Interview
mit dem Psychoanalytiker Arno Gruen über den "Wahnsinn der Normalität"
Barbara
Lukesch - Freischaffende
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Interview
mit dem Psychoanalytiker Arno Gruen über den "Wahnsinn der Normalität"
Die sechsten Basler Psychotherapietage, die vom 13. - zum 15. Mai 1999
im Kongresszentrum Messe Basel stattfinden, tragen in Anlehnung an Arno
Gruens gleichnamiges Buch den Titel "Der Wahnsinn der Normalität". Abgesehen
von dem in Zürich lebenden Psychoanalytiker, der auch den Eröffnungsvortrag
halten wird, nehmen zahlreiche Experten wie der deutsche Buchautor und
einstige TV-Moderator Franz Alt, der Regisseur und Theaterpädagoge David
Gilmore, der Theologe Eugen Drewermann und der Musiker Konstantin Wecker
an der Veranstaltung teil.
Arno
Gruen, der Titel Ihres bereits vor zehn Jahre erschienenen Buches "Der
Wahnsinn der Normalität" ist Thema und Motto der diesjährigen Basler
Therapietage. Klären wir zunächst einmal einen Begriff: Was verstehen
Sie in diesem Zusammenhang unter "Wahnsinn"?
Arno
Guen: Ich spreche nicht in einem klinischen Sinn von Wahnsinn, sondern
verstehe Wahnsinn im Sinne von Unmenschlichkeit, die allerdings nicht
als solche erkannt wird und gerade deshalb viele Menschen zerstört.
Denken Sie an all jene Menschen in unserer Kultur der Grösse und des
Besitzes, die zwar ihre eigenen Gefühle des Schmerzes und Mitleids unterdrücken,
dafür aber bestens funktionieren und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen
und politischen Erfolg davontragen. Nur wer unempfindlich ist für den
Schmerz eines anderen, kann diesem auf den Kopf hauen oder ihn im täglichen
Konkurrenzkampf ausschalten.
Was
hat Sie seinerzeit veranlasst, den "Wahnsinn der Normalität" zu schreiben?
Gruen:
Das ist ein Thema, das mich schon immer beschäftigt hat. Ich wollte
immer schon herausfinden, was die Menschen bewegt beziehungsweise zu
dem werden lässt, was sie sind. Auf diesem Weg hat mich insbesondere
Huxleys utopischer Roman "Brave New World" beeinflusst. Freud war für
mich natürlich bedeutend, weil ich in ihm einen Denker sah, der in die
Tiefe geht und uns die Kindheit zurückbringt.
Warum
nehmen sich die Basler Psychotherapietage ausgerechnet dieses Jahr des
"Wahnsinns der Normalität" an?
Gruen:
Das hat mich selber eigentlich auch erstaunt. Ich vermute, dass die
Gedanken, die ich in meinem Buch vertrete, mehr und mehr Fuss gefasst
haben, dass mehr Leute sie an sich herankommen lassen, während sie in
früheren Jahren vor allem Abwehr und auch Wut ausgelöst haben.
Das
Buch wurde zum Bestseller, und trotzdem hat keine einzige grosse Zeitung
es je besprochen.
Gruen:
Da sehen Sie, wie gross die Abwehr war. Das Buch weckt eben wirklich
Aengste.
Gut
möglich. Schliesslich lautet Ihre Grundaussage ja auch: "Während jene
als verrückt gelten, die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr
ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen
Wurzeln getrennt haben." Ueberspitzt gesagt: Die Realitätstauglichen,
Pflichtbewussten gehören eigentlich zum Psychiater, während die sogenannt
"Verrückten" die letzten empfindsamen Menschen sind.
Gruen:
Ich stelle mithin die Werteskala unserer Gesellschaft auf den Kopf,
und das ist tatsächlich etwas sehr Beunruhigendes.
Sprechen
wir über den Wahnsinn unserer Zeit. Vor kurzem töteten zwei Jugendliche
in den USA offenbar lachend dreizehn Menschen...
Gruen:
...und die US-Waffenlobby besteht darauf, dass das Gesetz, das den Waffenerwerb
Jugendlicher regelt, unverändert bleibt. Das ist verrückt, aber niemand
kommt dagegen an. Nicht einmal Clinton hat es geschafft, das Gesetz
zu verschärfen.
Das
ist wirklich eine Bankrotterklärung. Da werden dreizehn Unschuldige
niedergemäht und uns bleibt nichts anderes übrig als zu konstatieren:
Keiner kommt dagegen an.
Gruen:
Kommen wir denn dagegen an, was in Serbien und im Kosovo vor sich geht?
Oder was in Tschetschenien und Ruanda geschah? Oder gegen die Auswüchse
des Fremdenhasses?
Sind
die Menschen heute mehr als frühere Generationen von ihren echten, authentischen
Gefühlen abgeschnitten?
Gruen:
Das frage ich mich sehr oft. Wenn man sieht, dass immer mehr Jugendliche,
ja, Kinder zu extremer Gewalt greifen, muss man diese Frage wohl bejahen.
In unserer Konsumgesellschaft lernen Kinder eben schon sehr früh, ihren
persönlichen Wert in den Dingen, die sie kaufen, zu finden. Kein Wunder,
werden für Uhren und Turnschuhe Morde begangen.
Wie
verliert ein Mensch den Kontakt zu seinen emotionalen Wurzeln?
Gruen:
Wer als Kind keine wirkliche Liebe erfahren hat, ist am radikalsten
von dem, was er als Mensch hätte werden können, abgeschnitten. Das fängt
damit an, dass Eltern - selber im Konsumzwang gefangen - nicht angemessen
auf ihre Kinder eingehen können. Es ist Terror, wenn ein Säugling stundenlang
schreit und trotzdem weggesperrt wird, nur damit seine Eltern ihre Ruhe
haben. Weil solcher Schmerz auf Dauer unerträglich ist, nabelt sich
ein Mensch mit der Zeit von all seinen Gefühlen ab.
Und
die Konsequenzen?
Gruen:
Lassen Sie mich Ihnen ein extremes Beispiel erzählen. Während meiner
Arbeit in dem englischen Psychiatrie-Gefängnis Broadmoore, in dem psychotische
Mörder und Mörderinnen einsitzen, schilderte mir einst ein Insasse seine
Kindheitsgeschichte. Völlig kalt und ohne jede Erinnerung an den Schmerz
erzählte er, dass seine Mutter ihn im Alter von drei Jahren mit kochendem
Wasser übergossen hatte. Das war ein emotional toter Mensch, der so
abgeschnitten von seinem eigenen Leid war, dass er schliesslich andere
töten musste, um überhaupt wieder so etwas wie Leben zu spüren. Im Grunde
genommen haben wir es in all diesen Fällen mit Menschen zu tun, die
eigentlich sich selber hassen, aber ihren Hass nach aussen verlagert
haben. Sie benötigen Feinde beziehungsweise Opfer, um sich selber überhaupt
wahrnehmen zu können.
Gibt
es denn überhaupt therapeutische Hilfe für solche Menschen?
Gruen:
Der englische Psychiater und Psychoanalytiker Murray Cox, der jahrelang
in Broadmoore arbeitete, fand einen interessanten Weg. Er liess schwerste
Gewaltverbrecher in Dramen von Shakespeare, die voller Leid, Hass, Schmerz
und Aggressionen sind, mitspielen. Was passierte? Die Mörder empfanden
beim Ausagieren ihrer Rollen plötzlich Gefühle: Schmerz, Mitleid, Trauer.
Der Beweis für die Echtheit ihrer Gefühle war, dass etliche als erstes
versuchten, sich selber umzubringen. Zum erstenmal erlebten sie den
Schmerz ihrer Opfer und dadurch auch ihren eigenen.
Kehren
wir vom Rand unserer Gesellschaft zurück und sprechen beispielsweise
über jene Topmanager, die lächelnd, zuvorkommend und hochanerkannt ihren
Job machen, der nicht selten darin besteht, kaltschnäuzig ihre Konkurrenten
auszustechen...
Gruen:
... und - wie es so schön heisst - über Leichen zu gehen. Lesen Sie
das Buch des ehemaligen VW-Spitzenmanagers Daniel Goeudevert "Wie ein
Vogel im Aquarium". Darin werden zwar keine Mörder beschrieben, aber
gefühlskalte, machtgierige Menschen, die im Namen der Sachzwänge und
für ihren Erfolg nahezu alles tun. Auch sie sind abgeschnitten von ihrer
Fähigkeit, Schmerz, Mitleid, aber auch grosse Freude zu empfinden.
Gehen
wir noch einen Schritt weiter in Sachen alltäglicher Wahnsinn. Jahr
für Jahr nimmt unsere Gesellschaft die Zahl der Verkehrstoten stoisch,
unberührt und ohne grosse Empörung zur Kenntnis. Nach dem Absturz der
Swissair-Maschine hingegen bricht eine nationale Tragödie aus. Da stimmt
doch auch etwas mit unseren Gefühlen nicht.
Gruen:
...oder denken Sie an die Reaktionen beim Tod von Lady Diana. Die
ganze Welt hat geweint. Hier haben wir uns einen Schmerz zugestanden,
aber nichts Vergleichbares passierte angesichts des Tötens in Ruanda,
in Tschetschenien - und jetzt im Kosovo.
Schmerz
welcher Art ist das?
Gruen:
Ich denke, das ist jener Schmerz, der aus der frühen Beziehung mit unseren
Eltern resultiert, aus den Versagungen, Enttäuschungen, Abwertungen,
Kränkungen. Ich erinnere mich an eine Szene, die ich auf der Eisbahn
Dolder beobachtet habe. Ein kleines Mädchen fällt hin, hat eine kleine
Wunde am Knie und dreckige Strumpfhosen. Sie weint. Was machen ihre
Eltern? Sie befehlen ihr, sofort heimzugehen. Jede Schimpansenmutter
hätte ihr Junges auf den Arm genommen und es getröstet.
Menscheneltern
sind also Rabeneltern.
Gruen:
Nein. Sie sind nicht böse, sondern geben einfach das weiter, was ihnen
selber angetan wurde, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein Kind weint.
Als wir selber früher weinten, wurden wir angeschnauzt und zum Schweigen
gebracht. Nun tun wir dasselbe mit unserem Kind: Hör auf. Sei still.
Denn das weinende Kind erinnert uns an unsere eigenen alten ungestillten
Bedürfnisse nach Trost oder Schutz, und mit denen wollen wir nicht konfrontiert
werden. Das wäre viel zu schmerzhaft.
Sie
sind also davon überzeugt, dass uns unsere frühesten Kindheitserfahrungen
ein Leben lang verfolgen können?
Gruen:
Sofern es nicht gelingt, sie uns bewusst zu machen und damit diesen
Teufelskreis zu durchbrechen. Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel. Eine
meiner Studentinnen arbeitete als Sozialarbeiterin mit albanischen Jugendlichen.
Sie erzählte mir, dass etliche von diesen eines Tages unmissverständlich
gefordert hätten: "Ich will eine Lehrstelle", woraufhin plötzlich sehr
fremdenfeindliche Gedanken und Gefühle in ihr aufgestiegen seien: "Was
meinen diese Albaner eigentlich?" habe sie sich gefragt. In unserem
Gespräch erinnerte sie sich dann daran, dass sie selber als Kind nie
"ich will", sondern höchstens "ich möchte" sagen durfte. Für "ich will"
wurde sie bestraft. Nun erkannte sie, dass sie die Albaner dafür hasste,
dass sie sie mit ihrem direkten "Ich will" an ihre eigenen seinerzeit
unterdrückten und bestraften Wünsche erinnerte.
Unsere
Generation ist so gut informiert wie keine vor ihr. Wir kennen die Risiken
und Gefahren des "Rüstungswahnsinns" oder des "Wahnsinns der Umweltzerstörung"
und steuern dennoch, sehenden Auges sozusagen, auf die Katastrophe zu.
Das ist doch verrückt.
Gruen:
Wir sind zwar informiert über die Folgen all des Wahnsinns, haben
in der Schule Zahlen und Fakten gelernt, aber das allein reicht nicht.
Wir müssen auch bereit sein, die Gefahren innerlich wahrzunehmen und
zu erkennen. Aber davor haben wir Angst. Denken Sie doch nur daran,
wie auf Menschen reagiert wird, die es wagen, öffentlich aufzustehen
und uns zu warnen. Die werden lächerlich gemacht, als "Nestbeschmutzer",
"Querulanten" oder "Verrückte" abqualifiziert. Da heisst es schnell:
"Mach keis Büro auf". Nein, viele von uns haben sich eingerichtet in
ihrer "freiwilligen Knechtschaft", wie bereits 1550 ein französischer
Denker diese Haltung bezeichnete. Nur ein Drittel der Schweizer und
Schweizerinnen geht ja überhaupt noch abstimmen. Warum? Fühlen sich
die anderen ohnmächtig, gleichgültig oder sind sie bereits völlig distanziert
gegenüber dem Gemeinwesen?
Sie
glauben also nicht an den Widerstandswillen der Menschen?
Gruen:
Viele Menschen haben Angst, gegen die Autoritäten aufzustehen. Wir wollen
ja auch gar nicht wissen, was mit uns geschieht, denn dann müssten wir
uns ja stellen. Und das können viele nicht, weil sie so früh eingeschüchtert
wurden.
Der
Leidensdruck, der auf vielen lastet, ist aber immerhin schon so gross,
dass Workshops, esoterische Zirkel, aber auch Sekten regen Zuspruch
finden.
Gruen:
Es zeigt immerhin, dass die Menschen auf der Suche nach Alternativen
sind.
Was
müsste denn - Ihrer Einschätzung nach - passieren, damit ein tiefgreifendes
Umdenken stattfinden kann und sich die Menschen nicht länger mit den
Formeln von "Realpolitik", vermeintlichem "Fortschritt" und "Sachzwängen"
abspeisen lassen?
Gruen:
Ich denke, dass das ein langwieriger Prozess ist, der voraussetzen würde,
dass die Menschen keine Angst zu haben bräuchten, wenn ihr Herz ihnen
sagt, einfühlsam und mitfühlend zu sein. Dieser Prozess würde Mut, Energie,
Aufmerksamkeit, Zeit beanspruchen.
Wer
hat denn heute noch Zeit?
Gruen:
Es müssen sich aber mehr Menschen Zeit dafür nehmen, öffentlich einander
Mut zu machen und wieder die "Sprache des Herzens" zu sprechen. Das
ist unsere einzige Chance.
Wo
sind diese Menschen?
Gruen:
Es gibt sie. Wer als Kind echte Zuwendung erfährt, und das kann unter
ärmsten Verhältnissen passieren, verfügt über die besondere Stärke,
die es braucht, um seinen Mitmenschen mit Empathie und Mitgefühl zu
begegnen. Verschiedene Studien belegen, dass es im Vietnamkrieg um die
zwanzig Prozent Menschen gab, die niemals an den Gemetzeln gegen den
Feind teilgenommen haben. Da ist jenes Fundament von Menschen, das mit
sich und seinen Gefühlen verbunden ist. Das muss dauernd von uns allen
angesprochen werden. Das ist Arbeit. Aber sie muss getan werden, auch
wenn die Gegenseite, also die Mächtigen unserer Welt, den öffentlichen
Diskurs beherrschen.
Eine
letzte Frage aus aktuellem Anlass. Im "Wahnsinn der Normalität" beschreiben
Sie den ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon als kalten menschenverachtenden
Machtmenschen, der abgeschnitten von seinen emotionalen Wurzeln ist.
Wie würden Sie im Vergleich zu ihm Bill Clinton charakterisieren?
Gruen:
Er ist genauso kalt und menschenverachtend, aber in Sachen Imagepflege
noch viel cleverer als Nixon.
Das
müssen Sie erklären.
Gruen:
Als Clinton noch Gouverneur von Arkansas war, musste er als letzte
Instanz in jenem berühmten Fall eines geistig und seelisch schwerbehinderten
Schwarzen, der wegen Mordes zum Tode verurteilt worden war, dessen Gnadengesuch
beantworten. Clinton begnadigte den Mann nicht. Wissen Sie warum? Weil
er kurz vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten durch
die demokratische Partei stand und Angst davor hatte, dass ihm eine
Begnadigung als mangelnde Stärke ausgelegt worden wäre.
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Arno
Gruen wurde am 26. Mai 1923 in Berlin geboren und starb am 20. Oktober 2015 in Zürich. Er emigrierte 1936
in die USA. Nachdem er ursprünglich Historiker und Philosoph werden
wollte, entdeckte er schliesslich in der Psychoanalyse seine wahre Berufung
und promovierte 1961 in den USA als Analytiker. Tätigkeiten an verschiedenen
Universitäten und Kliniken schlossen sich an. Zuletzt war er Professor
an der Rutgers Universität New Jersey. Seit mehr als vierzig Jahren
führt er zudem eine psychotherapeutische Privatpraxis. Sein 1984 erschienenes
Buch "Der Verrat am Selbst. Die Angst vor Autonomie bei Mann und Frau"
wurde 120'000mal verkauft. Seine letzten Bücher sind "Der Verlust des
Mitgefühls" und eine psychosomatische Studie über den plötzlichen Kindstod.
Gruen lebte seit 1979 in der Schweiz.
Facts,
12. Mai 1999, Oktober 2015 erweitert
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