatseinnahme in jenem selben Jahre auf 1 100 000 Dukaten geschätzt; durch die Handelsstörungen infolge der Kriege war sie um die Mitte des Jahrhunderts auf 800 000 Dukaten gesunken20).
Wenn Venedig durch derartige Berechnungen und deren praktische Anwendung eine große Seite des modernen Staatswesens am frühsten vollkommen darstellte, so stand es dafür in derjenigen Kultur, welche man damals in Italien als das Höchste schätzte, einigermassen zurück. Es fehlt hier der literarische Trieb im allgemeinen und insbesondere jener Taumel zugunsten des klassischen Altertums21). Die Begabung zu Philosophie und Beredsamkeit, meint Sabellico, sei hier an sich so gross als die zum Handel und Staatswesen; schon 1459 legte Georg der Trapezuntier die lateinische Uebersetzung von Platos Buch über die Gesetze dem Dogen zu Füssen und wurde mit 150 Dukaten jährlich als Lehrer der Philologie angestellt, dedizierte auch der Signorie seine Rhetorik22). Durchgeht man aber die venezianische Literaturgeschichte, welche Francesco Sansovino seinem bekannten Buche23) angehängt hat, so ergeben sich für das 14. Jahrhundert fast noch lauter theologische, juridische und medizinische Fachwerke nebst Historien, und auch im 15. Jahrhundert ist der Humanismus im Verhältnis zur Bedeutung der Stadt bis auf Ermolao Barbaro und Aldo Manucci nur äusserst spärlich vertreten. Die Bibliothek, welche der Kardinal Bessarion dem Staat vermachte, wurde kaum eben vor Zerstreuung und Zerstörung geschützt. Für gelehrte Sachen hatte man ja Padua, wo freilich die Mediziner und die Juristen als Verfasser staatsrechtlicher Gutachten weit die höchsten Besoldungen hatten. Auch die Teilnahme an der italienischen Kunstdichtung ist lange Zeit eine geringe, bis dann das beginnende 16. Jahrhundert alles Versäumte nachholt. Selbst den Kunstgeist der Renaissance hat sich Venedig von aussen her zubringen lassen, und erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts sich mit voller eigener Machtfülle darin bewegt. Ja es gibt hier noch bezeichnendere geistige Zögerungen. Derselbe Staat, welcher seinen Klerus so vollkommen in der Gewalt hatte, die Besetzung aller wichtigen Stellen sich vorbehielt und der Kurie einmal über das andere Trotz bot, zeigte eine offizielle Andacht von ganz besonderer Färbung24). Heilige Leichen und andere Reliquien aus dem von den Türken eroberten Griechenland werden mit den größten Opfern erworben und vom Dogen in großer Prozession empfangen25). Für den ungenähten Rock beschloß man (1455) bis 10 000 Dukaten aufzuwenden, konnte ihn aber nicht erhalten. Es handelte sich hier nicht um eine populäre Begeisterung, sondern um einen stillen Beschluss der höhern Staatsbehörde, welcher ohne alles Aufsehen hätte unterbleiben können und in Florenz unter gleichen Umständen gewiss unterblieben wäre. Die Andacht der Massen und ihren festen Glauben an den Ablass eines Alexander VI. lassen wir ganz außer Betrachtung. Der Staat selber aber, nachdem er die Kirche mehr als anderswo absorbiert, hatte wirklich hier eine Art von geistlichem Element in sich, und das Staatssymbol, der Doge, trat bei zwölf grossen Prozessionen26) (andate) in halbgeistlicher Funktion auf. Es waren fast lauter Feste zu Ehren politischer Erinnerungen, welche mit den großen Kirchenfesten konkurrierten; das glänzendste derselben, die berühmte Vermählung mit dem Meere, jedesmal am Himmelfahrtstage.
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