Manchmal muß ich wieder jener stillen Tage gedenken, die mir sind wie ein wundersames, glücklich verbrachtes Leben, das ich fraglos genießen konnte, gleich einem Geschenk aus gütigen, unbekannten Händen. Und jene kleine Stadt im Talesgrund ersteht da wieder in meiner Erinnerung mit ihrer breiten Hauptstraße, durch die sich eine lange Allee prachtvoller Lindenbäume hinzieht, mit ihren winkeligen Seitengassen, die erfüllt sind von heimlich schaffendem Leben kleiner Kaufleute und Handwerker und mit dem alten Stadtbrunnen mitten auf dem Platze, der im Sonnenschein so verträumt plätschert, und wo am Abend zum Rauschen des Wassers Liebesgeflüster klingt. Die Stadt aber scheint von vergangenem Leben zu träumen.
Und sanft geschwungene Hügel, über die sich feierliche, schweigsame Tannenwälder ausdehnen, schließen das Tal von der Außenwelt ab. Die Kuppen schmiegen sich weich an den fernen, lichten Himmel, und in dieser Berührung von Himmel und Erde scheint einem der Weltraum ein Teil der Heimat zu sein. Menschengestalten kommen mir auf einmal in den Sinn, und vor mir lebt wieder das Leben ihrer Vergangenheit auf, mit all' seinen kleinen Leiden und Freuden, die diese Menschen ohne Scheu einander anvertrauen durften.
Acht Wochen habe ich in dieser Entlegenheit verlebt; diese acht Wochen sind mir wie ein losgelöster, eigener Teil meines Lebens - ein Leben für sich - voll eines unsäglichen, jungen Glückes, voll einer starken Sehnsucht nach fernen, schönen Dingen. Hier empfing meine Knabenseele zum erstenmale den Eindruck eines großen Erlebens.
Ich sehe mich wieder als Schulbube in dem kleinen Haus mit einem kleinen Garten davor, das, etwas abgelegen von der Stadt, von Bäumen und Gesträuch beinahe ganz versteckt liegt. Dort bewohnte ich eine kleine Dachstube, die mit wunderlichen alten, verblaßten Bildern ausgeschmückt war, und manchen Abend habe ich hier verträumt in der Stille, und die Stille hat meine himmelhohen, närrisch-glücklichen Knabenträume liebevoll in sich aufgenommen und bewahrt und hat sie mir später noch oft genug wiedergebracht - in einsamen Dämmerstunden. Oft auch ging ich am Abend zu meinem alten Onkel hinunter, der beinahe den ganzen Tag bei seiner kranken Tochter Maria verbrachte. Dann saßen wir drei stundenlang schweigend beisammen. Der laue Abendwind wehte zum Fenster herein und trug allerlei verworrenes Geräusch an unser Ohr, das einem unbestimmte Traumbilder vorgaukelte. Und die Luft war voll von dem starken, berauschenden Duft der Rosen, die am Gartenzaune blühten. Langsam schlich die Nacht ins Zimmer und dann stand ich auf, sagte "Gute Nacht" und begab mich in meine Stube hinauf, um dort noch eine Stunde am Fenster in die Nacht hinaus zu träumen.
Anfangs fühlte ich in der Nähe der kleinen Kranken etwas wie eine angstvolle Beklemmung, die sich später in eine heilige, ehrfurchtsvolle Scheu vor diesem stummen, seltsam ergreifenden Leiden wandelte. Wenn ich sie sah, stieg in mir ein dunkles Gefühl auf, daß sie sterben werde müssen. Und dann fürchtete ich sie anzusehen.
Wenn ich tagsüber in den Wäldern herumstreifte, mich in der Einsamkeit und Stille so froh fühlte, wenn ich mich müde dann ins Moos streckte, und stundenlang in den lichten, flimmernden Himmel blickte, in den man so weit hineinsehen konnte, wenn ein seltsam tiefes Glücksgefühl mich dann berauschte, da kam mir plötzlich der Gedanke an die kranke Maria und ich stand auf und irrte, von unerklärlichen Gedanken überwältigt, ziellos umher und fühlte in Kopf und Herz einen dumpfen Druck, daß ich weinen hätte mögen.
Und wenn ich am Abend manchmal durch die staubige Hauptstraße ging, die erfüllt war vom Dufte der blühenden Linden, und im Schatten der Bäume flüsternde Paare stehen sah; wenn ich sah, wie beim leise plätschernden Brunnen im Mondenschein zwei Menschen enge aneinander geschmiegt langsam dahinwandelten, als wären sie ein Wesen, und mich da ein ahnungsvoller heißer Schauer überlief, da kam die kranke Maria mir in den Sinn; dann überfiel mich eine leise Sehnsucht nach irgend etwas Unerklärlichem, und plötzlich sah ich mich mit ihr Arm in Arm die Straße hinab im Schatten der duftenden Linden lustwandeln. Und in Marias großen, dunklen Augen leuchtete ein seltsamer Schimmer, und der Mond ließ ihr schmales Gesichtchen noch blasser und durchsichtiger erscheinen. Dann flüchtete ich mich in meine Dachstube hinauf, lehnte mich ans Fenster, sah in den tiefdunklen Himmel hinauf, in dem die Sterne zu erlöschen schienen und hing stundenlang wirren, sinnverwirrenden Träumen nach, bis der Schlaf mich übermannte.
Und doch - und doch habe ich mit der kranken Maria keine zehn Worte gewechselt. Sie sprach nie. Nur stundenlang an ihrer Seite bin ich gesessen und habe in ihr krankes, leidendes Gesicht geblickt und immer wieder gefühlt, daß sie sterben müsse.
Im Garten habe ich im Gras gelegen und habe den Duft von tausend Blumen eingeatmet; mein Auge berauschte sich an den leuchtenden Farben der Blüten, über die das Sonnenlicht hinflutete, und auf die Stille in den Lüften habe ich gehorcht, die nur bisweilen unterbrochen wurde durch den Lockruf eines Vogels. Ich vernahm das Gären der fruchtbaren, schwülen Erde, dieses geheimnisvolle Geräusch des ewig schaffenden Lebens. Damals fühlte ich dunkel die Größe und Schönheit des Lebens. Damals auch los war mir, als gehörte das Leben mir. Da aber fiel mein Blick auf das Erkerfenster des Hauses. Dort sah ich die kranke Maria sitzen - still und unbeweglich, mit geschlossenen Augen. Und all' mein Sinnen wurde wieder angezogen von dem Leiden dieses einen Wesens, verblieb dort - ward zu einer schmerzlichen, nur scheu eingestandenen Sehnsucht, die mich rätselhaft und verwirrend dünkte. Und scheu, still verließ ich den Garten, als hätte ich kein Recht, in diesem Tempel zu verweilen.
Sooft ich da am Zaun vorüberkam, brach ich wie in Gedanken eine von den großen, leuchtendroten, duftschweren Rosen. Leise wollte ich dann am Fenster vorüberhuschen, als ich den zitternden, zarten Schatten von Marias Gestalt sich vom Kiesweg abheben sah. Und mein Schatten berührte den ihrigen wie in einer Umarmung. Da nun trat ich, wie von einem flüchtigen Gedanken erfaßt, zum Fenster und legte die Rose, die ich eben erst gebrochen, in Marias Schoß. Dann schlich ich lautlos davon, als fürchtete ich, ertappt zu werden.
Wie oft hat dieser kleine, mich so bedeutsam dünkende Vorgang sich wiederholt! Ich weiß es nicht. Mir ist es, als hätte ich der kranken Maria tausend Rosen in den Schoß gelegt, als hätten unsere Schatten sich unzählige Male umarmt. Nie hat Maria dieser Episode Erwähnung getan; aber gefühlt habe ich aus dem Schimmer ihrer großen leuchtenden Augen, daß sie darüber glücklich war.
Vielleicht waren diese Stunden, da wir zwei beisammen saßen und schweigend ein großes, ruhiges, tiefes Glück genossen, so schön, daß ich mir keine schöneren zu wünschen brauchte. Mein alter Onkel ließ uns still gewähren. Eines Tages aber, da ich mit ihm im Garten saß, inmitten all' der leuchtenden Blumen, über die verträumt große gelbe Schmetterlinge schwebten, sagte er zu mir mit einer leisen, gedankenvollen Stimme: "Deine Seele geht nach dem Leiden, mein Junge." Und dabei legte er seine Hand auf mein Haupt und schien noch etwas sagen zu wollen. Aber er schwieg. Vielleicht wußte er auch nicht, was er dadurch in mir geweckt hatte und was seither mächtig in mir auflebte.
Eines Tages, da ich wiederum zum Fenster trat, an dem Maria wie gewöhnlich saß, sah ich, daß ihr Gesicht im Tode erbleicht und erstarrt war. Sonnenstrahlen huschten über ihre lichte, zarte Gestalt hin; ihr gelöstes Goldhaar flatterte im Wind, mir war, als hätte sie keine Krankheit dahingerafft, als wäre sie gestorben ohne sichtbare Ursache - ein Rätsel. Die letzte Rose habe ich ihr in die Hand gelegt, sie hat sie ins Grab genommen.
Bald nach dem Tode Marias reiste ich ab in die Großstadt. Aber die Erinnerung an jene stillen Tage voll Sonnenschein sind in mir lebendig geblieben, lebendiger vielleicht als die geräuschvolle Gegenwart. Die kleine Stadt im Talesgrund werde ich nie mehr wiedersehen - ja, ich trage Scheu, sie wieder aufzusuchen. Ich glaube, ich könnte es nicht, wenn mich auch manchmal eine starke Sehnsucht nach jenen ewig jungen Dingen der Vergangenheit überfällt. Denn ich weiß, ich würde nur vergeblich nach dem suchen, was spurlos dahingegangen ist; ich würde dort das nicht mehr finden, was nur in meiner Erinnernug noch lebendig ist - wie das Heute - und das wäre mir wohl nur eine unnütze Qual.
Es geschah aber zur selbigen Stunde, da sie des Menschen Sohn hinausführten gen Golgatha, das da ist die Stätte, wo sie Räuber und Mörder hinrichten.
Es geschah zur selbigen hohen und glühenden Stunde, da er sein Werk vollendete.
Es geschah, daß zur selbigen Stunde eine große Menge Volks lärmend Jerusalems Straßen durchzog und inmitten des Volkes schritt Barrabas, der Mörder, und trug sein Haupt trotzig hoch.
Und um ihn waren aufgeputzte Dirnen mit rotgemalten Lippen und geschminkten Gesichtern und haschten nach ihm. Und um ihn waren Männer, deren Augen trunken blickten von Wein und Lastern. In aller Reden aber lauerte die Sünde ihres Fleisches, und die Unzucht ihrer Geberden war der Ausdruck ihrer Gedanken.
Viele, die dem trunkenen Zuge begegneten, schlossen sich ihm an und riefen: "Es lebe Barrabas!" Und alle schrieen: "Barrabas lebe!" Jemand hatte auch "Hosiannah!" gerufen. Den aber schlugen sie - denn erst vor wenigen Tagen hatten sie Einem "Hosiannah!" zugerufen, der da in die Stadt gezogen kam als ein König, und hatten frische Palmenzweige auf seinen Weg gestreut. Heute aber streuten sie rote Rosen und jauchzten: "Barrabas!"
Und da sie an einem Palaste vorbeikamen, hörten sie drinnen Saitenspiel und Gelächter und den Lärm eines großen Gelages. Und aus dem Haus trat ein junger Mensch in reichem Festgewand. Und sein Haar glänzte von wohlriechenden Ölen und sein Körper duftete von den kostbarsten Essenzen Arabiens. Sein Auge leuchtete von den Freuden des Gelages und das Lächeln seines Mundes war geil von den Küssen seiner Geliebten. Als der Jüngling Barrabam erkannte, trat er vor und sprach also:
"Tritt ein in mein Haus, o Barrabas, und auf meinen weichsten Kissen sollst du ruhen; tritt ein, o Barrabas, und meine Dienerinnen sollen deinen Leib mit den kostbarsten Narden salben. Dir zu Füßen soll ein Mädchen auf der Laute seine süßesten Weisen spielen und aus meinem kostbarsten Becher will ich dir meinen glühendsten Wein darreichen. Und in den Wein will ich die herrlichste meiner Perlen werfen. O Barrabas, sei mein Gast für heute - und meinem Gast gehört für diesen Tag meine Geliebte, die schöner ist als die Morgenröte im Frühling.
Tritt ein, Barrabas, und kränze dein Haupt mit Rosen, freu' dich dieses Tages, da jener stirbt, dem sie
Dornen aufs Haupt gesetzt."
Und da der Jüngling so gesprochen, jauchzte ihm das Volk zu und Barrabas stieg die Marmorstufen empor, gleich einem Sieger. Und der Jüngling nahm die Rosen, die sein Haupt bekränzten, und legte sie um die Schlafen des Mörders Barrabas. Dann trat er mit ihm in das Haus, derweil das Volk auf den Straßen jauchzte. Auf weichen Kissen ruhte Barrabas; Dienerinnen salbten seinen Leib mit den köstlichsten Narden und zu seinen Füßen tönte das liebliche Saitenspiel eines Mädchens und auf seinem Schoß saß des Jünglings Geliebte, die schöner war denn die Morgenröte im Frühling. Und Lachen tönte - und an unerhörten Freuden berauschten sich die Gäste, die sie alle waren des Einzigen Feinde und Verächter - Pharisäer und Knechte der Priester. Einer Stunde gebot der Jüngling Schweigen, und aller Lärm verstummte.
Da nun füllte der Jüngling seinen goldenen Becher mit dem köstlichsten Wein, und in dem Gefäß ward der Wein wie glühendes Blut. Eine Perle warf er hinein und reichte den Becher Barrabas dar. Der Jüngling aber griff nach einem Becher von Kristall und trank Barrabas zu:
"Der Nazarener ist tot! Es lebe Barrabas!"
Und alle im Saale jauchzten:
"Der Nazarener ist tot! Es lebe Barrabas!"
Und das Volk in den Straßen schrie:
"Der Nazarener ist tot! Es lebe Barrabas!"
Plötzlich aber erlosch die Sonne, die Erde erbebte in ihren Grundfesten und ein ungeheures Grauen ging durch die Welt. Und die Kreatur erzitterte. Zur selbigen Stunde ward das Werk der Erlösung vollbracht!
AGATHON: Es ist Zeit, in die Stadt zurückzukehren. Die Sonne ist untergegangen und über der Stadt dämmert es schon. Es ist sehr still geworden. - Doch was antwortest du nicht, Marcellus; was blickst du so abwesend in die Ferne?
MARCELLUS: Ich habe daran gedacht, daß dort in der Ferne das Meer die Ufer dieses Landes bespült; daran habe ich gedacht, daß jenseits des Meeres das ewige, göttergleiche Rom sich zu den Gestirnen erhebt, wo kein Tag eines Festes entbehrt. Und ich bin hier in fremder Erde. An alles das habe ich gedacht. Doch ich vergaß. Es ist wohl Zeit, daß du in die Stadt zurück kehrst. Es dämmert. Und zur Zeit der Dämmerung harrt ein Mädchen vor den Toren der Stadt Agathons. Laß sie nicht warten, Agathon, laß sie nicht warten, deine Geliebte. Ich sage dir, die Frauen dieses Landes sind sehr sonderbar; ich weiß, sie sind voller Rätsel. Laß sie nicht warten, deine Geliebte; denn man weiß nie, was geschehen kann. In einem Augenblick kann Furchtbares geschehen. Man sollte den Augenblick nie versäumen.
AGATHON: Warum sprichst du so zu mir?
MARCELLUS: Ich meine, wenn sie schön ist, deine Geliebte, sollst du sie nicht warten lassen. Ich sage dir, ein schönes Weib ist etwas ewig Unerklärliches. Die Schönheit des Weibes ist ein Rätsel. Man
durchschaut sie nicht. Man weiß nie, was ein schönes Weib sein kann, was sie zu tun gezwungen ist. Das ist es, Agathon! Ach du - ich kannte eine. Ich kannte eine, ich sah Dinge geschehen, die ich nie ergründen werde. Kein Mensch würde sie ergründen können. Wir schauen nie den Grund der Geschehnisse.
AGATHON: Was sahst du geschehen? Ich bitte dich, erzähle mir mehr davon!
MARCELLUS: So gehen wir. Vielleicht ist eine Stunde gekommen, da ich es sagen werde können, ohne vor meinen eigenen Worten und Gedanken er schaudern zu müssen. (Sie gehen langsam den Weg nach Jerusalem zurück. Es ist Stille um sie.)
MARCELLUS: Es ging vor sich in einer glühenden Sommernacht, da in der Luft das Fieber lauert und Mond die Sinne verwirrt. Da sah ich sie. Es war in einer kleinen Schenke. Sie tanzte dort, tanzte mit nackten Füßen auf einem kostbaren Teppich. Niemals sah ich ein Weib schöner tanzen, nie berauschter; der Rhythmus ihres Körpers ließ mich seltsam dunkle Traumbilder schauen, daß heiße Fieberschauer meinen Körper durchbebten. Mir war, als spiele dieses Weib im Tanz mit unsichtbaren, köstlichen, heimlichen Dingen, als umarmte sie göttergleiche Wesen, die niemand sah, als küßte sie rote Lippen, die sich verlangend den ihren neigten; ihre Bewegungen waren die höchster Lust; es schien, als würde sie von Liebkosungen überschüttet. Sie schien Dinge zu sehen, die wir nicht sahen und spielte mit ihnen im Tanze, genoß sie in unerhörten Verzückungen ihres Körpers. Vielleicht hob sie ihren Mund zu köstlichen, süßen Früchten und schlürfte feurigen Wein, wenn sie ihren Kopf zurückwarf und ihr Blick verlangend nach oben gerichtet war. Nein! Ich habe das nicht begriffen, und doch war alles seltsam lebendig - es war da. Und sank dann hüllenlos, nur von ihren Haaren überflutet, zu unseren Füßen nieder. Es war, als hätte sich die Nacht in ihrem Haar zu einem schwarzen Knäuel zusammengeballt und entrückte sie uns. Sie aber gab sich hin, gab ihren herrlichen Leib hin, gab ihn einem jeden, der ihn haben wollte, hin. Ich sah sie Bettler und Gemeine, sah sie Fürsten und Könige lieben. Sie war die herrlichste Hetäre. Ihr Leib war ein köstliches Gefäß der Freude, wie es die Welt nicht schöner sah. Ihr Leben gehörte der Freude allein. Ich sah sie bei Gelagen tanzen und ihr Leib wurde von Rosen überschüttet. Sie aber stand inmitten leuchtender Rosen wie eine eben aufgeblühte, einzig schöne Blume. Und ich sah sie die Statue des Dionysos mit Blumen kränzen, sah sie den kalten Marmor umarmen, wie sie ihre Geliebten umarmte, sie erstickte mit ihren brennenden, fiebernden Küssen. -- Und da kam einer, der ging vorbei, wortlos, ohne Geberde, und war gekleidet in ein härenes Gewand, und Staub war auf seinen Füßen. Der ging vorbei und sah sie an - und war vorüber. Sie aber blickte nach Ihm, erstarrte in ihrer Bewegung - und ging, ging, und folgte jenem seltsamen Propheten, der sie vielleicht mit den Augen gerufen hatte, folgte Seinem Ruf und sank zu Seinen Füßen nieder. Erniedrigte sich vor Ihm - und sah zu Ihm auf wie zu einem Gott; diente Ihm, wie Ihm die Männer dienten, die um Ihn waren.
AGATHON: Du bist noch nicht zu Ende. Ich fühle, du willst noch etwas sagen.
MARCELLUS: Mehr weiß ich nicht. Nein! Aber eines Tages erfuhr ich, daß sie jenen sonderlichen Propheten ans Kreuz schlagen wollten. Ich erfuhr es von unserem Statthalter Pilatus. Und da wollte ich hinausgehen nach Golgatha, wollte Jenen sehen, wollte Ihn sterben sehen. Vielleicht wäre mir ein rätselhaftes Geschehnis offenbar geworden. In Seine Augen wollte ich blicken; Seine Augen würden vielleicht zu mir gesprochen haben. Ich glaube, sie hätten gesprochen.
AGATHON: Und du gingst nicht!
MARCELLUS: Ich war auf dem Wege dahin. Aber ich kehrte um. Denn ich fühlte, ich würde jene draußen treffen, auf den Knien vor dem Kreuz, zu Ihm beten, auf das Fliehen Seines Lebens lauschend. In Verzückung. Und da kehrte ich wieder um. Und in mir ist es dunkel geblieben.
AGATHON: Doch jener Seltsame? - Nein, wir wollen nicht davon sprechen!
MARCELLUS: Laß uns darüber schweigen, Agathon! Wir können nichts anderes tun. - Sieh nur, Agathon, wie es in den Wolken seltsam dunkel glüht. Man könnte meinen, daß hinter den Wolken ein Ozean von Flammen loderte. Ein göttliches Feuer! Und der Himmel ist wie eine blaue Glocke. Es ist, als ob man sie tönen hörte, in tiefen, feierlichen Tönen. Man könnte sogar vermuten, daß dort oben in den unerreichbaren Höhen etwas vorgeht, wovon man nie etwas wissen wird. Aber ahnen kann man es manchmal, wenn auf die Erde die große Stille herabgestiegen ist. Und doch! Alles das ist sehr verwirrend. Die Götter lieben es, uns Menschen unlösbare Rätsel aufzugeben. Die Erde aber rettet uns nicht vor der Arglist der Götter; denn auch sie ist voll des Sinnbetörenden. Mich verwirren die Dinge und die Menschen. Gewiß! Die Dinge sind sehr schweigsam! Und die Menschenseele gibt ihre Rätsel nicht preis. Wenn man fragt, so schweigt sie.
AGATHON: Wir wollen leben und nicht fragen. Das Leben ist voll des Schönen.
MARCELLUS: Wir werden vieles nie wissen. Ja! Und des halb wäre es wünschenswert, das zu vergessen, was wir wissen. Genug davon! Wir sind bald am Ziel. Sieh nur, wie verlassen die Straßen sind. Man sieht keinen Menschen mehr. (Ein Wind erhebt sich.) Es ist dies eine Stimme, die uns sagt, daß wir zu den Gestirnen aufblicken sollen. Und schweigen.
AGATHON: Marcellus, sieh, wie hoch das Getreide auf den Äckern steht. Jeder Halm beugt sich zur Erde - früchte - schwer. Es werden herrliche Erntetage sein.
MARCELLUS: Ja! Festtage! Festtage, mein Agathon!
AGATHON: Ich gehe mit Rahel durch die Felder, durch die früchteschweren, gesegneten Äcker! O du herrliches Leben!
MARCELLUS: Du hast recht! Freue dich deiner Jugend. Jugend allein ist Schönheit! Mir geziemt es, im Dunkel zu wandern. Doch hier trennen sich unsere Wege. Deiner harrt die Geliebte, meiner - das Schweigen der Nacht! Leb' wohl, Agathon! Es wird eine herrlich schöne Nacht sein. Man kann lange im Freien bleiben.
AGATHON: Und kann zu den Gestirnen empor blicken - zur großen Gelassenheit. Ich will fröhlich meiner Wege gehen und die Schönheit preisen. So ehrt man sich und die Götter.
MARCELLUS: Tu, wie du sagst, und du tust recht! Leb' wohl, Agathon!
AGATHON (nachdenklich): Nur eines will ich dich noch fragen. Du sollst nichts dabei denken, daß ich dich darnach frage. Wie hieß doch jener seltsame Prophet? Sag'!
MARCELLUS: Was nützt es dir, das zu wissen! Ich vergaß seinen Namen. Doch nein! Ich erinnere mich. Ich erinnere mich. Er hieß Jesus und war aus Nazareth!
AGATHON: Ich danke dir! Leb' wohl! Die Götter mögen dir wohlgesinnt sein, Marcellus! (Er geht.)
MARCELLUS (in Gedanken verloren): Jesus! - Jesus! Und war aus Nazareth. (Er geht langsam und gedankenvoll seiner Wege. Es ist Nacht geworden und am Himmel leuchten unzählige Sterne.)
Nichts unterbricht mehr das Schweigen der Verlassenheit. Über den dunklen, uralten Gipfeln der Bäume ziehn die Wolken hin und spiegeln sich in den grünlich-blauen Wassern des Teiches, der abgründlich scheint. Und unbeweglich, wie in trauervolle Ergebenheit versunken, ruht die Oberfläche - tagein, tagaus. Inmitten des schweigsamen Teiches ragt das Schloß zu den Wolken empor mit spitzen, zerschlissenen Türmen und Dächern. Unkraut wuchert über die schwarzen, geborstenen Mauern, und an den runden, blinden Fenstern prallt das Sonnenlicht ab. In den düsteren, dunklen Höfen fliegen Tauben umher und suchen sich in den Ritzen des Gemäuers ein Versteck. Sie scheinen immer etwas zu befürchten, denn sie fliegen scheu und hastend an den Fenstern hin. Drunten im Hof plätschert die Fontäne leise und fein. Aus bronzener Brunnenschale trinken dann und wann die dürstenden Tauben. Durch die schmalen, verstaubten Gänge des Schlosses streift manchmal ein dumpfer Fieberhauch, daß die Fledermäuse erschreckt aufflattern. Sonst stört nichts die tiefe Ruhe.
Die Gemächer aber sind schwarz verstaubt! Hoch und kahl und frostig und voll erstorbener Gegenstände. Durch die blinden Fenster kommt bisweilen ein kleiner, winziger Schein, den das Dunkel wieder aufsaugt. Hier ist die Vergangenheit gestorben.
Hier ist sie eines Tages erstarrt in einer einzigen, verzerrten Rose. An ihrer Wesenlosigkeit geht die Zeit achtlos vorüber.
Und alles durchdringt das Schweigen der Verlassenheit.
2
Niemand vermag mehr in den Park einzudringen. Die Äste der Bäume halten sich tausendfach umschlungen, der ganze Park ist nur mehr ein einziges, gigantisches Lebewesen.
Und ewige Nacht lastet unter dem riesigen Blätterdach. Und tiefes Schweigen! Und die Luft ist durchtränkt von Vermoderungsdünsten!
Manchmal aber erwacht der Park aus schweren Träumen. Dann strömt er ein Erinnern aus an kühle Sternennächte, an tief verborgene heimliche Stellen, da er fiebernde Küsse und Umarmungen belauschte, an Sommernächte, voll glühender Pracht und Herrlichkeit, da der Mond wirre Bilder auf den schwarzen Grund zauberte, an Menschen, die zierlich galant, voll rhythmischer Bewegungen unter seinem Blätterdache dahinwandelten, die sich süße, verrückte Worte zuraunten, mit feinem verheißenden Lächeln.
Und dann versinkt der Park wieder in seinen Todesschlaf.
Auf den Wassern wiegen sich die Schatten von Blutbuchen und Tannen und aus der Tiefe des Teiches kommt ein dumpfes, trauriges Murmeln.
Schwäne ziehen durch die glänzenden Fluten, langsam, unbeweglich, starr ihre schlanken Hälse emporrichtend. Sie ziehen dahin! Rund um das erstorbene Schloß! Tagein! tagaus!
Bleiche Lilien stehn am Rande des Teiches mitten unter grellfarbigen Gräsern. Und ihre Schatten im Wasser sind bleicher als sie selbst. Und wenn die einen dahinsterben, kommen andere aus der Tiefe. Und sie sind wie kleine, tote Frauenhände.
Große Fische umschwimmen neugierig, mit starren, glasigen Augen die bleichen Blumen, und tauchen dann wieder in die Tiefe - lautlos!
Und alles durchdringt das Schweigen der Verlassenheit.
3
Und droben in einem rissigen Turmgemach sitzt der Graf. Tagein, tagaus. Er sieht den Wolken nach, die über den Gipfeln der Bäume hinziehen, leuchtend und rein. Er sieht es gern, wenn die Sonne in den Wolken glüht, am Abend, da sie untersinkt. Er horcht auf die Geräusche in den Höhen: auf den Schrei eines Vogels, der am Turm vorbeifliegt oder auf das tönende Brausen des Windes, wenn er das Schloß umfegt.
Er sieht wie der Park schläft, dumpf und schwer, und sieht die Schwäne durch die glitzernden Fluten ziehn - die das Schloß umschwimmen. Tagein! Tagaus!
Und die Wasser schimmern grünlich-blau. In den Wassern aber spiegeln sich die Wolken, die über das Schloß hinziehen; und ihre Schatten in den Fluten leuchten strahlend und rein, wie sie selbst. Die Wasserlilien winken ihm zu, wie kleine, tote Frauenhände, und wiegen sich nach den leisen Tönen des Windes, traurig träumerisch.
Auf alles, was ihn da sterbend umgibt, blickt der arme Graf, wie ein kleines, irres Kind, über dem ein Verhängnis steht, und das nicht mehr Kraft hat, zu leben, das dahinschwindet, gleich einem Vormittagsschatten. Er horcht nur mehr auf die kleine, traurige Melodie seiner Seele: Vergangenheit!
Wenn es Abend wird, zündet er seine alte, verrußte Lampe an und liest in mächtigen, vergilbten Büchern von der Vergangenheit Größe und Herrlichkeit. Er liest mit fieberndem, tönendem Herzen, bis die Gegenwart, der er nicht angehört, versinkt. Und die Schatten der Vergangenheit steigen herauf - riesengroß. Und er lebt das Leben, das herrlich schöne Leben seiner Väter.
In Nächten, da der Sturm um den Turm jagt, daß die Mauern in ihren Grundfesten dröhnen und die Vögel angstvoll vor seinem Fenster kreischen, überkommt den Grafen eine namenlose Traurigkeit.
Auf seiner jahrhundertalten, müden Seele lastet das Verhängnis. Und er drückt das Gesicht an das Fenster und sieht in die Nacht hinaus. Und da erscheint ihm alles riesengroß traumhaft, gespensterlich! Und schrecklich. Durch das Schloß hört er den Sturm rasen, als wollte er alles Tote hinausfegen und in Lüfte zerstreuen. Doch wenn das verworrene Trugbild der Nacht dahinsinkt wie ein heraufbeschworener Schatten - durchdringt alles wieder das Schweigen der Verlassenheit.
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