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Gustav Schwab - Die schönsten Sagen des klassischen Altertums

MEROPE UND AIPYTOS

Kein besseres Los als seinen Bruder Temenos traf den König von Messene, Kresphontes. Dieser hatte die Tochter des Königs Kypselos von Arkadien, Merope, geheiratet, die ihrem Gemahl viele Kinder gebar, unter welchen Aipytos das jüngste war. Für seine vielen Söhne und sich selbst erbaute er im Lande eine stattliche Königsburg. Er selbst war ein Freund des gemeinen Volkes und begünstigte dieses, wo er konnte, in seiner Verwaltung. Darüber empörten sich die Reichen und erschlugen ihn samt allen seinen Söhnen, bis auf den jüngsten, Aipytos. Diesen entzog die Mutter den Händen der Mörder und rettete ihn glücklich zu ihrem Vater Kypselos nach Arkadien, wo der Knabe heimlich erzogen wurde. In Messenien hatte sich indessen Polyphontes, ebenfalls ein Heraklide, des Thrones bemächtigt und die Witwe des ermordeten Königes gezwungen, ihm ihre Hand zu reichen. Da wurde es ruchbar, daß noch ein Thronerbe des Kresphontes am Leben sei, und Polyphontes, der neue Herrscher, setzte einen großen Preis auf seinen Kopf. Aber niemand war, der ihn verdienen wollte oder auch nur konnte; denn die Sage ging nur dunkel, und man wußte nicht, wo der Geächtete zu suchen wäre. Mittlerweile wuchs Aipytos zum Jünglinge heran, verließ heimlich den Palast seines Großvaters, und ohne daß jemand es ahnte, traf er zu Messene ein. Der Jüngling hatte von dem Preise gehört, der auf den Kopf des unglücklichen Aipytos gesetzt sei. Da faßte er sich ein Herz, kam als ein Fremdling, von niemand gekannt, selbst von der eigenen Mutter nicht, an den Hof des Königes Polyphontes, trat vor ihn und sprach in Gegenwart der Königin Merope: "Ich bin erbötig, o Herrscher, den Preis zu verdienen, den du auf das Haupt des Fürsten gesetzt hast, der als Sohn des Kresphontes deinem Throne so furchtbar ist. Ich kenne ihn so genau wie mich selber und will ihn dir in die Hände liefern."

Die Mutter erblaßte, als sie dieses hörte; schnell sandte sie nach einem alten, vertrauten Diener, der schon bei der Rettung des kleinen Aipytos tätig gewesen war und jetzt, aus Furcht vor dem neuen Könige, fern vom Hof und der Königsburg lebte. Diesen schickte sie heimlich nach Arkadien, um ihren Sohn vor Nachstellung zu sichern, vielleicht auch, ihn herbeizurufen, damit er sich an die Spitze der Bürger stelle, denen sich Polyphontes durch seine Tyrannei verhaßt gemacht hatte, und den väterlichen Thron wieder erringe. Als der alte Diener nach Arkadien kam, fand er den König Kypselos und das ganze Königshaus in großer Bestürzung, denn sein Enkel Aipytos war verschwunden, und niemand wußte, was aus ihm geworden war. Trostlos eilte der alte Diener nach Messene zurück und erzählte der Königin, was geschehen. Beide hatten nun keinen andern Gedanken, als daß der Fremdling, der vor dem Könige erschienen sei, den Preis zu verdienen, gewiß den armen Aipytos in Arkadien ermordet und seinen Leichnam nach Messene gebracht habe. Sie besannen sich nicht lange, und da der Fremde, von Polyphontes in seine Königsburg aufgenommen, seine Wohnung in derselben hatte, betrat die Königin, von Rachedurst erfüllt, mit einer Axt bewaffnet und von ihrem Vertrauten, dem alten Diener, begleitet, nächtlicherweile die Kammer des Fremden, in der Absicht, den Schlummernden zu erschlagen. Der Jüngling aber schlief ruhig und sanft, und der Strahl des Mondes beleuchtete sein Antlitz. Schon hatten sich beide über sein Lager gebeugt und Merope die Mordaxt erhoben, als der Diener, der, dem Schlafenden näher stehend, sein Angesicht genauer betrachtete, plötzlich mit einem angstvollen Schrei der Überraschung den Arm der Königin erfaßte. "Halt ein", rief er, "es ist dein Sohn Aipytos, den du erschlagen willst!" Merope ließ den Arm mit der Axt sinken und warf sich über das Bett ihres Sohnes, den sie mit ihrem lauten Schluchzen erweckte. Nachdem sie sich lange in den Armen gelegen, eröffnete ihr der Sohn, daß er gekommen sei, nicht sich den Mördern in die Hände zu liefern, sondern diese zu bestrafen, sie selbst von dem verhaßten Ehebund zu erlösen und mit Hilfe der Bürger, die er für sein gutes Recht zu gewinnen hoffte, den Thron des Vaters zu besteigen. Er verabredete hierauf gemeinschaftlich mit der Mutter und dem alten Diener des Hauses die Maßregeln, die zu ergreifen wären, um sich an dem verhaßten und verruchten Polyphontes zu rächen. Merope legte Trauerkleider an, trat vor ihren Gatten und erzählte ihm, wie sie soeben die Trauerbotschaft von dem Tode ihres einzigen noch übrigen Sohnes erhalten habe. Fortan sei sie bereit, im Frieden mit ihrem Gatten zu leben und des vorigen Leides nicht zu gedenken. Der Tyrann ging in die Schlinge, die ihm gelegt war. Er wurde vergnügt, weil ihm die schwerste Sorge vom Herzen genommen war, und erklärte, den Göttern ein Dankopfer bringen zu wollen, dafür, daß alle seine Feinde jetzt aus der Welt verschwunden seien. Als nun die ganze Bürgerschaft auf öffentlichem Markte, aber mit widerwilligem Herzen erschienen war - denn das gemeine Volk hatte es immer mit dem liebreichen Könige Kresphontes gehalten und betrauerte auch jetzt seinen Sohn Aipytos, in welchem es die letzte Hoffnung verloren glaubte -, da überfiel Aipytos den opfernden König und stieß ihm den Stahl ins Herz. Jetzt eilte Merope mit dem Diener herbei, und beide zeigten dem Volke in dem Fremdling Aipytos den totgeglaubten rechtmäßigen Erben des Thrones. Dieses begrüßte ihn jubelnd, und noch an demselben Tage nahm der Jüngling den erledigten Thron seines Vaters Kresphontes ein und bezog, eingeführt von der Mutter, die Königsburg. Er bestrafte jetzt die Mörder seines Vaters und seiner Brüder wie die Mitanstifter des Mordes. Im übrigen gewann er durch sein zuvorkommendes Wesen selbst die vornehmen Messenier und durch seine Freigebigkeit alle, die zum Volke gehörten, und erwarb sich ein solches Ansehen, daß seine Nachkommen sich Aipytiden statt Herakliden nennen durften.

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