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Gustav Schwab - Die schönsten Sagen des klassischen Altertums

Nachtrag
Die folgenden vierzehn Stücke hat Gotthold Klee 1881 als Herausgeber der 14. Auflage der ›Schönste Sagen des klassische Altertums‹ von Gustav Schwab ergänzend hinzugefügt.

AKTÄON

Aktäon war der Sohn des jagdliebenden Gottes Aristäos und der Autonoe, einer Tochter des Kadmos. Als er den Kinderjahren entwachsen war, ward er von dem weisen Zentauren Chiron am kühlen, waldreichen Gebirge Pelion erzogen und zu einem rüstigen Jäger gebildet. Seine höchste Lust war, in Tälern und Bergen dem Weidwerk obzuliegen. Einst jagte er mit fröhlichen Gesellen in den Wäldern des Kithairongebirges, bis die Mittagssonne heiß herniederschien und die kühlen Schatten der Bäume verkürzte. Da rief der Jüngling die Genossen zusammen und sprach: "Beute genug gab der heutige Tag, Stahl und Garn sind naß vom Blute des erlegten Wildes. Darum lasset uns nun der Jagd für heute ein Ende machen! Wenn morgen die rosige Eos am Himmel emporsteigt, erneuern wir unser fröhliches Geschäft." Also sprach er und entließ die willigen Genossen; er selbst aber ging, von seinen Hunden begleitet, tiefer in den Wald hinein, einen kühlen, schattigen Ort zu suchen, wo er des Mittags Hitze verschlafen und die ermüdeten Glieder stärken könnte.

Nun war nicht fern davon ein Tal voll Fichten und hochaufragender Zypressen; das hieß Gargaphia und war der Artemis geheiligt. Dort befand sich tief in einem Winkel des Tals versteckt eine baumumwachsene Grotte. Kunstreich schien der Felsen von Menschenhand zum Bogen gewölbt, und doch war alles ein Werk der Natur. Dicht dabei entsprang murmelnd ein Quell, dessen klares Wasser, vom grünen Rasen umsäumt, sich zu einem kleinen See ausbreitete. Hier war es, wo die jungfräuliche Göttin, von der Jagd ermüdet, ihre heiligen Glieder zu baden pflegte. Auch jetzt war sie in die Grotte getreten, von dienenden Nymphen begleitet. Jagdspeer, Köcher und Bogen reichte sie ihrer Waffenträgerin, eine andere nahm der Göttin das Gewand ab, zwei lösten ihr die Sandalen von den Füßen; die schöne Krokale, die geschickteste von allen, knüpfte ihr das wallende Haupthaar zum Knoten zusammen. Dann schöpften die Dienerinnen mit Urnen das Wasser und ließen es über die Herrin strömen.

Während so die Göttin des gewohnten Bades sich erfreute, nahte durch das Gebüsch auf ungebahntem Wege nachlässigen Schrittes der Enkel des Kadmos; ein schlimmes Schicksal führte ihn durch den heiligen Hain zu der Grotte der Artemis. Ahnungslos trat er hinein, froh, eine kühle Raststätte gefunden zu haben. Wie nun die Nymphen den Mann erblickten, schrien sie laut auf und drängten sich um die Gebieterin, sie mit ihren Leibern zu verbergen. Aber um Haupteslänge ragte die Göttin über alle empor. Hochauf richtete sie das vor Zorn und Scham erglühende Antlitz, das Auge starr auf den Eindringling gerichtet. Dieser stand noch immer regungslos, überrascht und geblendet von dem wunderbaren Schauspiel. Der Unglückliche! Wäre er doch entflohen, so schnell seine Füße ihn tragen mochten; denn jetzt beugte sich die Göttin plötzlich zur Seite, schöpfte mit der Hand ein wenig von dem Wasser des Quells, spritzte es dem Jüngling über Antlitz und Haupthaar und rief mit drohender Stimme: "Was du gesehen, verkünde es nun den Menschen, wenn du vermagst!" Kaum war das letzte Wort gesprochen, da ergriff ihn unsägliche Angst; eilenden Schrittes stürzte er davon und wunderte sich im Lauf über seine Schnelligkeit. Der Unselige merkte es nicht, daß ein Geweih seinem Scheitel entsproßte, daß sein Hals sich verlängerte, die Ohren sich spitzten, seine Arme in Beine, seine Hände in Hufe sich verwandelten. Schon überdeckte die Glieder ein geflecktes Fell; er war kein Mensch mehr, in Hirschgestalt hatte ihn die zürnende Göttin gewandelt. Jetzt erblickte er auf der Flucht sein Bild im Spiegel des Wassers. "Weh mir Unglücklichem!" wollte er rufen, aber stumm war sein Mund, kein Wort entrang sich der stöhnenden Brust; nur ein angstvolles Seufzen konnte er ausstoßen; Träne auf Träne rann ach, nicht über menschliche Wangen! Nur sein Herz, seine alte Besinnung war ihm geblieben.

Was nun tun? Heimkehren in den großväterlichen Palast? Im tiefsten Wald sich verstecken? Während so Furcht und Scham in ihm kämpften, erblickten ihn seine Hunde. Da plötzlich stürzte die ganze Meute - fünfzig an der Zahl - auf den vermeintlichen Hirsch ein. Nach Beute gierig, jagten sie ihn über Berg und Tal, über zackige Felsen und gähnende Klüfte. So flog der Geängstete durch die wohlbekannten Gegenden, wo er oft das Wild verfolgt hatte, nun selbst der Verfolgte. Zweimal wollte er sich wenden und flehend rufen: "Schonet meiner! Ich bin ja Aktäon." Aber die Rede war ihm versagt. Jetzt mit wütendem Gebell erreichte ihn der Führer der Meute, ihn im Rücken packend, und nun stürzten sie alle über ihn her und verwundeten ihn mit den scharfen Zähnen. Tiefauf stöhnte der Gequälte - ach, so winselt kein Hirsch! und doch ist es kein menschliches Stöhnen. Einem Bittenden ähnlich sank er auf die Knie und wendete in stummem Jammer das Antlitz nach seinen Peinigern. In diesem Augenblick kamen seine Genossen herbei, durch das Gebell der Hunde herangelockt. Mit gewohntem Zuruf hetzten sie die klaffende Meute und riefen umsonst nach ihrem Herrn, den sie entfernt glaubten. "Aktäon", tönte es durch den Wald, "wo bist du, den herrlichen Fang zu schauen?" So riefen sie, während der Unglückliche unter den Speeren seiner Freunde den Geist aufgab. Nachdem Aktäon so schrecklich geendet hatte, begannen seine Hunde den lieben Herrn zu vermissen; heulend und winselnd suchten sie den Verlorenen überall, bis sie endlich zur Höhle des Chiron gelangten. Dieser fertigte aus Erz ein täuschend ähnliches Bild des armen Jünglings. Als die Hunde dasselbe erblickten, sprangen sie an dem fühllosen Erz in die Höhe, leckten ihm schmeichelnd die Hände und Füße und gebärdeten sich so fröhlich, als hätten sie ihren Herrn wirklich wiedergefunden.

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