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Legenden aus Europa
Vom Anfang der Welt
Es gab eine Zeit, da alles nicht war. Da war nicht Sand noch See, nicht das Meer und die Erde, nicht der Himmel mit seinen Sternen. Im Anfang war nur Ginnungagap, das gähnende, lautlose Nichts. Da schuf Allvaters Geist das Sein, und es entstand im Süden Muspelheim, das Land der Glut und des Feuers, und im Norden Niflheim, das Land der Nebel, der Kälte und Finsternis. Aus dem Norden, in Niflheim, entsprang ein tosender Quell, aus dem zwölf Ströme hervorbrachen. Die stürzten in den Abgrund, der Norden und Süden trennte, und erstarrten zu Eis.
Aus Muspelheim flogen Funken auf das Eis, die Starre begann zu schmelzen, und der Riese Ymir taute daraus hervor und danach Audhumbla, eine riesige Kuh, von deren Milch Ymir sich nährte. Eines Tages sank Ymir, nachdem er sich satt getrunken hatte, in tiefen Schlaf, und aus seinen Achselhöhlen wuchsen zwei Riesenwesen, Mann und Weib. Diesen beiden entstammt das Geschlecht der Frost- und Reifriesen.
Audhumbla, die nirgends Gras fand, leckte an den salzigen Eisblöcken, und ihre Zunge löste am dritten Tage einen Mann aus dem Eise, der war stark und schön und nannte sich Buri. Er erschuf aus eigener Kraft einen Sohn, der hieß Börs und nahm Bestla, die Tochter des Riesen Bölthorn, zum Weibe.
Börs zeugte mit Bestla drei Söhne: Odin, Wili und We. Mit ihnen kam das Göttergeschlecht der Asen in die Welt.
Odin, Wili und We zogen aus, um die Herrschaft über die Schöpfung zu gewinnen. Sie erschlugen den alten Riesen Ymir. Die Blutströme aus Ymirs Wunden überfluteten die Welt, und alle Frostriesen ertranken. Nur ein einziger, Bergelmir, rettete sich mit seinem Weibe in einem Boot. Diese beiden wurden die Ahnen der späteren Riesengeschlechter.
Den toten Leib Ymirs warfen die Brüder Odin, Wili und We in den Abgrund zwischen Muspelheim und Niflheim und schufen aus ihm die Erde. Aus Ymirs Blut entstanden die Wasser der Ströme und Meere, aus seinem Fleisch die Erde, aus Knochen und Zähnen Berge und Felsen, aus seinem Schädel wurde die Wölbung des Himmels geschaffen. Als die Asen das Hirn des Riesen in den Himmel schleuderten, blieb es als Wolken in den Lüften hängen. Die Haare wurden zu Bäumen, die Augenbrauen bildeten einen Wall, der Midgard, das Land der Menschen, gegen das Meer und die Riesen schützen sollte.
Aus Funken, die von Muspelheims Feuer herüberstoben, schufen die Götter die Sterne, denen sie Namen gaben, und jedem wiesen sie seine Bahn.
Die Erde ward trocken und war vom Meere umgeben, und die Erde begann zu grünen.
Als Odin und seine Brüder einst am Ufer des Meeres wanderten, sahen sie am Strande zwei Bäume, die Esche und die Ulme. Die gefielen ihnen sehr.
Odin formte aus dem einen Baum, der Esche, den ersten Menschen, einen Mann. Aus der Ulme aber wurde ein Weib geschaffen. Odin hauchte ihnen Leben und Geist ein, Wili gab ihnen Verstand und Gefühl, und We schenkte ihnen die Sinne des Gesichts und Gehörs, dazu die Sprache.
Neun Reiche erschufen die Götter in der Welt, drei unterirdische, drei irdische und drei himmlische.
Tief im Innern der Erde liegt Niflheim, das Land des Eises und der Toten. Niflhel ist der tiefste Abgrund, in dem die Verbrecher und Meineidigen ihre Strafe erleiden. Schwarzalfenheim heißt das Land der Nachtzwerge, die verwachsen und häßlich sind, so daß von ihnen gesagt wird, es sei besser, sie nicht zu beschreiben. Sie sind vieler Künste kundig, schmieden köstliche Kleinodien und scharfe Schwerter und Waffen. Sie schrecken und quälen bei Nacht die Menschen, sind aber auch dankbar, wenn jemand ihnen in der Not geholfen hat.
Auf der Erde liegen Midgard, das von den Menschen bewohnt wird, und Riesenland, in dem die Frost- und Reifriesen hausen, dann Wanenheim, das Reich der Erd- und Wassergötter, die sich das Geschlecht der Wanen nennen.
Im Himmel ist Muspelheim, das Feuerland, gelegen, und Lichtalfenheim, wo die Lichtzwerge leben, schön von Gestalt und immer fröhlich. Sie sind Freunde der Menschen. Vor allem aber ist Asgard zu nennen, das heilige Land der Asen. Dort wohnen die Götter in zwölf Schlössern, die sie sich erbaut haben. Eine gewaltige Brücke, Bifröst, der Regenbogen, verbindet Erde und Himmel. Nur die Götter können die Brücke überschreiten, die von dem klugen Heimdall bewacht wird. Er trägt ein Horn, Giallar genannt, mit dem er am Tage der Götterdämmerung die Asen zum Kampf rufen wird.
Aus Leib und Blut des gewaltigen Riesen Ymir haben Odin und seine Brüder die Welt erschaffen. Midgard heißt die Erde, wo die Menschen wohnen. Niflheim ist das Reich der Toten. Genau in der Mitte der Welt, in Asgard, bauten sich die Götter, die Asen, ihre eigenen Wohnungen.
Dort thront Odin, der höchste Gott, den die Menschen auch Wodan nennen, in Walhalla, der größten und prächtigsten Halle, und waltet über der Welt und über den Menschen. Auf seinen Schultern sitzen zwei Raben, Hugin, der Gedanke, und Munin, das Gedächtnis, die auf sein Geheiß täglich ausfliegen, und raunen ihm ins Ohr, was sie gesehen und gehört haben.
In heiligen Nächten sprengt Odin auf weißem Rosse mit seinem Gefolge in wilder Jagd über die sturmgepeitschten Baumwipfel durch die Lüfte dahin. Oft steigt er auch in menschlicher Gestalt, einen blauen sternbesäten Mantel um die Schultern und einen breitkrempigen Hut auf dem Haupt, zur Erde hinab, um den Sterblichen sein Mitgefühl zu zeigen, ihnen zu helfen und ihre Gastfreundschaft zu erproben.
Im Getümmel des Kampfes trägt der Waffengewaltige eine strahlende Rüstung und Gungnir, seinen mächtigen Speer. Er nimmt am Kampfe nicht selbst teil, sondern reitet auf seinem achtfüßigen Roß Sleipnir über die Walstatt und zeichnet mit dem Speer die Männer, denen er den Tod bestimmt hat. Die Walküren, Schlachtenjungfrauen von herrlicher Schönheit, begleiten ihn und tragen die Gefallenen auf ihren feurigen Rossen nach Walhalla empor.
Odins Sohn Thor, der auch Donar heißt, ist der kraftvolle Donnergott. Er hilft Göttern und Menschen und gewährt besonders den Schwachen seinen Beistand; er hat Gewalt über Wind und Wogen, über Blitz und Donner. Im rollenden Wagen, der von Böcken gezogen wird, fährt er auf den Wolken dahin, in der Rechten Mjölnir, den Hammer, der nach dem Wurfe in seine Hand zurückkehrt. Wie alle Götter wird auch er von den Menschen nicht in Tempeln verehrt, sondern in Hainen, von den Bäumen ist ihm die sturmfeste Eiche heilig.
In der Reihe der Göttinnen ist Odins Gemahlin Frigga, die mit Walvater den Thron in Asgard teilt, die Königin der Götter und Menschen; sie wird verehrt als gütige Frau, die für die Menschen sorgt, als Beschützerin der Ehe und der häuslichen Arbeit, sie gilt als Spenderin des Kindersegens. Der Wagen, auf dem sie durch die Lande fährt, wird von Katzen gezogen, diese und andere häusliche Tiere, auch Schwalbe und Storch, sind ihr geheiligt, und der wahrsagende Kuckuck.
Segenspendend und Licht schenkend schreitet Baldur, der Gott der Frühlingssonne, der für das Gute und Gerechte kämpft, über die Erde. Sein Bruder ist der blinde Hödur, der Gott des Winters, der Finsternis und Kälte. Niemand liebt ihn, und überall, wo er herrschen darf, erstickt das Leben.
Odins Bruder Loki, der Gott des Feuers, das die Leichen verzehrt, zeigt wankelmütigen, oft tückischen Sinn und hält es bald mit den Asen, bald mit den Riesen, die im rauhen Nordland hausen und den Frieden in der Welt zu stören trachten; der Fenriswolf und die Midgardschlange sind Lokis furchtbare Kinder.
Ein alter Wahrspruch kündete den Asen, daß der Wolf Fenris ihren Untergang herbeiführen werde. Da fesselten die Götter ihn mit List, banden das Untier an einen Felsen im Meer und sperrten ihm den Rachen mit einem Schwert. Schauerlich heulte der Wolf in Schmerz und Wut. Am Tage der Götterdämmerung aber wird er sich befreien und gegen die Asen kämpfen, ebenso wie die Midgardschlange, die auf dem Grunde des Meeres ruht und die ganze Erde mit ihrem Leib umschlingt.
In der Mitte von Asgard steht Yggdrasil, die immergrünende Weltesche, die mit ihrer Krone hoch über das Himmelsgewölbe hinausragt und ihre Äste über die ganze Welt hin breitet und mit ihren Wurzeln die Hel, das Reich der Gewesenen, deckt. Am Urdbrunnen, an dem die Esche steht, wohnen die Nornen, sie heißen Urd, Werdandi und Skuld, und wissen um das Schicksal aller Götter und Menschen. Denn niemand sonst kennt ganz das zukünftige Geschick, selbst Odins Wissen ist Stückwerk.
Nicht immer wird Yggdrasil grünen, denn Nidhogg, der Drache, nagt an ihren Wurzeln, und einst wird der Tag kommen, da die Weltesche welken muß. Dann bricht Ragnarök, der Tag der Götterdämmerung, über Asgard herein; der Fenriswolf reißt sich von seinen Fesseln los, die Midgardschlange erhebt sich aus dem Meer, und die Riesen kommen, Götter und Helden sammeln sich zum letzten Kampf. Dann werden Asgard und Midgard vergehen, und alles Leben erlischt.
Mich erreichte eine Mail zu dieser Schöpfungsgeschichte:
12.12.2005 Sehr geehrte Frau Albers,
durch ein Posting in einem neuheidnischen Forum bin ich auf Ihre Seite aufmerksam geworden. Zunächst mal: wow, was für eine schöne Sammlung! Das wird sicher nicht mein letzter besuch hier sein, ich bin tief beeindruckt.
Und dennoch wende ich mich gleich mit einer (nicht böse gemeinten!) \"Beschwerde\" an Sie. Im Bereich \"Legenden aus Europa\" haben sie unter anderem auch die germanische Schöpfungsgeschichte stehen. In der Version, die ich dort gerade gelesen habe, wird die Welt von einem gewissen \"Allvater\" erschaffen.
Nun, eine solche Gottheit (als \"ursprünglicher Gott\") kommt in der nordischen und germanischen Mythologie nicht vor, Allvater ist einfach einer der Beinamen Odins in der Edda. Die Vorstellung von einem ursprünglichen Schöpfergott ist dieser Mythologie überhaupt fremd, sondern es handelt sich dabei um ein Konstrukt völkisch-nationaler Kreise vom Ende des 19. - Anfang des 20. Jhdts. , insbesondere eines gewissen Guido von List, der noch eine ganze Menge anderen Unfug von sich gegeben hat (und dessen krause Ideen, die mit historischer germanischer Kultur nicht viel zu tun haben, zusammen mit den noch übleren Ideen eines Lanz von Liebenfels zu den okkulten Hintergründen eines Teils der NS-Bewegung gerechnet werden).
Ich gehe davon aus, das Ihnen dieser Hintergrund nicht bewusst ist, verstehen Sie daher meine Mail bitte nicht als persönliche Kritik, sondern nur als Hinweis auf die Übernahme eines fragwürdigen Inhalts. Eine Korrektur des betreffenden Artikels wäre schön. Ansonsen kann ich nur sagen: eine richtige Fundgrube, Danke nochmal dafür!
Liebe Grüsse und Ihnen alles Gute, Volker K. http://www.odinic-rite.de/
Thor holt seinen Hammer
Eines Morgens bemerkte Thor mit Schrecken, daß sein Hammer fehlte. Vergebens durchsuchte er, wild sich den Bart raufend, alle Räume seines Hauses.
Da kam Loki, der listenreiche Gott, daher. Er konnte sein schadenfrohes Lächeln kaum verbergen, als Thor ihm sein Mißgeschick erzählte. "Die Riesen werden ihn gestohlen haben", versetzte Loki jedoch gleichmütig. "Wenn du willst, werde ich bei ihnen nachforschen." Und Thor willigte ein.
Von Frigga entlieh sich der verschlagene Loki das Federgewand, flog nach Riesenheim und brachte schnell in Erfahrung, daß der Riese Thrym, der König der Unholde, den Hammer gestohlen und acht Meilen tief unter der Erde verborgen habe.
"Nur um einen Preis werde ich den Hammer herausgeben", rief der Riese hohnlachend; "nur wenn Frigga, die schönste Göttin, meine Frau wird!"
Als Loki den Asen diese Forderung überbrachte, schrie Frigga auf vor Scham und Zorn, und in großer Sorge versammelten sich die Götter und hielten Rat; denn wenn Thor den Hammer nicht zurückerhielt, so drohte für Asgard der Untergang.
Widerstrebend ließ Thor sich schließlich durch Odins klugen Sohn Heimdall, der als Gott des Frühlichts auch der Wächter des Himmels ist, zu einer List überreden. Als Braut verkleidet, sollte er in Friggas Gewand und Schmuck nach Riesenheim ziehen und selber den Hammer holen. Loki, der verschlagene Gott, erbot sich, ihn als seine Dienerin zu begleiten.
Voller Freude empfing der Riese Thrym die Braut, die tief verschleiert vor ihn trat. Er ließ sogleich ein Festmahl herrichten. Man nahm mit den Gästen in der Halle Platz und tat sich gütlich bei fettem Ochsenbraten und schäumendem Met. Mit Verwunderung sahen Thrym und seine Gäste, wie die vermeintliche Braut einen ganzen Ochsen, dazu acht Lachse verzehrte und drei Kufen Met hinuntergoß.
"Acht Tage lang hat meine Herrin nicht gegessen, so sehr quälte sie die Sehnsucht nach dir!" sagte der kluge Loki zur Erklärung des seltsamen Gebarens.
Das hörte der Riese gern. Mit plumpen Fingern lüftete er ein wenig den Schleier, um das holde Antlitz der Braut zu sehen. Doch entsetzt fahr er zurück vor den Augen, die wie loderndes Feuer blitzten. "Meine Herrin", versetzte der als Magd verkleidete Loki, "hat acht Nächte kein Auge geschlossen, so sehr verzehrte sie das Verlangen nach dir."
Solche Worte erfreuten Thrym sehr, darum rief er befehlend: "Bringt jetzt den Hammer des mächtigen Thor!"
Wie frohlockte Thor in seinem Herzen, als man ihm, der vermeintlichen Braut, feierlich den Hammer als Hochzeitsgabe in den Schoß legte!
Mit ingrimmiger Wut ergriff er den Hammer, wog ihn in der Hand und schleuderte ihn gegen den Riesen Thrym, so daß dieser mit zerschmettertem Schädel von seinem Sitz sank. Ein wildes Getümmel erhob sich, als Thor nun mit dem Hammer Mjölnir auf die übrigen Riesen einhieb, bis keiner aus Thryms Geschlecht mehr am Leben war.
Der Himmel lachte und donnerte zugleich, als Thor und Loki vom rauhen Riesenheim hinauffuhren zu Asgards leuchtenden Höhen.
Baldurs Tod
Baldur, Odins und Friggas Sohn, war der schönste und edelste unter den Göttern. Der blühende Jüngling, der Gott des Lichtes und des Frühlings, des Guten und des Gerechten, wurde von allen Asen am meisten geliebt.
Eines Tages träumte die Göttermutter Frigga einen bösen Traum. Sie sah, wie Hel, die Todesgöttin, ihren Lieblingssohn Baldur entführte. Auch Baldur träumte, daß sein junges Leben von Gefahren bedroht sei. Da beschwor Odin die uralte Wala, die Seherin der Hel, aus ihrem Grab, um sichere Kunde zu erfahren. Auf die Frage, wen man im Reiche der Hel erwarte, erhielt er die Antwort: "Baldur, den Guten, erwartet man. Hödur, sein blinder Bruder, wird ihn töten."
Die Asen und Göttinnen hielten, voll Sorge um das Leben ihres Lieblings, Rat und faßten den Beschluß, daß alle Geschöpfe, die im Himmel und auf Erden sind, einen heiligen Eid schwören sollten, Baldur niemals etwas anzutun. Frigga selbst nahm Feuer und Wasser, Riesen und Elben, Menschen, Tiere und Pflanzen in strenge Eidespflicht.
Von nun an verfehlte jede Waffe, die man, um den neuen Bund zu erproben, gegen Baldur richtete, ihr Ziel. Ja es wurde zu fröhlicher Kurzweil unter den Asen, nach Baldur Geschosse zu werfen; doch keines traf ihn.
Am Rate der Götter hatte auch der verschlagene und ränkesüchtige Loki teilgenommen. Während die Götter nun mit Baldur ihr Spiel trieben, wandte er sich, als Bettlerin verkleidet, an die gütige Frigga und entlockte ihr ein Geheimnis: auf einer Eiche vor Walhallas Tor wuchs der Mistelstrauch. Diesen, so verriet Frigga, hatte sie nicht schwören lassen, weil er ihr zu schwach und unbedeutend erschienen war.
Schnell entfernte sich Loki, nahm seine wahre Gestalt an und eilte zur Eiche. Er schnitt ein Zweiglein der Mistelstaude ab und kehrte in den Kreis der Götter, die immer noch ihr fröhliches Spiel trieben, zurück. Untätig abseits stand nur Baldurs Bruder, der blinde Hödur. "Wie soll ich mitspielen, da ich doch des Augenlichts beraubt bin?" versetzte er mißmutig auf Lokis Frage.
"Spanne den Bogen, hier ist ein Pfeil", sagte Loki und reichte ihm den Mistelzweig, "ich werde für dich zielen!"
Der blinde Hödur tat nach dem Geheiß des bösen Gottes, und, wie vom Blitz getroffen, sank Baldur entseelt zu Boden. So hatte sich die Weissagung der Wala grausam erfüllt.
Nur Odins Wort, daß Hödur ein dem Baldur vorherbestimmtes Schicksal vollzogen habe, schützte den Mörder vor der Rache der Götter. Dann schickten sie sich auf Geheiß des Göttervaters an, Baldurs Leichnam zu bestatten.
Nie zuvor hatte in Asgard und auf der Menschenerde so tiefe Trauer geherrscht wie jetzt um Baldur, den lieblichen Gott. Am Strande des Meeres hatten die Asen Baldurs Schiff aufgestellt und auf ihm den Scheiterhaufen errichtet. Als sie den Leichnam obenauf legten, konnte Nanna, die Gattin Baldurs, den Anblick nicht länger ertragen, und ihr Herz brach vor Gram. So betteten die Asen sie an Baldurs Seite.
Alle Götter gaben dem toten Sonnengott Worte der Hoffnung mit auf den Weg. Niemand jedoch weiß, was Odin dem edlen Toten ins Ohr flüsterte.
Thor legte die Flamme an den mächtigen Scheiterhaufen. Dabei stieß er ein Zwerglein, Lit mit Namen, das ihm vor die Füße kam, mit einem Tritt in die Flamme, daß es verbrannte.
Dann schoben die Riesen das Schiff in die Fluten und ließen es die hohe See gewinnen. Immer mächtiger griff in dem wilden Fahrtwind die Flamme um sich, und einer riesigen Opferfackel gleich jagte Baldurs Schiff zum letzten Male über das Meer.
Als die Springflut gierig nach den brennenden Balken griff und ihre Glut in die Tiefe zog, war es den am Gestade harrenden Asen, als versinke die ganze Welt ringsum in Dämmerung.
Niemand trauerte mehr um Baldurs Tod als seine Mutter Frigga. War Baldur, der Frühlingsgott, den Asen und der Menschenwelt nun für immer entrissen? Sollte Hel, die Göttin des Totenreichs, sich nicht erweichen lassen, den Götterliebling freizugeben?
Auf Friggas inständige Bitten entschloß sich Hermodur, der Götterbote, seinen Bruder zu befreien.
"Ich gebe dir Sleipnir, mein Roß, für die lange Wegstrecke", sagte Odin zu seinem Sohne, "es wird dich sicher ans Ziel führen, denn ihm ist der Weg bekannt."
Neun Nächte ritt der Götterbote, bis der achtfüßige windschnelle Renner die Brücke, die zur Hel hinabführte, erreichte.
Hermodur wagte es kühn, in das Reich der Toten einzudringen. Bald sah er Baldur, den geliebten Bruder, schlafbefangen und bleich, an Nannas Seite sitzen. Er flüsterte ihm Worte des Trostes zu. Aber lange mühte sich der Götterbote vergeblich, die düstere Hel zur Milde zu stimmen. Mit eisiger Kälte blickte sie ihn an. Dann ließ sie ihre Stimme vernehmen: "Wer gestorben ist, bleibt meinem Reiche verfallen. Auch Baldur gehört der Hel. Trotzdem will ich die Bitte der Götter erfüllen und ihm die Freiheit wiedergeben, wenn alle Geschöpfe der Welt, ob lebende oder tote, ihn beweinen. Verweigert auch nur ein einziges Geschöpf diesen Anteil der Tränen, so bleibt Baldur für alle Zeit im Reiche der Toten!"
Hermodur eilte, zum Asenhof zurückzukehren. Baldur und Nanna gaben ihm Geschenke mit auf den Weg, die er Odin und Frigga mitbringen sollte.
Dort in Walhalla warteten alle voller Spannung auf den abgesandten Boten. Und voller Hoffnung sandte Frigga sogleich die Alben, ihre Boten, in die Welt hinaus, um alle Geschöpfe für Baldurs Heimkehr zu gewinnen. "Denkt an meinen geliebten Sohn, den Frühlingsgott", ließ sie ihnen sagen, "und weinet über seinen Tod, so wird die Göttin der Unterwelt ihm die Heimkehr gewähren."
Friggas Mühen schien nicht umsonst: alle Geschöpfe, zu denen ihre Boten kamen, waren voller Erbarmen und weinten um den toten Lichtgott. Schon machten sich die Alben auf den Heimweg.
Alle Wesen, sogar die starren Steine, hatten Anteil an Baldurs Schicksal gezeigt. Da trafen die Alben in düsterer Felsenhöhle eine grimmige Riesin, Thögg mit Namen, die hatte um Baldurs Tod keine Träne geweint, und kein Bitten und Flehen konnte sie rühren.
So blieb Baldur im Reiche der Hel.
Nicht wenige der Asen, die mit Betroffenheit die Weigerung des finsteren Weibes vernahmen, glaubten, daß hier Loki sein haßerfülltes Werk fortsetze.
Wo war der hinterhältige Mörder geblieben? Inmitten des Entsetzens, das bei Baldurs Ermordung alle gepackt hielt, hatte der heimtückische Loki entkommen können. Er floh nach Riesenheim und verbarg sich dort in einem einsamen Versteck. Die Götter aber fanden seine Spur. Doch als sie sich dem Hause, dessen vier Fenster nach allen Himmelsrichtungen gingen, näherten, machte sich der verschlagene Loki eilig davon. Er verwandelte sich, wie er es oft zu tun pflegte, in einen Lachs und verbarg sich unter einem Wasserfall. Vorher hatte er ein Netz, das er sich eben fertigte, um zu erproben, ob man ihn damit fangen könne, ins Feuer geworfen.
Das wurde ihm zum Verhängnis, denn in der Asche noch erkannten die Götter die Form des Netzes und wußten nun, wo und mit welchem Mittel sie ihn fangen sollten. Mochte Loki sich auch immer wieder der Verfolgung entziehen, die Götter fingen ihn schließlich in den Maschen des von ihm erfundenen Netzes.
Die Rache der Asen war so schrecklich wie das Verbrechen, das Loki begangen hatte. Sie führten ihn auf eine Insel im Reiche der Hel und schmiedeten ihn dort an einen scharfkantigen Felsen, daß er kein Glied regen konnte. Über dem Haupte des Verräters befestigten die Rächer eine Natter, die ihm unablässig ihr Gift aufs Antlitz träufelte. Zwar teilte Sigyn, Lokis Gattin, das schwere Los des Verdammten. Tag und Nacht saß sie neben dem Gefangenen und fing das Natterngift in einer Schale auf. Doch wenn die Schale voll war und das treue Weib sich erhob, um sie auszuleeren, wurde Loki von brennendem Schmerz gequält, dann wand er sich, daß ganz Midgard erschüttert wurde und die Erde erzitterte. Dieses Erzittern nennen die Menschen Erdbeben. In solchen grausigen Nächten heult der Fenriswolf, und die Midgardschlange regt sich in der Tiefe des Meeres, die Wogen rauschen wild empor, und Sturmfluten branden wider den Wall, mit dem die Götter Midgard gegen die See geschützt haben.
Die Götterdämmerung
Bei Menschen und Göttern herrschte tiefe Trauer, seit der Todespfeil Baldur ins Herz getroffen hatte. Nur die finsteren Riesen, die Unholde und die mißgestalten Zwerge frohlockten, denn mit dem Erlöschen des Sonnenglanzes wuchs ihre Macht der Finsternis.
Böse Zeichen kündeten dem Walvater das Ende der goldenen Zeit, die Blätter der Weltesche Yggdrasil wurden welk, und die Asen begannen zu altern. Denn die schöne Iduna, die Göttin der Jugend, tränkte Yggdrasil nicht mehr mit lebenspendendem Met.
Die Göttin Iduna war vermählt mit Odins Sohn Bragi, dem Skalden, der die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst besaß. Wenn er in Asgard im Kreise der Götter die Harfe erklingen ließ, dann hingen alle an den Lippen des edlen Sängers und priesen die hohe, bezwingende Macht seines göttlichen Gesanges. Und wie Bragi, den liebenswürdigen Odinssohn, verehrten die Asen seine Gemahlin Iduna, deren Name "Immergrün" bedeutet und die im wundertätigen Met den Zauberschatz ewiger Jugend bewahrte.
Auf Iduna und ihre Hilfe setzte Odin seine Hoffnung. Er sandte nach ihr, doch mit Schrecken erfuhr er, daß die schöne Göttin verschwunden sei. Vergebens ließ Odin seine Raben ausfliegen, um nach der Entschwundenen zu suchen. Als sie nach langer, langer Zeit zurückkehrten, brachten sie schlimme Kunde: Iduna, die strahlende Göttin, weilte im Totenreich der Hel, von wo es keine Rückkehr gibt, und auch Bragi, ihr Gatte, war ihr dorthin gefolgt, und noch andere unheilvolle Zeichen wußten die Raben zu berichten. Den Geschöpfen auf der Erde entschwinde die Lebenskraft, und in Mimirs heiligem Brunnen beginne die Weisheit zu versiegen.
Voll düsterer Ahnungen hatte Walvater die unheilschwere Botschaft vernommen. Er erkannte, daß das schicksalhafte Verhängnis unaufhaltsam seinen Lauf nehmen werde, nachdem der lichte Baldur und die jugendfrische Iduna zur Hel gefahren waren. In den Nächten hörten die Asen aus den Abgründen der Unterwelt den Fenriswolf heulen, Lokis schrecklicher Sohn zerrte gierig an seinen Ketten, denn er witterte, daß die Stunde seiner Befreiung nahe.
Als mit Baldurs Tod die Sonne ihren Glanz verlor, fiel ein harter langer Winter, der Fimbulwinter, ins Land. Schneegestöber dauerte an und starker Frost, rauhe Winde tobten, und der Winter schien kein Ende mehr zu nehmen.
In dem Wüten der Elemente war es, als liege Dämmerung auch in den Seelen der Menschen. Arges geschah unter Göttern und Menschen. Krieg erfüllte die Welt, Brüder töteten einander aus Habgier, Meineid und Mord, Ehebruch und Verletzung der Gastfreundschaft geschahen, und Gier und Gottlosigkeit herrschten.
Mit bitterer Sorge sahen die Götter im hohen Asgard, wie alle Ordnungen sich auflösten. Vergeblich schleuderte Thor seinen Hammer Mjölnir gegen die Riesen; denn unverletzlich saßen sie hinter den schützenden Eiswänden des Fimbulwinters. Vergebens ritt Odin auf pfeilschnellem Roß zum alten Mimir, dem Weisen; der Weisheitsbrunnen war wie von wildem Sturm bewegt, in ratloser Ohnmacht stand Mimir vor dem Verhängnis.
Da sprengt der Göttervater auf windschnellem Renner zurück nach Walhall, um Götter und Helden zum Kampfe zu rufen; denn das Unheil naht. Laut kräht der hellrote Hahn auf Asgards Dach, und krächzend antwortet der dunkelrote auf Hels Halle. Die Midgardschlange erhebt ihr furchtbares Haupt aus den Fluten des Meeres, und der Grenzwall, der Midgard schützt, bricht. In Todesangst fliehen die Menschen in die Gebirge und bergen sich in Höhlen, denn nun reißt sich der Fenriswolf aus seinen Banden los, daß die Erde im Innersten erbebt.
Stürmisch braust das Meer über seine Ufer, und es kommt ein Schiff gefahren, das von Loki gesteuert wird, und alle Riesen sind bei ihm. Es ist Naglfari, das Nägelfahrzeug: es ist aus Finger- und Zehennägeln der Toten erbaut, welche die Menschen ehrfurchtslos seit langem zu schneiden unterlassen hatten. Der Fenriswolf, dessen gähnender Rachen Himmel und Erde berührt, verschlingt Sonne und Mond, und Finsternis breitet sich über die Welt.
Ragnarök, der Tag der Entscheidung, bricht an. Es birst der Himmel, und in unendlichen Scharen kommen Muspelheims Söhne geritten. Surtur, der Urweltriese, reitet an der Spitze, und rings um ihn her lodert alles von Brandfackeln. Wild entschlossen ziehen sie nun hinaus auf das Feld Wigrid, die Kampfebene, und mit ihrem Heereszuge sammeln sich zum Streite alle Mächte der Finsternis.
Da dröhnt über Asgard hin das Giallarhorn, mit dem Heimdall die Götter zum Kampfe ruft. Es ertönt so laut, daß man auf der ganzen Welt seinen Schall hört. Wenn es zum drittenmal gellt, öffnen sich Walhalls Tore weit, und der glänzende Heerwurm der Götter und Helden reitet hervor. Die Spitze führt Walvater in leuchtender Rüstung, den Goldhelm auf dem Haupte, und Gungnir, den nie fehlenden Speer, in der Faust.
Auf Wigrid, der Walstatt des Weltenringens, beginnt die letzte entsetzliche Schlacht. Wodans Waffe wütet unter den herandrängenden Riesen, und gleich dem herabsausenden Blitz fährt Thors Hammer gegen die Scharen der Unholde; in den Reihen der Asen wütet, Schrecken verbreitend, Lokis Sohn, der grimmige Fenriswolf; unverwundbar zeigt er sich gegen alle Waffen der Götter. Loki und Heimdall töten sich gegenseitig. Mit Mjölnir, dem Hammer, zerschmettert Thor den Kopf der Midgardschlange; doch auch für ihn ist es der letzte Kampf: der Gifthauch des sterbenden Drachen reißt den gewaltigen Asen mit in den Tod.
Tyr stößt auf Garm, den Höllenhund; doch während dieser dem Kriegsgott die Kehle zerreißt, führt der Ase mit seinem Schwerte gegen das Untier den Todesstoß.
Lange kämpft Odin mit dem Fenriswolf, der sich mit entfesselter Kampfesgier auf den Göttervater stürzt, und am Ende verschlingt der Weltenwolf Walvater.
Was hilft es, daß Widar, Odins gewaltiger Sohn, zur Rache herbeieilt und den Wolf zermalmt? Walvater, der Herr von Asgard, ist tot! Für die Asen ist das Ende gekommen.
Surtur dringt in Asgard ein und schleudert den Feuerbrand in die Halle, daß ringsum die glühende Lohe zum Himmel emporschlägt, und auch Midgard geht in der gierigen Flamme auf. Die ganze Welt geht in Flammen auf, und die wohlgefügte Ordnung des Weltalls, einst von den Asen in weiser Sorge geschaffen, ist dahin, der allgemeine Untergang ist da. Der Abgrund der Hel öffnet sich und verschlingt die Toten.
Schwarz wird die Sonne, die Erde versinkt. Vom Himmel fallen die heiteren Sterne.
Glutwirbel umwühlen die allnährende Weltesche. Die heiße Lohe bedeckt den Himmel. - So heißt es in dem Liede aus altersgrauer Zeit, und wenn Yggdrasil, der Weltenbaum, donnernd zusammenstürzt, ist die Welt der Götter und der Menschen in den Wassern versunken.
Doch bedeutet nach der Sage der ungeheure Weltenbrand, der Asgard und Midgard vernichtet hat, nicht das Ende. Das Feuer hat alles geläutert, alle Schuld gesühnt, und das goldene Zeitalter, das einst geherrscht hat, kann wiederkehren. Ein Weltentag mit seinem Guten und Schönen, aber auch mit seiner Schuld und seinen Fehlern ist abgelaufen, und ein neuer Tag ist angebrochen. Aus dem Meere, dessen Wogen die Welt der Asen verschlungen haben, erhebt sich eine neue Erde mit grünen Fluren, die keines Menschen Hand besät hat. Und wie jener erste Tag beginnt auch dieser mit dem Zustand der Unschuld und des Friedens, mit dem vollkommenen Glück.
Auch die Sonne hat eine Tochter geboren, die nicht minder schön ist als die Mutter und die nun in ihrer Bahn wandelt.
Und unter den Wurzeln der Weltesche in Urds Brunnen haben sich zwei Menschenkinder verborgen gehalten, Lif und Lifthrasir, das Leben und die Lebenskraft. Aus ihnen erwächst ein neues Geschlecht, das die Erde bewohnt.
Ein neues Asgard ersteht. Baldur, der strahlende Lichtgott und sein Bruder Hödur, der Gott der lichtlosen Winterzeit kehren aus Hels Totenreich zurück. Auch Thors Söhne, die ihres Vaters gewaltigen Hammer auf dem Schlachtfelde fanden, nehmen Besitz von den goldenen Götterstühlen. Nicht gilt es mehr, die Frost- und Eisriesen zu zermalmen; denn das finstere Riesengeschlecht ist nicht zu neuem Leben erstanden; nur friedlichem Tun dient der Hammer. Ungetrübter Friede herrscht von nun an in den himmlischen Höhen.
Beowulf
Im Gotenreiche, das der weise König Hygelac beherrschte, lebte vorzeiten der junge Beowulf, der zu des Landes tapfersten und stärksten Kriegern zählte. Schon als Knabe hatte er sich durch seine Kühnheit hervorgetan, als er einst in voller Rüstung weit ins Meer hinausgeschwommen war, um die Seeungeheuer zu bekämpfen. Eine ganze Nacht hatte er dort in dem brandenden Meer zugebracht und viele der Unholde, die ihre Fangarme nach ihm ausstreckten, besiegt.
Eines Tages kam an des Königs Hof ein dänischer Spielmann, der sang von der herrlichen Burg, die sein Herr, der König Rudigar von Dänemark, sich erbaut hatte. Staunend hörten die Helden von den säulengeschmückten, schimmernden Hallen, und mit Ingrimm vernahmen sie von Grendel, einem schrecklichen Moorgeist, der dort sein Wesen trieb und den König mit seinen Mannen in Furcht und Schrecken hielt.
Nachdem der Sänger sein Lied beendet hatte, trat Beowulf vor König Hygelac und bat um Urlaub. Er wollte den Kampf wagen und den Dänenkönig aus seiner schweren Bedrängnis befreien. Der König und seine Ratgeber billigten die gefährliche Reise, obgleich ihnen der tapfere Beowulf lieb war.
Mit vierzehn Waffengefährten bestieg der junge Recke ein wohlausgerüstetes Schiff, fuhr übers Meer und erreichte glücklich Dänemarks Küste und die Hirschburg, die mitten in der Heide lag. Wie staunten die Goten, als sie das mächtige Bauwerk mit Türmen und Zinnen erblickten, das in der Morgensonne funkelte und glänzte wie Walhall, der herrliche Wohnsitz der Götter!
Der alte König Rudigar empfing die Gäste freundlich und ließ sie ihre reisemüden Glieder ausruhen. Aber nur mit Sorge hörte er von dem Entschluß Beowulfs, den grimmigen Moorgeist zu bekämpfen. "Schon so viele meiner besten Mannen hat er umgebracht", seufzte der König, "daß wir uns zur Nachtzeit immer vor ihm bergen müssen."
Beowulf jedoch blieb entschlossen, Grendel zu besiegen oder sein Leben zu lassen.
Als die Dämmerung kam, wagte keiner der Dänenkrieger, in der Halle zu bleiben. Beowulf aber gebot seinen Kriegern zu ruhen. Er selber löste den Harnisch und legte das Schwert beiseite; denn er wußte, daß der Unhold Grendel mit Waffen nicht zu besiegen war. Auch wollte Beowulf den Kampf mit dem Gegner unter gleichen Bedingungen bestehen.
Mitternacht war es, als ein riesenhafter Schatten lautlos über die Schwelle glitt. Er griff nach dem ersten der schlafenden Gotenkrieger und verschlang ihn. Dann streckte er seine gewaltige Faust nach Beowulf aus. Dieser ergriff sie mit solcher Kraft, daß der Unhold wild aufbrüllte. Nun begann ein hartes Ringen, immer fester umklammerte Beowulf den feuchten, scheußlichen Leib. Die Halle erbebte unter dem Stampfen der Kämpfenden, und todesmutig stürzten die Gotenkrieger herbei, ihrem Herrn zu helfen. Doch nicht Schwert noch Speer konnten der Zauberkraft des schrecklichen Grendel etwas anhaben. Um so fester aber war Beowulfs klammernder Griff. Zwar entkam ihm der Unhold mit grausigem Geheul, aber den Arm samt der Achsel mußte er dem Helden zurücklassen.
Die dänischen Recken eilten herbei, mit Grauen und mit Jubelruf bestaunten sie Beowulfs Siegesbeute. Man folgte der Blutspur des Todwunden, die sich durch die Heide bis an den Rand des brodelnden und gärenden Moores hinzog. Schon auf dem Heimritt kündete der Sänger in einem Preislied von Beowulfs Tat. Zu Ehren des Helden ließ König Rudigar ein großes Fest herrichten und beschenkte Beowulf und seine Männer mit kostbaren Gaben.
Bis in die Nacht währte das Fest bei Met und fröhlichem Saitenspiel, bei Jubel und Becherklang.
Doch es gab ein schreckliches Erwachen. Denn war Grendel auch tot, so lebte seine Mutter, das schreckliche Moorweib. Lechzend nach Rache, mit Feuerflammen in den Augen, stieg sie aus der Tiefe des Moores herauf, folgte der Todesspur ihres Sohnes und drang in die Hirschburg ein. Sie packte den ersten besten der Schlafenden, einen Vertrauten König Rudigars, schlug ihre Krallen in seinen Leib und entkam mit ihrer Beute, ehe die Krieger zum Schwerte greifen konnten. Wie Hohn hallte aus der Ferne das schrille Gelächter der Unholdin durch die Nacht.
Entsetzt über solchen neuen Frevel standen die Goten ratlos. Doch Beowulf sprach ihnen Mut zu. "Allvater hat den Weltenlauf so geordnet," rief er, "daß gute Tat den Sieg behält über bösen Spuk und über alle bösen Geister!"
Dann ritten Rudigar und Beowulf mit ihren Mannen dem Grendelmoore zu, dessen brodelndes Brausen schon aus der Ferne zu hören war. Die Pferde bäumten sich, zitterten vor Furcht, je mehr sie sich dem unheimlichen Ort näherten. Auch den Waffengefährten bebten die Hände, als sie Beowulf wappneten. Der junge Recke wandte sich zum Abschied an König Rudigar, dann faßte er seinen mächtigen Speer und sprang in voller Rüstung in die gähnende Tiefe.
Auf dem Grunde des Moores mußte er einen Kampf auf Leben und Tod mit dem furchtbaren Moorweib bestehen. Mochte Beowulf auch sein gutes Schwert Rausching auf ihr Haupt niedersausen lassen, der Zauber schützte sie vor jeder Verwundung. Sie packte den Helden mit den Eisenkrallen ihrer Hände, trug ihn in ihre trockene Halle und rang ihn mit übermenschlicher Kraft zu Boden. Nur der gute Harnisch schützte Beowulf vor dem Tode. Da gewahrte er an der Wand des Gewölbes ein altes Schwert des Riesengeschlechtes, eine Waffe aus der Vorzeit. Es gelang ihm, dieses zauberstarke Schwert zu fassen, und mit ihm tötete er die Moorfrau. Dann schlug er Grendels Leichnam, den er in der Halle fand, das Haupt ab.
Lange Stunden hatten die Waffengefährten auf Beowulfs Rückkehr warten müssen. Wie jubelten sie, als der Strudel ihn plötzlich jäh in die Höhe riß und aus dem quirlenden Schaum emporhob! Bei sich führte er als Siegeszeichen den Schwertgriff der Riesenwaffe und das blutige Haupt Grendels.
Bald darauf schied Beowulf reich beschenkt von Rudigars Hofe. Der greise König, dem der Abschied sehr schwer fiel, vergoß Tränen des Dankes, als er den Helden ziehen ließ.
In hohen Ehren diente Beowulf nun wieder seinem König im Gotenlande. Als Hygelac und sein Sohn darauf im Kriege unter den scharfen Schwertern der Friesen den Tod fanden, schien niemand würdiger, die Krone zu tragen, als der tapfere Beowulf. In Milde und Gerechtigkeit führte er das Zepter, und kein Feind wagte es, sich gegen ihn und sein Reich zu erheben.
Doch eines Tages wurde der Friede plötzlich gestört. Feuersglut wälzte sich von den Bergen herab in die friedlichen Täler und verbrannte Burgen und Gehöfte, mit dem Morgen klomm der Brand wieder die Höhen hinan. Und Nacht für Nacht geschah das gleiche.
Ein Drache war es, der sich dort oben im Gebirge eingenistet hatte. König Beowulf, ob er auch alt geworden war, zögerte nicht, den Kampf gegen das Ungeheuer aufzunehmen. Er ließ sich einen Schild schmieden, der ihn vor dem Drachengift schützen sollte, und wagte mit elf ausgewählten Männern den furchtbaren Kampf. Ein Funkenregen sprühte über die Helden hin und nahm ihnen den Atem. Beowulf versuchte, den Kampf gegen den feuerspeienden Drachen allein zu bestehen; aber an der Zauberkraft der schuppigen Hornhaut zersprang sein gutes Schwert, und er empfing von dem Ungeheuer eine schwere Wunde. Seine Gefährten hatten sich in den Wald geflüchtet. Nur Wiglaf, sein treuer Waffenbruder, kam ihm zu Hilfe und traf den Drachen in die ungeschützten Weichen. Und Beowulf, obwohl aus furchtbaren Wunden blutend, stieß dem Untier den Speer in die Seite, daß sein glühender Atem verwehte und es röchelnd verendete.
Aber der Sieg über das Ungeheuer kam die Goten teuer zu stehen; denn der Drache riß Beowulf, den herrlichen Helden, mit sich in den Tod: das Drachengift und die schweren Wunden hatten Beowulfs Lebenskraft zerstört. Bevor Beowulf starb, hatte er Wiglaf die Schätze vor sich ausbreiten lassen, die er dem Drachen entrissen hatte.
Mit hohen Ehren bestatteten die Goten ihren toten Heldenkönig, der ein Vorbild tapferen, ruhmreichen Lebens gewesen war. Ein mächtiger Scheiterhaufen wurde aufgeschichtet, auf dem Beowulf in blinkender Rüstung, so wie er stets zum Kampfe ausgezogen war, ruhte; er sollte nicht waffenlos einziehen in die strahlende Halle der Götter. Die Edelinge umritten den riesigen Feuerbrand, und dann errichteten sie einen hohen Grabhügel am Vorgebirge, der weithin über die See sichtbar war. Der fluchbeladene Schatz wurde - wie es Beowulf befohlen hatte - dem Helden mit ins Grab gegeben.
Daidalos und Ikaros
Daidalos, der Bildhauer und Baumeister Athens, galt als der kunstfertigste Mann seiner Zeit. Aber auch er war nicht frei von Eitelkeit und Eifersucht. Er gönnte seinem hochbegabten Schüler Talos, der schon in jungen Jahren die Töpferscheibe und die Säge erfand, nicht den frühen Ruhm und fürchtete, durch des Talos Erfolge sein Ansehen zu verlieren. Schließlich übermannte ihn der Neid und trieb ihn, seinen Schüler hinterrücks von Athens Burg hinab in den Tod zu stürzen.
Man überraschte den Mörder, als er den Leichnam begrub, und wollte ihn vor Gericht stellen. Doch Daidalos konnte entweichen; seinen Sohn Ikaros nahm er mit sich auf die Flucht. Nach langem Umherirren gelangten beide nach der Insel Kreta, wo König Minos sie gastfrei aufnahm. Auf dessen Geheiß schuf der kunstfertige Baumeister das Labyrinth, einen Irrgarten mit unzähligen gewundenen Gängen, der dem gräßlichen Minotaurus, der halb Mensch und halb Stier war, als Behausung dienen sollte. Aber trotz der hohen Ehrungen, mit denen Minos die Arbeit belohnte, verzehrte sich Daidalos in Sehnsucht nach seiner Heimatstadt Athen. Allzu deutlich spürte er das Mißtrauen, mit dem Minos jeden seiner Schritte überwachen ließ, um ihn an der Flucht zu hindern. Doch nicht umsonst besaß Daidalos als Geschenk der Götter den erfindungsreichen Geist. ,"Mag Minos mir auch Land und Wasser versperren" sagte er zu Ikaros, "so bleibt mir doch der weite Himmelsraum. Über ihn hat Minos keine Gewalt!"
Aus Vogelfedern, die er sorgsam geordnet mit Fäden verknüpfte und mit Wachs verklebte, schuf er mit geschickten Händen ein Paar großer Flügel. Lächelnd ließ er es zuweilen geschehen, daß sein Sohn Ikaros sie zur Hand nahm und sich in kindlichem Eifer mit ihnen versuchte. Auch für ihn fertigte er ein Paar, der Größe des Knaben angemessen.
Eines Tages legte Daidalos selbst sich die Flügel an, schwang sich zur Probe auf ihnen in die Lüfte und schwebte leicht wie ein Vogel dahin. Eindringlich belehrte er dann den Sohn: "Hüte dich davor, zu hoch zu steigen, Ikaros, daß nicht in der Nähe der Sonne deine Flügel Feuer fangen oder das Wachs schmelze, und senke den Flug nicht zu tief aufs Meer hinab, damit nicht dein Gefieder, von der Feuchtigkeit beschwert, dich in die Wogen hinabziehe! Halte dich immer in der Mitte!"
Mit zitternden Händen knüpfte er sodann dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, umarmte ihn zärtlich - und empfahl ihn einem gütigen Geschick.
Daidalos flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine Brut zum ersten Male aus dem Nest führt. Doch der Knabe folgte so sicher den Weisungen, daß der Vater sich bald beruhigte. Schnell überflogen die Vogelmenschen das Meer und die Inseln, schon lagen Samos und Delos hinter ihnen.
Aber Ikaros hatte der sichere Flug allzu zuversichtlich gemacht, er vergaß des Vaters Mahnung und hob sich auf seinen Flügeln höher und höher empor, der Sonne entgegen.
Des Daidalos angstvoller Klageruf erreichte den Knaben nicht mehr. Die brennenden Sonnenstrahlen erweichten das Wachs, das die Flügel verband, und bevor Ikaros es noch recht gewahr wurde, hatten die Flügel sich von seinem Körper gelöst. Verzweifelt schwang der Knabe die nackten Arme dann stürzte er haltlos in die Tiefe. Noch ehe er den Vater zu Hilfe rufen konnte, hatten ihn die Wellen verschlungen.
Als Daidalos den Blick zurückwandte, konnte er den Sohn zu seinem Entsetzen nirgends entdecken. "Ikaros! Ikaros!" rief er verzweifelt. Endlich erspähte er in der Tiefe ein paar Federn, die auf den Wellen einsam trieben, und er erkannte die grausige Wahrheit.
Da senkte Daidalos sich zur Erde nieder. Das Herz voll Gram und Trauer, irrte er am Ufer umher, bis die Wellen den Leichnam des Sohnes an den Strand spülten. Zum Gedenken an den unglücklichen Jüngling, der hier sein Grab fand, trägt die Insel seither den Namen Ikaria.
Prometheus
Auf der jungen Erde grünten und blühten Blumen, Kräuter und allerlei Pflanzen, Tiere belebten das Meer und die Luft und den Erdboden. Doch fehlte das Wesen, das zum Herrn der Welt bestimmt ist: der Mensch.
Da stieg Prometheus zur Erde nieder. Er war dem alten Titanengeschlecht entsprossen, das Zeus einst vom Throne gestoßen hatte, und besaß die Gabe erfindungsreicher Klugheit. Aus feuchtem Ton formte er ein Wesen nach dem Bilde der Götter, und danach entlieh er ihm von den Tierseelen gute und schlechte Eigenschaften. Pallas Athene fand an diesem Geschöpf so viel Gefallen, daß sie ihm göttlichen Odem und Geist einhauchte.
Lange währte es, bis die ersten Menschen es lernten, ihre Glieder und Sinne recht zu nutzen. Sie verstanden es nicht, Häuser aus Stein und Holz zu bauen, und wußten auch nicht die Folge der Jahreszeiten zu unterscheiden.
Da machte sich Prometheus zu ihrem Lehrmeister in allem Wissen, das zum rechten Leben erforderlich ist. Er unterwies sie in der Beobachtung der Gestirne und lehrte sie die Zahlen und die Buchstabenschrift. Von ihm lernten die Menschen, die Tiere zu zähmen und sich dienstbar zu machen, auf Schiffen die See zu befahren, Häuser zu bauen und vielerlei Künste und Bequemlichkeiten des Lebens.
Für den Schutz, den die Olympischen den Sterblichen gewährten, verlangten sie Verehrung und Opfer. Prometheus aber machte sich zum Fürsprecher seiner Geschöpfe und scheute sich nicht, die Götter mit List um die Opfer zu betrügen. In seinem Unwillen über solche Unbotmäßigkeit versagte Zeus, der Weltenherrscher, den Menschen die wohltätige, segensreiche Gabe des Feuers.
Indessen wußte der schlaue Prometheus sich zu helfen. Er näherte sich mit einem riesigen Halm dem Sonnenwagen des Helios, entzündete ihn an einem der glühenden Räder und schenkte den Menschen die göttliche Kraft des Feuers.
Voll Zorn über diesen Frevel sann Zeus darauf, die Macht der Menschen einzudämmen. Er sandte ihnen Unheil in Gestalt einer wunderschönen Jungfrau, die der kunstfertige Hephaistos geschaffen hatte. Alle Götter hatten ihr eine unheilbringende Gabe für die Menschen mitgegeben, und darum hieß sie die Pandora, die Allbeschenkte.
Arglos nahmen die Menschen sie auf, gutgläubig ließ sich Epimetheus trotz der Warnung seines Bruders Prometheus eine kunstvolle Büchse aus Gold von ihr zum Geschenk machen. Kaum aber hatte er den Deckel geöffnet, da entwichen aus der Büchse alle Übel, Krankheiten und Qualen, die sie barg: sie verbreiteten sich über die Erde und überfielen - doppelt gefährlich, weil sie lautlos nahten - die wehrlosen Sterblichen.
Nur ein einziges Gut enthielt Pandoras Büchse, die Hoffnung. Bevor aber diese herausflattern konnte, verschloß die Abgesandte des Weltenbeherrschers ihre Büchse und versagte so den armen Menschen den letzten Trost.
Zeus aber war mit dem Ausmaß der Strafe noch nicht zufrieden, seine Rache sollte vor allem Prometheus treffen. Ohne Erbarmen ließ er ihn in die wildeste Einöde des Kaukasus schleppen und dort von Hephaistos an eine Felswand schmieden.
Aufrecht stehend, ohne je die müden Knie beugen zu können, hing der unglückliche Prometheus an der Klippe, schlaflos und ohne Trank und Speise. Zu seiner Qual kam täglich ein Adler und fraß von seiner Leber, die sich immer wieder erneuerte.
Lange überließ Zens den Verdammten seiner entsetzlichen Qual. Erst als Herakles auf seiner Wanderung des Weges kam, sollte Prometheus erlöst werden. Der Held erlegte mit seinem starken Bogen den Adler und befreite den unglücklichen Prometheus, der es gewagt hatte, dem göttlichen Willen die Stirn zu bieten. Damit Zeus' Urteil nicht unvollzogen bliebe, mußte Prometheus fortan einen eisernen Ring tragen, an dem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand.
Robin Hood
Wer von der Höhe der Zinnen von Nottingham, der festen Stadt, herabblickt, erkennt in der Ferne einen dunkelgrünen Waldstreifen. Das ist der Sherwood, der sich weit durch das englische Land zieht. Dort lebte zur Zeit des Königs Richard, den alles Volk wegen seines hochgemuten, tapferen Wesens "Löwenherz" nannte, als Waldvogt Herr Hugh Fitzooth von Locksley. Er war ein Nachfahre der angelsächsischen Geschlechter, die einst mit ihren Drachenschiffen zur britischen Insel gestoßen waren und dort seither als Freisassen gelebt hatten. Als dann vor drei Menschenaltern die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer das Inselreich in ihre Gewalt gebracht hatten, waren die angestammten Sachsen gezwungen, sich der Befehlsgewalt der Normannen zu beugen, aber deren Herrschaft war verständnisvoll und milde gewesen, solange Richard Löwenherz sie ausübte. Er war gerecht und großherzig, und darum liebten ihn auch die Sachsen. Keiner der königlichen Statthalter, der Grafen und Barone, mißbrauchte seine Gewalt, denn sie sahen sich von dem rechtlich denkenden König Richard überwacht. Das wußten die Sachsen dem Normannenkönig zu danken, und besonders hatte er ihre Zuneigung gewonnen, seit er ihnen die alten Rechte - vor allem das Jagdrecht - wiedergegeben hatte.
Doch nun war König Richard außer Landes, er machte einen Kreuzzug in das Heilige Land, um das Grab des Erlösers vor dem Zugriff der "Ungläubigen" zu schützen. Als Stellvertreter hatte er seinen Bruder, den Prinzen Johann, eingesetzt und ihm die Regentschaft übertragen.
Der Prinz - das Volk nannte ihn verächtlich "Johann-ohne-Land" - war ein schlechter Sachwalter des Willens seines königlichen Bruders. In seinem Haß gegen die heimatstolzen Sachsen, die sich nicht der Fremdherrschaft beugen wollten, schrak Johann nicht davor zurück, ihnen angestammte Rechte zu versagen. Leichtfertig setzte er sich darüber hinweg, daß König Richard ihnen das altüberlieferte Recht zu jagen ausdrücklich zugestanden hatte, und er verbot ihnen die Jagd; der hartherzige Prinz wußte genau, daß ein Sachse ohne sie nicht leben kann.
Seit Johanns neue Gesetze galten, hatte Hugh von Locksley sein Amt als königlicher Waldvogt verloren. Er mußte sich darüber im klaren sein, daß die Vögte des Prinzen Johann jede Übertretung des Verbots mit unnachsichtiger Härte ahnden würden, denn der Prinz hatte ihnen eingeschärft, notfalls jeden Trotz mit Gewalt zu brechen.
In bitterer Unzufriedenheit hauste der sächsische Edeling mit Frau und Kind, seinem Sohn Robert, den sie Robin nannten, in seiner festen Burg am Rande des riesigen Waldes. Der Sherwood war seine Welt, von den Vorfahren ererbt, und er war von Jugend auf gewohnt, hier zu jagen - nun war ihm durch Prinz Johanns ungerechtes Verbot alles Lebensglück zerstört.
Wie König Richard seinen Grafen und Baranen milde und gerechte Verwaltung befahl und diese überwachte, so betrieb Prinz Johann mit aller Strenge die Durchführung seiner neuen Befehle. In der festen Stadt Nottingham hatte er als seinen Vogt den Grafen de Lacy eingesetzt, einen grimmigen, hartherzigen Mann, der wie sein Herr die Sachsen haßte. Er mißtraute dem Gehorsam des Waldvogts von Locksley, und heimlich ließ er Herrn Hugh Fitzooth überwachen - er hoffte, man werde ihn bei einer gesetzeswidrigen Handlung überraschen und dann strenger Strafe zuführen können.
Die Mutter wollte, daß der Sohn Geistlicher würde, doch für den standesstolzen Edeling gab es keine Frage, daß Robin im Walde lebte wie er. "Jäger will ich werden wie der Vater", sagte auch Robin selbstbewußt, "und unserm König Richard, wenngleich er Normanne ist, will ich dienen, denn er ist ein guter König, und ich will mit ihm hinausziehen und große Taten vollbringen."
Der Vater wußte, was ein sächsischer Edeling an Waffenkunst beherrschen muß. Von ihm lernte Robin die Kunst, mit dem Wolfsspieß zu werfen, vom Vater lernte er die Kunst des Bogenschießens, in der Herr Hugh Fitzooth Meister war, und der Vater nahm ihn in harte Lehre, um ihn im Stockfechten zu unterweisen. Später sollte an die Stelle des schweren Eichenknüppels das Sachsenschwert treten.
Harte Tage, harte Wochen waren es für Robin, so hart, daß mancher Jüngling vielleicht den Wunsch der Mutter erwägen würde, Bücher zu lesen, um Geistlicher zu werden.
Nicht so Robin. Wenn er abends mit lahmen Gliedern und zerschundenen Knochen auf sein Lager sank, dann dachte er nicht zurück, sondern nur vorwärts: Wie hätte ich dem Schlag besser ausweichen können, wie treffe ich des Vaters Stock härter, um ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Bald war Robin Hood, erst sechzehn Jahre alt, unübertrefflich im Stockfechten, im Werfen mit dem Wolfsspieß, im Bogenschießen.
Graf de Lacy, der Sheriff des Landes, hatte in seiner Stadt Nottingham ein Wettschießen mit dem Bogen angesagt. Nur widerwillig war Herr Hugh der Aufforderung gefolgt. Robin begleitete den Vater. Die beiden wußten nicht von der Absicht des Sheriffs: mit einer Niederlage in dem Preisschießen wollte er ihr Ansehen herabsetzen. Er war fest überzeugt, daß Red Gill, der Führer seiner Leibgarde, den Wettkampf gewinnen werde.
Die Zuschauer beim Wettschießen jubelten laut, als die Besten sich zur Entscheidung stellten. Immer weiter hatte man die Scheibe abgerückt, immer mehr der Bewerber waren ausgefallen. In der Ehrenlaube saß Prinz Johann. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, das Festspiel zu besuchen.
Nun standen, wie vorausgesehen. nur noch drei der Besten auf dem Platze. Es war Gill, der Rothaarige, es war Hugh Fitzooth, der sächsische Freisaß, es war Robin, sein Sohn.
Der Herold trat in die Schranken: Die Scheibe wurde jetzt auf hundert Schritt Entfernung gerückt. Es ging um die letzte Entscheidung.
"Den ersten Schuß hat Red Gill!" Laut klang des Herolds Stimme über den Platz.
Der Aufgerufene trat vor, hob den Bogen, legte den Pfeil ein und zielte lange. In der fürstlichen Laube verfolgten Prinz Johann und sein Sheriff voller Spannung den schwirrenden Pfeil. "Das nenne ich eine Leistung!" rief der Regent begeistert: "Auf solche Entfernung noch den Rand des Zentrums zu treffen!" De Lacy, der Sheriff, nickte dienstbeflissen. "Ja, mein Fürst, kein Schütze in England kommt ihm gleich!"
"Es folgt der zweite Bewerber, Herr Robin Fitzooth", ertönte des Herolds Ansagen.
"Der junge Mann sollte lieber auf seinen Schuß verzichten", meinte Prinz Johann und blickte gleichgültig zu Robin hinüber.
Ruhig, als sei es etwas ganz Alltägliches, legte Robin den Pfeil ein, schätzte mit dem Auge die Entfernung und zielte sorgfältig. Dann ließ er den Pfeil schwirren. Aus der Frauenlaube hörte man Jubelrufe:
"Ins Schwarze!"
"Das nenn ich Glück", stieß der Sheriff bissig hervor, während die Menge wie rasend vor Begeisterung tobte.
Als der Beifall langsam verebbte, trat der Herold wieder vor. "Als dritter Bewerber schießt Herr Hugh Fitzooth."
Jedermann sah, Robins Schuß war nicht zu übertreffen.
Herr Hugh nahm Aufstellung, sichtete kurz und ließ den Pfeil aus der Sehne schnellen.
War so etwas möglich? Sein Geschoß hatte Robins Pfeil, der genau im Zentrum steckte, in zwei Teile gespalten! "Solch einen Meisterschuß sieht man nicht in jedem Menschenleben!" rief ein weißbärtiger Alter ganz außer sich. Die Menge war wie von Sinnen in ihrem Jubel.
Die glücklichen Schützen rief man vor die Frauenlaube, wo die Königinmutter den Sieger ehren sollte. "Majestät", sagte Herr Hugh, "gebt den Preis dem Schützen, dessen Pfeil zuerst das Zentrum traf!"
Doch sie schüttelte lächelnd den Kopf und überreichte ihm den kostbaren Siegespreis.
Da trat ein Bote vor Herrn Hugh: "Der Sheriff läßt Euch auffordern, mit Eurem Sohne vor ihm zu erscheinen!"
Den Vater durchzuckte es ahnungsvoll: das war das Verhängnis, das er nahen sah.
Robin spürte des Vaters Besorgnis. "Ach was", flüsterte er ihm zu, "er will uns doch nur zu unserm Siege beglückwünschen."
"Gott geb es", murmelte der Vater.
Als sie vor dem Gestrengen erschienen, nickte er ihnen wohlwollend zu. "Gute Schützen seid ihr, Vater und Sohn", sagte er und blickte sie prüfend an. "Ich habe eine Frage an euch."
Beide blickten den Sheriff erwartungsvoll an. Würde sich des Vaters Besorgnis jetzt erfüllen?
"Gute Schützen kann ich gebrauchen", sagte der Sheriff langsam, "es gibt so viel widersetzliche Menschen, die es zum Gehorsam zu zwingen gilt. Wollt ihr nicht in meine Leibgarde eintreten?"
"Mein Pfeil richtet sich nicht auf Menschen", sagte Vater Hugh hart. "Ich liebe meine Freiheit."
"Und ich nicht weniger, Herr Sheriff", fügte Robin schnell hinzu, "auch ich tauge nicht für solchen Herrendienst."
"So frech wagt ihr mir zu trotzen?", fuhr de Lacy auf. "Erbärmliches Sachsengesindel!"
Hugh Fitzooth wollte aufbegehren, doch der Sheriff winkte böse ab. "Kein Wort mehr von solchen anmaßenden Frechlingen! Ihr werdet von mir hören!"
Die Drohung war nicht von ungefähr. Noch am Abend machten Vater und Sohn sich auf den Rückweg. Sie sehnten sich nach ihrem festen Hause und nach der Waldeseinsamkeit. Beide wußten nicht, was der Sheriff seinem treuesten Gefolgsmann und besten Bogenschützen zugeflüstert hatte. Heimlich folgte Red Gill den Fitzooths mit einer kleinen Schar wendiger und kampferprobter Reiter.
Gedankenvoll ritten Vater und Sohn durch den dunkelnden Wald. "Wer sich gegen de Lacy aufzulehnen wagt, tut gut daran, auf der Hut zu sein", sagte er eben, zu Robin gewendet - da schwirrte ein Pfeil durch die Luft, und sofort folgte auch ein Schrei. Voller Entsetzen blickte Robin zur Seite: zwischen des Vaters Schulterblättern haftete das Geschoß! Schon taumelte der Alte - jetzt brach er zusammen.
Erschüttert kniete Robin vor ihm: "Vater, lieber Vater!" keuchte er.
"Das war des Sheriffs Geschoß!" stieß Hugh Fitzooth aus. Als Robin sich über den Vater beugte, spürte er, wie das Herz zu schlagen aufhörte.
Woher war der Schuß gekommen? Vorsichtig erhob sich der Junge und spähte nach allen Seiten. In diesem Augenblick schwirrte etwas durch die Luft. Robin warf sich beiseite - über ihm im Baumstamm stak zitternd ein zweiter Pfeil!
Robin hatte den Bogen von der Schulter gerissen und schlich in die Richtung des unsichtbaren Schützen. Da bekam er ihn zu Gesicht. "Dachte ich es doch", stieß er hervor, "es ist Red Gill, dieses feige Werkzeug des Sheriffs!"
Red Gill schlich sich an, um die Wirkung seines Schusses festzustellen. Als er sich eine kleine Blöße gab, fuhr Robins Schuß ihm mitten ins Herz.
Eben wollte er sich wieder dem toten Vater zuwenden, da hörte er hinter sich Hufgetrappel. "Dort ist der Mörder!" schrien mehrere Stimmen. "Los, packt ihn!"
Es ging um Sekunden. Wieselgleich suchte Robin hinter den Stämmen Schutz, wand sich durchs dichte Unterholz, wo die Pferde keinen Weg finden, und ließ das Waldesgrün über sich zusammenschlagen.
Mehrere Tage irrte Robin durch den Wald, um den Häschern zu entgehen. Erst als sich der dritte Abend herab senkte, wagte Robin sich aus seinem Versteck. Vorsichtig pirschte er sich um die Waldecke, um das freie Feld zu überqueren, an dem das Elternhaus sich vor dem jenseitigen Waldrand erhob. Er würde nur auf einen Sprung einkehren, um der Mutter vom Tode des Vaters zu berichten. Er würde ihr raten, zum Onkel Gamewell, dem alten Landedelmann in Norfolk, zu ziehen, bis bessere Zeiten kämen.
Ich darf mich nicht lange bei der Mutter aufhalten, dachte Robin bitter bei sich selber. Ich werde... Da, was ist das? Welch seltsame Abendbeleuchtung, daß er das feste Haus am Waldrand nicht erkennen konnte? Narrte ihn etwa ein Trugbild?
Bin ich wahnsinnig geworden? durchfuhr es Robin wild.
Nein, es war kein Trugbild, was sich dort seinen Augen zeigte. Wo einst das Elternhaus stand, hoben sich verkohlte Mauerreste gegen den Abendhimmel ab. Noch qualmte es zwischen den Ruinen. Wie in stummer Anklage ragte der alte Turm über den zusammengestürzten Mauern empor.
Fassungslos stand Robin vor den noch schwelenden Trümmern des Hauses, in dem er einst mit Vater und Mutter glücklich war. Ganz gebrochen trat der Hausverwalter zu seinem jungen Herrn.
"Wo ist meine Mutter?" stieß Robin heiser hervor.
Der treue Mann hatte sie abseits von den Trümmern auf eine Felldecke gebettet. Dort lag sie unter freiem Himmel. Nur mit größter Vorsicht konnte Robin es wagen, in ihrer Nähe zu bleiben, denn jeden Augenblick mußte er gewärtig sein, daß des Sheriffs Häscher zurückkehrten, um ihn zur Stadt zu schleppen. Und dabei war es der Mutter anzusehen, daß sie in den letzten Zügen lag. Als sie von dem schrecklichen Ende ihres Ehemannes hörte, sank ihr der Kopf zur Seite; der unendliche Schmerz brach ihr das Herz.
So wurde Robin ein Geächteter, ein "outlaw", das heißt ein Mann außerhalb der Gesetze. Die Landesgesetze, die für ihn galten, besagten, niemand dürfe ihm helfen, ihm Nahrung und Trank reichen, niemand dürfe ihm Obdach gewähren. Robin Hood war vogelfrei!
Die Mutter war gestorben - an gebrochenem Herzen, sagten die Leute mit Recht. Das Hausgesinde von daheim war in alle Winde verstreut; nur Muck, der Reitknecht, hatte seinen jungen Herrn nicht verlassen wollen.
Tief drinnen im Dunkel des Sherwood-Waldes, wo man sich vor dem Arm des Sheriffs sicher fühlen darf, hatten die beiden ihr Freiheitsasyl gefunden. Was scherte es sie, daß sie auf nacktem Boden schlafen mußten, mit dem Laub der Waldbäume zugedeckt! Was scherte es sie, daß die Mahlzeiten karg waren und die Nächte kalt.
Bald hatten sie, wo der Wald am dichtesten war, sich ein Lager eingerichtet. Mit Eschenbogen und Hirschfänger bot der Wald Nahrung genug, und der sprudelnde, frische Waldbach gewährte Trunk in Fülle.
Wie herrlich ist es, durch den Wald zu streifen, wenn der Tau noch auf Gräsern und Zweigen liegt, wenn die Vögel erwachen und die Sonne langsam über den Waldrand klettert. Wie schön ist die Gottesnatur in der unberührten Morgenstille.
Bald sammelten sich um Robin Hood Männer, die geächtet und vogelfrei waren wie er, alle entschlossene Gesellen, die die Fremdherrschaft der Normannen haßten wie er. Da war Klein John, ein ungefüger, bärenstarker Kerl, der wie Robin ein Meister im Stockfechten war, und Bruder Tuck, ein entlaufener Mönch; da war Muck, des Oheims getreuer Knecht, dazu die drei Brüder Huggins, denen die Normannenschergen das Elternhaus niedergebrannt hatten, weil die bedrängten Bauern die Steuern nicht bezahlen konnten. Immer mehr dieser tollkühnen, wildentschlossenen Freiheitskämpfer stießen zu dem Haufen der Ausgestoßenen.
Wenn Ritter de Lacy, der Sheriff von Nottingham, von der Höhe seiner Stadtburg über das weite englische Land sah, wandte er nur ungern seinen Blick zu dem grünen Waldstreifen hinüber, denn mochte er auch Herr über die weite Stadtumgebung sein: in den Sherwood reichte seine Macht nicht, denn dort hausten die sächsischen Outlaws - und Robin Hood war ihr Führer und der König des grünen Waldes, denn er war der kühnste und verwegenste und klügste unter ihnen.
Bald traute sich kein Normanne mehr in den Sherwood-Wald hinein, so gefürchtet waren Robin und seine tollkühnen Gesellen. Man erkannte sie an dem Lincolnrock, den sie trugen, aber dieses waldgrüne Tuch machte sie unsichtbar. So waren sie allgegenwärtig, ein Schrecken der normannischen Häscher. Auch die Reichen ringsum, die das Volk aussaugten, waren vor Robin Hoods Männern nicht sicher, denn er schonte keinen, zum Nutzen der Unbegüterten und Unterdrückten, die darben mußten.
Als Robin eines Tages durch das maiengrüne Land ritt, sah er auf einer Wiese neben der Landstraße eine seltsame Gruppe. Drei normannische Reiter waren es, die einen jungen Menschen in kanarienbuntem Gewand in die Mitte genommen hatten. Der eine ließ drohend seine Reitpeitsche spielen, der andere zerrte das Bürschlein derb am Arme, während der dritte ihm seinen Spieß vor den Bauch hielt. Sie wollten dem Spielmann das Pferd abnehmen.
Blitzschnell hatte Robin seinen Eschenbogen in der Hand, den armlangen Pfeil auf der Sehne.
"Ich pflege bedrängten Menschen zu helfen und trete ein für Recht und Billigkeit, wenn unser gutes Sachsenrecht so mit Füßen getreten wird!" So erklärte er ruhig, als die drei Normannenreiter ihn beschimpfen wollten. Ruhig brachte er den jungen Menschen in Sicherheit - und hatte der Bande der Geächteten einen neuen Freund gewonnen, einen normannischen Spielmann, der die Gesetzlosigkeit seiner eigenen Landsleute erlebt hatte.
Als die beiden dem Waldlager zuritten, leuchtete es zwischen den Baumstämmen auf. Bärtige Männer, die um die Flammen saßen, sprangen auf, als die beiden in den Kreis einritten. Ganz unbekümmert, ein echter Spielmann, klimperte Alin ein fröhliches Liedchen, während die Gesellen voll Erstaunen sein buntes Wams betrachteten. "Unser neuer Freund wird unser Schicksal teilen", rief Robin den Gefährten zu. "Willkommen sei uns jeder, der für Recht und Freiheit ist!"
Abends saßen sie wieder zusammen und wetterten über des Sheriffs Grausamkeit. "Wir sind nicht die einzigen", berichteten Abel und Fred, "viele gibt es, die geächtet und vogelfrei sind und vor ihren Häschern im Walde Schutz gesucht haben."
"So holt sie herbei", rief Robin, "wenn ihr für sie bürgen könnt. Jeden freiheitsliebenden Mann können wir gebrauchen!"
Tags darauf standen die Männer vor ihm, alles bärenstarke, hochgewachsene Sachsen, die mit dem schmalen Schwert und dem langen Bogen aus Eschenholz umzugehen wußten. Und alles entschlossene Burschen, die Prinz Johanns grausame Härte gespürt hatten und ihm voll Ingrimm den Tod an den Hals wünschten. "Willst du unsere Hilfe, Robin Hood", sagte der Führer dieser Burschen, "so wollen wir dir folgen!"
"Seid mir willkommen. Und wie ist dein Name?"
"Ich heiße Will Stutely", versetzte der Mann.
So wuchs der Haufen der Verschworenen. Und Robin Hood, der junge sächsische Edelmann, war ihr Haupt. Die Armen liebten ihn, der das freie Leben unter den Bäumen des Waldes einem Leben in Zwang und Unfreiheit vorzog; der Sheriff aber haßte diesen Freund und Helfer der Unterdrückten und sann auf Mittel und Wege, ihn zu fangen und zum Tode zu führen. Er setzte auf Robin Hoods Kopf einen Preis aus. Fünfzig Goldstücke für den, der den verhaßten Freiheitskämpfer in Ritter de Lacys Hände lieferte!
Da gaben seine Ratgeber ihm einen Vorschlag für eine Veranstaltung ein, die Robin Hood in seine Hände führen könnte. Er ließ zu einem Wettschießen aufrufen, dessen Preis ein silberner Bogen sein sollte. Sicherlich würde Robin Hood, der Meisterschütze, der Versuchung nicht widerstehen können auch wenn es mehr als Tollkühnheit bedeutete, sich in den Machtbereich des Sheriffs zu wagen.
In seinem unbändigen Verlangen, seine Kunst zu zeigen, lachte Robin Hood unbekümmert über die Bedenken seiner Gesellen. "Geh nicht, Robin," baten sie ihn, "denk auch daran, was du uns schuldig bist als unser Führer! Es wäre für dich ein Tod in Schande!"
"Für mich gibt es keine Gefahr", sagte er sorglos. "Mich fängt der Sheriff nicht. Aber was wird es für uns bedeuten, wenn jedermann weiß, daß ich in Nottingham gewesen bin und am Bogenschießen des hochgeborenen Herrn de Lacy teilgenommen und den silbernen Bogen gewonnen habe!"
Als armseliger Bettler verkleidet, betrat der Geächtete die Stadt. Niemand kam auf den Gedanken, den gefürchteten Anführer der Freiheitskämpfer vor sich zu haben.
Bunte Wimpel wehten über dem Kampfplatz, wo die festliche Menge sich erwartungsfroh drängte. In der Laube des Sheriffs hatte auch Prinz Johann Platz genommen. Da trat der Herold in die Schranken, ließ sein Horn erschallen und forderte die Bewerber auf, sich zum Wettkampf zu stellen.
Ein Murren ging durch die Menge, als man unter den Meistern des Eschenbogens den zerlumpten Bettler gewahrte. Stimmen wurden laut, daß solcher Bewerber nicht zuzulassen sei. Doch die Königinmutter, die ihr Volk liebte, sprach die Entscheidung. "Hier geht es nicht nach Rang und Stand, sondern nach der Fertigkeit im Bogenschießen", rief sie lächelnd. "Jeder Meister ist uns willkommen!"
Der Wettkampf begann. Alle trafen das Ziel, das auf sechzig Schritt gestellt war. Der Bettler, der als erster schießen mußte, schien sich gar keine Mühe zu geben, so daß es aussah, als habe er nur durch Zufall getroffen.
Weiter rückte man die Scheibe ab; schon verfehlten zwei der Herren das Ziel und mußten vom Wettkampf abtreten. Wieder wurde die Entfernung größer, und wieder mußten zwei Bewerber sich geschlagen bekennen. Als des Herolds Helfer die Zielscheibe auf hundertundzwanzig Schritt gestellt hatten, waren nur noch zwei Schützen im Spiel: Thorn Greenwood, der Führer der prinzlichen Jäger, und der unbekannte Bettler.
"Jetzt wäre Red Gill vonnöten", rief jemand in die Spannung hinein. Den einstigen Führer der Bogenschützen hätte man hier in der Tat im Wettkampf sehen mögen.
Ungeheuer war die Erregung, mit der die Menge den Wettkampf verfolgte. Einhundertundzwanzig Schritt war die Entfernung des Ziels! So klein war das Schwarze auf der Scheibe, daß es kaum noch zu erkennen war.
Jetzt ging es um die Entscheidung! Wieder schritt der Herold vor die Menge: "Wir werfen das Los, um festzustellen, wem der erste Schuß gehört!"
Das Los traf den Bettler. Mit demütiger Selbstsicherheit trat Robin vor. Er dachte an den einstigen Meisterschuß seines Vaters, dessen Schuß den im Mittelpunkt haftenden Pfeil gespalten hatte. Diese Leistung würde Thorn Greenwood nicht vollbringen. So durfte Robin seines Sieges sicher sein. Ruhig legte er den Pfeil ein, zog ihn bis hinters Ohr zurück und ließ die Sehne schnellen.
In atemloser Spannung folgten die Augen der Zuschauer dem schwirrenden Geschoß. Es traf genau in den Mittelpunkt, schwankte einen Augenblick hin und her und stand wie ein stolzer Sieger.
Der Mitbewerber wußte, daß damit seine Aussicht, ins Ziel zu treffen, dahin war. "Man hätte einen hergelaufenen Bettler nicht zum Wettkampf ehrenhafter Männer zulassen sollen", knurrte er verächtlich und trat beiseite. Ringsum wurden höhnische Stimmen laut, Jubelschreie für den Sieger. Nur mit Unwillen erklärte der Herold den Bettler zum Sieger. "Du sollst vor der Laube erscheinen", sagte er unfreundlich. "Prinz Johann selber will dich kennenlernen."
Für Robin Hood war es niemals zweifelhaft gewesen, wer den Siegespreis davontragen werde. Trotzdem schwoll ihm das Herz vor Freude; denn nicht nur der Erfolg, auch das Abenteuerglück wog alles auf.
Während er, von der Menge bestaunt, zur Laube des Prinzen hinüberging, ließ er die Blicke über den Platz schweifen. Da plötzlich stutzte er: Ringsum zwischen den Zuschauern gewahrte er zu seiner Überraschung die Gesichter seiner verwegenen Gesellen - da hatten sie sich doch in die Stadt gewagt, die treuen Freunde, um ihm in der Stunde der Gefahr zur Seite zu stehen! Alle waren verkleidet; aber Robin erkannte sie in ihren Altweiberröcken und Bauernmänteln, in den Mönchskutten und Fuhrmannskitteln.
Da packte den Freiheitskämpfer wieder die verwegene Abenteuerlust: Heute wollte er einen Streich wagen, den der Sheriff sein Lebtag nicht vergessen sollte!
Herr de Lacy hatte gedacht, seinen Feind in eine Falle zu locken, als er das Wettschießen verkünden ließ, und nun fühlte er sich enttäuscht, daß Robin es nicht gewagt hatte zu erscheinen. Mehrfach hatte der Sheriff die Gestalt des Bettlers gemustert. Sollte er etwa der Gesuchte sein? Aber nein, so sah Robin Hood nicht aus.
Jetzt stand der Freiheitsheld vor dem verhaßten Mann. Gleichgültig blickte er an ihm vorbei. Den Kopf etwas gesenkt und in kraftloser Haltung. "Du hast den Wettkampf gewonnen", begann der Sheriff, und aus seiner Stimme war deutlich zu spüren, wie ungern er diesem zerlumpten Strauchdieb die Anerkennung aussprach. "So empfange nun den Siegespreis; doch zuvor muß ich dich auffordern, uns deinen Namen zu nennen!"
"Was tut er zur Sache, Herr", versetzte der Bettler mit krächzender Stimme. "Was kann Euch hochgeborenen Herrn ein armer, namenloser Waldläufer kümmern, der..."
"Nenne uns deinen Namen", unterbrach ihn der Sheriff ungehalten, "so wie es Brauch ist unter ehrbaren Menschen . . ." Er stutzte voller Entsetzen, denn was nun geschah, mußte ihm den Atem rauben.
"Ja, Ritter de Lacy, so hört meinen Namen und seht, wer ich bin!" schrie der Zerlumpte wild auf. Aus der zusammengesunkenen Gestalt des kraftlosen Bettlers wurde pIötzlich ein aufrechter, starker Mann, die Bettlerlumpen flogen beiseite, und vor dem Sheriff stand, in waldgrünes Wams gekleidet, der Mann, den er haßte und den er fürchtete . . .
"Robin Hood!" rief er stammelnd.
"Nicht schwer zu erraten", lachte Robin unbekümmert, sprang auf das Podest vor der Laube und hob sein Schwert. "Freiheit!" schrie er wild über die Menge hin. "Tod den Zwingherren!"
Ein ungeheures Getümmel erfüllte sekundenschnell den Platz. Robin drang auf den verhaßten Gegner ein, doch der wich seinem Schwertstoß aus. Ehe die Häscher des Sheriffs zupacken konnten, hatten sich Robins tollkühne Gesellen dazwischengedrängt. Entsetzt wichen Ritter de Lacys Männer zurück, als sie urplötzlich unter vielfacher Vermummung einen Haufen wildentschlossener Männer im grünen Gewand der Freiheitskämpfer auftauchen sahen.
In dem allgemeinen Tumult kämpften diese sich durch die dichtgedrängte Menge. Immer mehr waren es von den Leuten der Stadtbevölkerung, die mit unterdrückter Freude Robins verwegene Tat bewunderten. Schwerfällig schoben und drängten sie sich dazwischen, wenn die normannischen Knechte auf die Grünröcke eindrangen, und sicherten diesen so den Rückzug.
Nun hatte Robin Hood das Stadttor erreicht. Mit grimmigem Lachen schwang er sich auf die Mauerkuppe und stieß in sein Horn, daß es weit über die Stadt hin und über die Burg ertönte. "An diesen Tag wird der Sheriff noch lange denken", rief er den Gesellen zu; dann verschwand er mit ihnen jenseits der Stadtmauer und führte sie zurück in den Sherwood-Wald.
Wie zum Hohn klang noch lange Robins Horn zur Stadt hinüber.
Wenige Tage später trat die Königinmutter in das Zimmer des Prinzen Johann.
"Gute Kunde, mein Sohn, hat mich soeben erreicht. Richard sitzt in Verhaft in der Feste Dürnstein im Österreichischen, doch der Bote meldet, daß wir ihn durch ein Lösegeld freikaufen können. . ."
Prinz Johann tat erfreut - und wußte doch, daß mit der Rückkehr König Richards sein Los besiegelt war.
"Wir müssen das Volk zu einer Spende aufrufen, doch schwer wird es sein, den hohen Betrag aufzubringen, denn Robin Hood hat das Land ausgeplündert!"
Jeder wußte, wie lügnerisch seine Behauptung war. In Wirklichkeit war der Prinz glücklich, Geld in den Kasten fließen zu sehen, denn schon hatte er einen heimtückischen Plan, der König Richard für alle Zeit die Heimkehr verwehren würde: er wollte die Spende des Volkes in seine eigene Schatzkammer führen - ein zweites Mal würde das ausgepreßte Volk den Betrag nicht aufbringen können.
Das treue Volk gab sein Letztes, um dem Herrscher, den es so sehr liebte und zurückwünschte, die Freiheit zu verschaffen. Bald lag die riesige Summe des geforderten Lösegeldes bereit.
Der verräterische Prinz Johann ging sogleich daran, seinen Plan auszuführen, der ihm doppelten Vorteil und Gewinn bringen sollte. Noch vor Sonnenaufgang ließ er fünfzig seiner Bogenschützen in aller Heimlichkeit auf dem Schloßhof versammeln. "Ihr reitet auf der Landstraße am Sherwood-Walde entlang. Dort legt ihr die grasgrünen Wämser an, die ich euch mitgeben lasse, und kleidet euch so wie Robin Hoods Bande."
Niemand ahnte das hinterhältige Vorgehen des Prinzen. In der Tracht von Robin Hoods kühnen Gesellen sollten die Bogenschützen den Lastzug überfallen, der das für König Richard bestimmte Lösegeld in Prinz Johanns Schatzkammer nach London schaffte!
Doch Robin Hoods Späher erkannten rechtzeitig genug auch diesen heimtückischen Bubenstreich, der das Ansehen der grünen Gesellen so schmählich mißbrauchen und verunglimpfen und König Richard für immer die Heimkehr verwehren sollte. In Windeseile war die Bande zur Stelle und verhinderte die Entführung des Lösegeldes. Statt in die Schatzkammer des eigensüchtigen Prinzen gelangte der Betrag an die richtige Stelle: Er diente als Lösegeld für den König, der fern der Heimat auf Rückkehr hoffte.
Nach dem erbarmungslos harten Winter in der Kälte der waldigen Schlupfwinkel sahen die Geächteten endlich den Frühling nahen. Mit ihm wuchs ihnen neuer Mut und neue Hoffnung. Immer neue Gesellen strömten den Freiheitskämpfern als Helfer zu.
In sorgenvollen Gedanken, wie er die große Zahl der Getreuen ernähren solle, schritt Robin Hood mit Bruder Tuck durch den Wald. Der freiheitsliebende Mönch war seit langer Zeit einer der tätigsten unter seinen Gesellen.
"Halt!" tönte es ihnen plötzlich entgegen.
Robin zuckte zusammen. Gerade vor ihnen an der großen Eiche hielt ein Ritter hoch zu Roß, in blanker Rüstung, das Visier heruntergeklappt.
"Was wollt Ihr hier im Walde?" rief Robin drohend.
"Ich suche Robin Hood! Wißt ihr, wo ich ihn finde?"
"Ich selber bin es! Was wollt Ihr?"
"Den Sherwood-Wald von Geächteten befreien! Wir wissen von deinen Schandtaten und Gesetzwidrigkeiten, Robin Hood. Du weigerst dich, dem Prinzen Johann den schuldigen Gehorsam zu erweisen, du hast hier im Walde wider alles Landrecht einen Haufen gesetzloser Gesellen um dich geschart, du hast das Lösegeld geraubt, das für unsern gefangenen König bestimmt war!"
"Weil der verräterische Prinz falsches Spiel getrieben hat!" rief Robin in wildem Zorn. "Ihr dient einem schlechten Herrn, Herr Ritter! Soll ich sagen, wo das Geld geblieben ist? Seinem rechten Zweck habe ich es zugeführt! Meine Männner haben es übers Meer gebracht, um unsern geliebten König Richard aus der schmählichen Gefangenschaft freizukaufen . . ."
Bruder Tuck konnte nicht mehr an sich halten. "Laßt diese herausfordernde Sprache, Herr Ritter! Und nehmt den Helm ab, oder ich schlage ihn Euch vom Schädel!" Drohend hatte der streitbare Mönch den schweren Knüppel erhoben. Willig folgte der fremde Ritter der Aufforderung, löste den Riemen und nahm den Helm vom Kopf.
Wie auf eine Geistererscheinung blickten die beiden Männer auf den Reiter. "König - König Richard!" brach Robin fast stammelnd aus und beugte das Knie. Der Mönch tat desgleichen.
"Ihr seid wieder zurück, Majestät", sagte Robin. Erst langsam begann er, sich zu fassen. "Vergebt mir, Majestät, das große Auftreten", sagte er dann, "ich ahnte ja nicht . . ."
"Ihr habt nicht zu bitten, Robin Hood. Mit mir ist ganz England in Eurer Schuld. In Eurer Schuld und der Eurer verwegenen Gesellen."
Gütig lächelnd stieg der König vom Pferde. "Robin Hood", sagte er. "Kniet nieder, hier an der Stätte, wo Ihr für die Freiheit gekämpft habt."
Der König hatte sein Schwert gezogen und legte es dem Knienden auf die Schulter. "Robin Hood, ich schlage Euch hiermit zum Ritter meiner Krone und ernenne Euch hiermit zum Herzog," sagte er, als Herzog von Locksley sollt Ihr das Land hier ringsum als Lehen aus meiner Hand übernehmen und für mich in Treue verwalten. Erhebt Euch, Sir Robin!"
Hand in Hand schritten die beiden dem Waldlager zu. Bruder Tuck führte des Königs Streitroß am Zügel.
Mit wilden Heilrufen umringten die Geächteten den König und seinen neuen Herzog.
"Ich weiß, wo ich meine Freunde zu suchen habe", sagte König Richard. "Ich werde sie zu belohnen wissen, und sie sollen die Stelle in meinem Reiche einnehmen, die ihnen zukommt und die dem Reiche förderlich ist!" Da breitete Robin seine Arme aus, als wollte er alle darin einschließen, und dann rief er, daß es hinaufklang bis zu den Baumkronen des Sherwood-Waldes: "Hoch Robins tollkühne Gesellen!" England hatte seinen Frieden wiedergefunden.
Der Cid
Vorzeiten, als die Mauren von Marokko her nach Hispanien vorgedrungen waren, herrschte König Alfonso über Kastilien, über León und Asturien; bis Santiago gebot sein Zepter, denn auch alle Grafen von Galicien hatten ihm Treue schwören müssen.
Zu Alfonsos bewährtesten Mannen gehörte der Ritter Rodrigo Díaz von Bivar. Er war nicht hochgeboren und ebenbürtig wie des Königs Grafen, aber er war zu rechter Stunde geboren, denn niemand handhabte das Schwert wie er, und niemand wußte die Krieger in die Schlacht zu führen und ihnen dort Vorbild zu sein wie dieser treue Lehnsmann.
Darum wußte König Alfonso keinen besseren als den starken Rodrigo Díaz zu beauftragen, als der Tribut einzutreiben war, den ihm der Maurenkönig von Córdoba und der von Sevilla jährlich zu zahlen hatten. Die Aufgabe war schwer, denn den König von Sevilla bedrängte König Almudafar von Granada, und dieser Maurenkönig hatte die Unterstützung tapferer spanischer Ritter. So mußte Rodrigo Díaz gegen Araber und Spanier zugleich kämpfen, um seinem königlichen Herrn den schuldigen Tribut zu sichern. In einer heißen, erbitterten Schlacht besiegte er die Gegner und gewann große Beute. Mit diesen Schätzen und dem Vasallentribut des Königs von Sevilla konnte er König Alfonsos Schatzkammern wieder auffüllen. Nach dieser herrlichen Waffentat nannten Mauren und Christen den Ritter Rodrigo Díaz nur noch Cid Campeador, das ist der Tapfere, der Herr.
Doch der strahlende Erfolg brachte dem Cid viele Neider ein, die es heimtückisch verstanden, das Ansehen des Helden beim Herrscher herabzusetzen. Ihre Verleumdungen führten dazu, daß König Alfonso sehr aufgebracht wurde und den Cid aus seinem Reiche verbannte. "Innerhalb von neun Tagen", so stand in dem königlichen Briefe, "habt Ihr Kastilien zu verlassen."
Der kampfbewährte Held war zu stolz, als daß er gegen diesen Bannspruch des Königs aufbegehrt hätte. Er schickte Boten an seine Verwandten, um ihnen davon zu berichten. "Wer mit mir reiten will" ließ er ihnen sagen, "dem wird Gott die Treue belohnen, und wer sich mir nicht anschließen will, der soll in Gottes Namen bleiben!"
Für den Kreis der Verwandten sprach Alvar Minaya Fáñez, sein Neffe: "Alle werden mit dir reiten, Cid, wohin auch das Schicksal es will, übers weite Land wie durch unwirtliche Wildnis." Froh dankte der Held den Getreuen.
Trauer im Herzen über den Undank des königlichen Herrn, nahm er dann Abschied von Bivar, seinem Lehnsland, das unter seiner starken Lenkung zum blühenden Besitztum aufgeblüht war. Frau Jimena mit den beiden Töchtern mußte der Verbannte im Kloster San Pedro zurücklassen.
Als er mit den sechzig Lanzen durch Burgos, die gute Stadt, zog und vorbei an den festen Städten des Heimatlandes, drängten sich an den Fenstern und am Wegrand die Menschen, um den herrlichen Ritter zu bewundern.
"Welch edler Held!" klangen ringsum die Stimmen. "Hätte er nur einen Herrn, der so edel ist wie der Lehnsmann!"
Der harte Mann konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
Er wandte sich im Sattel zu seinem Brudersohn um: "Sei versichert, Alvar Fáñez, so wie man uns heute aus unserer kastilischen Heimat verbannt, so werden wir einst in hohen Ehren zurückkehren!"
Aber aus Furcht vor dem gnadenlosen Verbannungsbefehl wagte niemand, dem Heimatlosen Obdach zu gewähren. Durch einen Majestätsbrief wurden alle Bewohner bei strengen Strafen gewarnt, dem Rodrigo Díaz Cid mit seinen Begleitern Herberge zu geben. So öffnete niemand auf ihr Klopfen die Tore.
Nur Antolínez von Burgos wagte dem königlichen Verbot zu trotzen; er brachte den Wegmüden Brot und Wein zur Nahrung - und machte sich damit selber zum Verfemten. Als Gefolgsmann schloß der Treue sich den Ausziehenden an.
An Cid lag es nun, für den Unterhalt der Mannen zu sorgen, die ihm in die Verbannung folgten. Da verfiel er auf eine List, sich das nötige Geld zu beschaffen. Zwei große Truhen ließ er sich bauen, mit rotem Leder beschlagen und mit genagelten Eisenbändern versehen, die ließ er mit Sand füllen und fest verschließen. Dann schickte er Antolínez damit zu zwei Geldverleihern und ließ ihnen seine Lage schildern: daß er vom Könige verbannt sei, das Recht zum Einkaufen verloren habe und nun seinen Schatz verpfänden wolle.
Gern waren Vidas und Rahel bereit, dem Helden zu helfen, und gaben ihm gegen das Pfand das benötigte Geld, sechsmal hundert Mark in Gold und Silber für zwölf Monate.
Cid versprach ihnen neben den Zinsen kostbare Geschenke, einen roten Pelz, wie ihn die Mauren tragen, für jeden. Er ließ die beiden schwören, die Geldkästen nicht vor der Zeit zu öffnen. "Das wäre Meineid, und ich brauche euch dann keinen Heller als Zins zu zahlen", schloß er die Abmachung.
Entschlossen befahl der Cid dann den Aufbruch. Da legten die Mannen die Sättel auf und lösten die Zügel. Sie hielten die Sporen hart am Fell der Rosse, denn kurz war die Frist, die König Alfonso ihnen gestellt hatte. Den ganzen Tag und die Nacht hindurch ritten sie so der Grenze zu. Ständig wuchs die Zahl der tapferen Männer, die sich ihnen anschlossen. Als Rodrigo Cid endlich rasten ließ und die Mannen in Schlummer sanken, erschien ihm im Traum der Erzengel Gabriel. "Reite nur frohgemut vorwärts", rief er ihm zu, "niemals ritt ein Tapferer unter besserem Stern!"
Das gab den Heimatlosen neue Kraft. Den Cid stürzte der Bannspruch des Königs, der ihn aus der Heimat verwies, zugleich in ein gefährliches Dasein, denn mit dem Überschreiten der Heimatgrenze zog er in das Gebiet, in dem die feindlichen Mauren die Macht besaßen.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als Cid seinen Heerhaufen musterte. Die Haupttruppe der Reiter, einst sechzig, war auf dreihundert Lanzen angewachsen; jeder führte eine Fahne. Dann überquerten sie das Gebirge und ritten dahin ohne Unterlaß, damit niemand ihren Marschweg genau verfolgen konnte. Cid wollte seine maurischen Feinde dort durch unerwarteten Überfall überlisten und ihnen Beute abjagen, die er für den Unterhalt all seiner Mannen benötigte.
Sein Neffe Alvar Fáñez gab ihm einen guten Rat: Während er mit zweihundert Lanzenreitern weit ins Maurenland vorstieß, sollte der Cid mit dem Rest der Kämpfer im Hinterhalt bleiben und die Stadt Castejón überwältigen.
Das geschah. Als mit dem Morgen das Nachtgewölke zerriß und die Sonne herrlich aufstieg, gingen die Einwohner des Städtchens unbesorgt an ihre Tagesarbeit und öffneten die Stadttore. So war es für den Cid ein leichtes, aus seinem Hinterhalt hervorzubrechen und die Nichtsahnenden zu überraschen. Da fiel die Stadt in seine Hände und mit ihr ein unermeßlicher Schatz an Gold und Silber. Auch die Reiter unter Alvar Fáñez brachten ungeheure Beute ein, Schaf- und Rinderherden, schöne Kleider und gemünztes Gold.
Glücklich empfing Cid den jungen Waffengefährten. Er bot ihm als Anteil ein Fünftel seiner reichen Kriegsbeute, doch der Neffe wies alles großzügig zurück: "Solange mich noch die Freude am freien Ritterkampf erfüllt, nehme ich keinen roten Heller der Beute als meinen Anteil an."
Seine Mannen konnte der Cid reichlich entlohnen: hundert Mark in Silber bekamen die Ritter, fünfzig jeder vom Fußvolk. Klug machte er auch seinen eigenen Anteil an der Beute zu Geld: er gab den Bürgern die Möglichkeit, die ihnen geraubten Frauen und die Sklaven, dazu die Schätze zurückzukaufen. Dreitausend Mark in Silber zahlten sie ihm dafür.
Doch dann drängte es ihn, die Gegend zu verlassen. Die Festung würde einer Belagerung nicht standhalten, weil sie allzu schnell ohne Wasser wäre. Großzügig schenkte er vielen gefangenen Mauren und maurischen Frauen die Freiheit, bevor er mit seinen Mannen und der reichen Beute abrückte.
Niemand erriet die Absicht des klugen Heerführers. Er wollte die Festung Alcocer am Hang des Sierra-Gebirges, die mit einer Seite im Wasser lag, überraschen. Als er den Ring um die Stadt schloß, boten die Einwohner ihm freiwillig den Zehnten als Tribut an. Doch sie öffneten die Tore nicht.
Wieder wußte der starke Kriegsmann die Feinde zu überlisten. Zum Scheine rückte er ab, die Fahnen hoch im Winde.
"So fliehen Besiegte!" riefen die in Alcocer und dachten aus seiner Schwäche Nutzen zu ziehen. "Wenn wir ihn jetzt überfallen, machen wir große Beute, noch bevor die von Terrer sie ihm abgewinnen!"
So stürmten sie in ihrer Einfalt zum Tor hinaus, und als Cid seine Flucht beschleunigte, trieb die Habgier sie, heftiger die Pferde anzuspornen. Als auch der letzte Mann zur Stadt heraus war, wandte Rodrigo Cid plötzlich seine Fahne: "Ihr Ritter, jetzt jagt Eure Lanzen in die Feinde!" rief er. Auf kurzem Wege versperrten schnelle Reiter den Mauren die Rückkehr in die Stadt. Gräßlich war das Ringen, doch Cids Ritter blieben Sieger. Die Stadt fiel in seine Hand; hoch auf den Zinnen wehte die Fahne des Rodrigo Cid Campeador.
Voller Grimm sahen die Mauren der Umgebung den Cid als Herrn der Stadt Alcocer. Sie schickten zum König von Valencia und beklagten sich über den frechen Eindringling, der als Verbannter sich hinterhältig in den Besitz der Maurenstadt gesetzt habe und nun auch Terrer und die anderen Städte bedrohe. Der König mußte für seine eigenen Besitzrechte fürchten und sandte sogleich einen Emir, der am Hofe war, mit seinen Mauren gegen den verhaßten Eroberer. Dreitausend Mann umfaßte das Heer des Emirs, das nun in schnellem Ritt auf Alcocer zu strebte, um es zu belagern. Überall schlossen sich kampfbereite Mauren dem riesigen Heerhaufen an.
So weit die Mannen des Cid in die Runde blickten, sahen sie alles Land voll von kampfeswütigen Mauren, die die Stadt einschlossen. Bald war der Ring so eng, daß sie vom Wasser abgeschnitten waren und daß auch das Brot ihnen fehlte.
Da entschlossen sich die Belagerten zum Kampf. Als sie in der Morgenfrühe zum überraschenden Ausfall die Waffen anlegten, dröhnten dumpf die Trommeln der Mauren. Da stürzten sie aus den Toren, der Ritter Bermúdez, der die Fahne trug, sprengte in den dichtesten Heerhaufen der Feinde. "Wer dieser Fahne dient, wird sie beschützen!" schrie er den Kampfgefährten zu. Da drängten sich Cids Ritter ins Kampfgetümmel, um die Fahne zu retten. "Mahoma!" schrien die Mauren in ingrimmiger Kampfeswut, "Santiago!" die Kämpfer um Cid, die den heiligen Jakob anriefen.
Es war ein gräßliches Ringen. Manches Kettenhemd wurde durchstoßen, viele weiße Fahnen färbten sich blutigrot, so mancher edle Streiter, ob Maure oder Christ, sank leblos aus dem Sattel. Cid selber stellte den Emir Fáriz zum Kampfe und verwundete ihn so schwer, daß der Maure sich zur Flucht wandte.
Als sich der Tag neigte, war der Sieg für Cid und seine Mannen entschieden. Unermeßliche Beute bot ihnen das feindliche Lager, das sie ausplünderten, über fünfhundert Pferde und an Gold und Silber so viel, daß es den Siegern an Säcken gebrach, es wegzuführen. Großmütig bedachte der Cid auch die Besiegten.
Nun konnte er alle getreuen Mannen, wie sie es verdient, entlohnen, und dann rief er seinen Neffen Fáñez zu sich und übertrug ihm einen ehrenvollen Auftrag: "Minaya", sagte er, "nimm von der Beute ein Fünftel, dazu dreißig Rosse, gesattelt und mit vollem Zaumzeug, und zieh nach Kastilien zu unserm König Alfonso. Sag ihm, Rodrigo Cid, den er verbannt hat, schickt ihm diese Gaben als Geschenk!"
So erfuhr König Alfonso von Rodrigo Cids glänzender Waffentat. Er nahm die Geschenke gern entgegen. "Den Verbannten, der sich meine Gnade ganz verwirkt hat, wiederaufzunehmen, dazu ist es zu früh", sagte er jedoch abweisend. Aber er verargte nunmehr keinem Krieger, sich dem Cid als Kampfgefährten anzuschließen.
Währenddessen drängten die besiegten Mauren darauf, das Verlorene zurückzugewinnen. Sie alle fürchteten das starke Schwert des Siegers. Klug verstand es Cid, sie tributpflichtig zu halten und durch Verträge zu binden. Um dreitausend Silberstücke kauften sie den Besitz der Stadt Alcocer zurück.
So zog Rodrigo Cid, zu rechter Stunde geboren, von neuem aus. Wo er nahte, hörten die Mauren den Namen des starken Heerführers mit Schrecken. Bis nach Saragossa drang der Ruf seiner Heldentaten; ohne Zögern entrichtete man ihm dort den schuldigen Tribut. Immer mehr verbreitete sich der Ruhm seiner Taten. Als Fáñez vom Königshofe zurückkehrte, brachte er seinem Herrn zweihundert Reiter und unzähliges Fußvolk mit, die unter Cids Fahne zu kämpfen entschlossen waren.
Die Kunde von Cids gewaltigen Waffentaten drang auch zu Ohren des Grafen Ramón von Barcelona. "Soll dieser Fremde unbelästigt hier durchziehen und Land, das unter meinem Schutz steht, ungestraft ausplündern?" rief er empört.
Zahlreich waren die Mannen, die Christen und Heiden dachten wie er. Entschlossen vereinigten sie sich, um den Cid zu vernichten. "Ich werde dem Verfemten zeigen, wen er zu beschimpfen wagt!" rief der Graf aus. In der Feldschlacht, die dann entbrannte, blieb Cid, zu guter Stunde geboren, überlegener Sieger. Graf Ramón, der so großsprecherisch seinen Sieg vorausgesagt hatte, verlor sein kostbares Schwert Colada und wurde von Cid selbst gefangengenommen.
Verbissen verweigerte er alle Nahrung. Rodrigo Cid zeigte ihm seine ritterliche Großmut: "Nehmt Ihr nicht von meinem Brot und meinem Wein, Graf, so sitzt Ihr den Rest Eures Lebens fensterlos im Dunkel! Kommt Ihr jedoch zur Einsicht, so fühle ich mich dadurch entschädigt, daß ich Euch mit zweien Eurer Ritter eigenhändig aus dem Gefängnis in die Freiheit führe!"
Da folgte der Graf dem Geheiß und dankte dem Sieger für seine Hochherzigkeit. Cid selber begleitete ihn bis an die Grenze und sagte lächelnd: "Sollte es Euch einst in den Sinn kommen, Euch zu rächen, so laßt mich Euer Kommen wissen. Sicher werdet Ihr dann wieder reiche Beute in meinen Händen lassen!"
"Das werde ich mir nicht einmal mehr träumen lassen", versetzte Graf Ramón mit einem ängstlichen Blick auf den starken Gegner und ritt eilends davon.
Immer größer wurde der Bereich des Maurenlandes, das Cid als Sieger durchzog. Längst lag Saragossa hinter ihm. Voller Angst sahen Valencias Einwohner seinen Heerbann nahen. Kühn beschlossen sie dann, ihm zuvorzukommen und ihm im Kampfe entgegenzutreten.
Da rief Cid zusammen, was er an Verbündeten hatte, und rüstete sich zur offenen Schlacht mit dem neuen Feinde. Minaya Fáñez gab ihm klugen Rat: während die Hauptmacht gegen die Valenzianer vorrückte, hielt der tapfere Brudersohn sich mit hundert Lanzenreitern abseits und stieß dann so wuchtig von der Seite gegen die Mauren vor, daß all ihre Hoffnung auf Rettung nur noch in den Hufen ihrer Rosse blieb. Zwei ihrer Emire fielen auf dem Schlachtfeld, während der Heerhaufe in regelloser Flucht der rettenden Stadt zustrebte.
Unermeßliche Beute fiel wiederum Cid, dem ruhmvollen Sieger, zu. Bis zum Strand des Meeres wagte niemand mehr, ihm zu widerstehen.
Ständig wuchs die Zahl der Kämpfer, die freiwillig, angelockt von der Aussicht auf Ruhm und Beute, seiner Fahne folgten. Er rüstete sich, das maurische Valencia zu belagern, um es der Christenheit zurückzugewinnen. Er umschloß die Stadt wie mit Eisenringen, und im zehnten Monat zog er in die Stadt ein; auf dem Alcázar, der Stadtburg von Valencia, wehte seine Fahne. Ungeheuer war wieder die Beute, die dem Sieger zufiel; großherzig belohnte er auch die Kampfgefährten bis zum letzten Mann.
Dieser Erfolg des hispanischen Eindringlings ließ den König von Sevilla nicht ruhen. Mit dreißigtausend Mannen, alle schwer gewappnet, rückte er aus, um die Stadt zu befreien.
Doch Cid, der Held mit dem langen Barte, zeigte auch diesem Gegner seine machtvolle Überlegenheit. Er selber stellte ihren König zum Kampfe und verwundete ihn schwer, trieb das Heer in die Flucht und warf es in den Jucar-Strom, daß viele Mauren Wasser schlucken mußten.
Die Beute aus dieser Waffentat war größer als die nach dem Fall von Valencia. Jeder einzelne Mann seines Heerbanns, der jetzt dreimal tausend und sechshundert zählte, bekam hundert Mark in gutem Silber.
Wieder sandte der Cid seinen treuen Fáñez nach Kastilien, um dem Könige einen Teil der Beute zum Geschenk zu machen. Hundert edle Rosse, alle gezügelt und gezäumt, ein wertvolles Schwert am Sattelgurt, ließ er ihm zukommen. "Bittet ihn um die Gnade, daß Jimena, meine Ehefrau, und die beiden Töchter zu mir kommen dürfen", ließ er den treuen Brudersohn ausrichten.
König Alfonso nahm die Geschenke des Verbannten, der fern der Heimat dem Ansehen Kastiliens so ruhmvoll diente, freudig an. Gern auch erlaubte er nun, daß Frau Jimena und die Töchter zum Vater zögen; den Besitz des Verfemten, den der König einst eingezogen hatte, gab er dem Helden nun zurück. Auch alle, die sich entgegen seinem Befehl dem Verbannten angeschlossen hatten, erklärte er für straffrei.
Mit stattlichem Gefolge, denn wiederum drängte eine Menge von Rittern zu dem ruhmreichen Cid, kehrte der treue Fáñez zu seinem Herrn zurück. Wie glücklich war der Held über die Kunde, daß Frau und Töchter nun frei waren! So groß war sein Ansehen, daß die zwei Infanten am Königshofe daran dachten, sich um die Hand der beiden Jungfrauen zu bewerben. Lange schon hatten auch die beiden Geldverleiher, Vidas und Rahel, ihr Darlehen mit hohen Zinsen zurückerhalten.
In ehrenvollem Geleit von zweihundert Rittern traf die edle Frau Jimena mit ihren beiden Töchtern, Dona Elvira und Dona Sol, vor Valencia ein. Auf seinem herrlichen Streitroß Babieca, das Cid einst einem Maurenkönig im Kampfe abgenommen hatte, sprengte er ihnen zur Begrüßung entgegen. Niemals war der Held glücklich wie in dieser Stunde des Wiedersehens.
Er führte sie auf den Alcázar, die hochgebaute Stadtburg, und zeigte ihnen die prächtige Landschaft ringsum. Dort sahen sie Valencia und das Meer auf der andern Seite, dazu die weiten, schattigen Gärten. "Dies ist künftig eure und meine Heimat", sagte Cid.
Aber noch war die Zeit der Bewährung für den Helden nicht zu Ende. Den König Jucef von Marokko ließ der Ruhm des kastilischen Helden nicht ruhen. "Frech ist er in meine Lande eingedrungen", rief er zornig aus. "Ich werde ihn zu züchtigen wissen!"
Mit einem Heere von fünfzigtausend Mannen setzte er übers Meer und stürmte gegen Valencia an. Cid, der Held im langen Barte, wies der angetrauten Gattin und den Töchtern von der Höhe der Stadtburg das riesige Feindesheer, dessen Kampftrommeln herüberdröhnten.
"Ich habe euch gezeigt, wie man in der Fremde eine neue Heimat gründet", rief er selbststolz ihnen zu. "Kaum seid ihr hier eingetroffen, so bringen die Feinde Euch Geschenke und für die Töchter den Brautschatz!"
Väterlich beruhigte der Held dann die Besorgnis der Frauen. Seine Ritter zogen die Helmriemen fester und rüsteten sich zum Ausfall. Viertausend standen gegen fünfzigtausend. Allen voran kämpfte der Cid auf seinem feurigen Streitroß.
Als der Abend sich neigte, strömten die Mauren in wilder Flucht zum Meere. Ungeheuer, nicht zu zählen, war wieder die Beute. Das Kostbarste war König Jucefs Zelt: zwei Strebestangen aus reinem Golde stützten es.
"Ich will es unserm König schicken," sagte der Sieger, "damit Don Alfonso sieht, was Cid geleistet hat." Mit zweihundert prächtigen Araberpferden und reichem Beutegut zog der treue Fáñez nach Valladolid, wo der König Hof hielt.
Mit großer Freude empfing Alfonso die Boten, mit Genugtuung erfuhr er von dem neuen Siege des unvergleichlichen Helden, und gern nahm er die Geschenke entgegen. Jetzt endlich erkannte er an, was Cid für ihn bedeutete. "Meinem Reiche soll er künftig bessern Dienst erweisen" rief er. "Meine Zuneigung ist ihm sicher, wie er es um mich verdient hat. Sagt dem Rodrigo Cid, daß ich ihm zu begegnen wünsche! Meldet ihm auch, daß die beiden Infanten um die Hand seiner beiden Töchter bitten! Der tapfere Mann verdient es, daß sein Ansehen durch diese Verwandtschaftsbande mit dem Hof des Königs gefestigt wird!"
Am Ufer des Tajo traf Rodrigo Cid, der Sieger über die Mauren, mit Alfonso, dem König von Kastilien, zusammen. Mit zahlreichem Gefolge war der Herrscher erschienen, bei ihm waren die Infanten. Mit unendlicher Rührung erlebten alle die Begegnung der beiden Männer. Der König richtete seinen Lehnsmann aus der demütigen Stellung auf und küßte ihn zur Begrüßung. Er selber bat für die beiden Infanten um die Hand der beiden Töchter Dona Elvira und Dona Sol. Kostbare Geschenke wurden ausgetauscht. Großherzig beschenkte Cid das zahlreiche Volk mit reichen Gaben.
So wandte sich alles zu gutem Ende. In aller Pracht und mit kühnen Turnierspielen feierte man fünfzehn Tage lang die Hochzeit, die den heldenhaften Rodrigo Cid Campeador nun mit dem Königshause verband.
In seinem Palast zu Valencia lebte Rodrigo Díaz Cid mit den Seinen ein glückliches Dasein. Die Mauren ringsum fürchteten seinen starken Arm, und alle lobten die weise Regierung, in der er das Land verwaltete. Prächtig war die Wohnstatt ausgerüstet mit kostbaren Stoffen und Tuchen, Geräten und Möbeln. Das Grün der gepflegten Gärten bot wohltuenden Schatten zum erholsamen Lustwandeln.
Einst geschah es, daß der Held sich zur Ruhe auf seinem Lager ausgestreckt hatte, als eine Bewegung schreckensvoller Unruhe den Palast durchfahr. Aus dem Käfig im Garten, der die Tiere für die Schaukämpfe barg, war ein Löwe ausgebrochen. Entsetzt flohen die Palastbewohner vor dem Untier und suchten Schutz in sicheren Winkeln. Cids Schwiegersöhne, die beiden Infanten, zeigten sich wenig mannhaft und verkrochen sich, der eine unter dem Bett, der andere hinter einem dicken Balken der Traubenpresse, die ihm Wams und Hose beschmutzte.
Über dem Lärm fuhr Cid verwundert aus seinem Schlafe auf. "Edler Herr, ein Löwe", stammelte einer aus dem Hofgesinde. Ohne Zögern griff der Held nach seinem Mantel und ging, den Löwen zu stellen. Unerschrocken trat er dem Untier Auge in Auge entgegen. Sein scharfer Blick schreckte es so sehr, daß es Haupt und Mähne senkte. Cid faßte den Löwen an der dichten Mähne, zerrte ihn zum Käfig und stieß ihn ein.
Wie ein Wunder erschien allen diese kühne Tat: staunend blickten alle auf den unvergleichlichen Mann, der hier wieder sein heldenhaftes Wesen gezeigt hatte.
Manches Mal noch hatte Rodrigo Díaz Cid Campeador die Besitzrechte seiner Heimat gegen die Mauren zu verteidigen. Immer erfüllte er, der zu guter Stunde geboren war, diese Aufgabe mit überlegener Kraft - ein stolzes Vorbild kastilischen Heldentums.
Die Sage von Roland
Zwölf Recken hatte Kaiser Karl, der Herrscher über das Reich von dem Strand des Ozeans bis an die Waldgebirge der Elbe, von der Küste der Nordsee bis zu den Schneebergen der Alpen, als seine Paladine stets um sich. Unter ihnen ragte durch Jugendkraft und Kühnheit der heldenhafte Roland hervor. Er war der Neffe des Kaisers, denn dessen Schwester Berta war mit dem Herzog Milan von Anglant verheiratet gewesen, der bald nach Rolands Geburt in Hispanien im Kampf gegen die Ungläubigen gefallen war. Später hatte Frau Berta mit dem Ritter Ganelon die Ehe geschlossen, der zu den Paladinen Kaiser Karls gehörte.
Roland war einer der stärksten Heerführer des Frankenherrschers, und als Kaiser Karl, den man den Großen nennt, zu neuem Feldzug gegen die heidnischen Sarazenen rüsten mußte, vertraute er seinem herrlichen Neffen wiederum eine starke Heeresmacht an. So zogen sie ins sonnige Hispanien, der streitbare Erzbischof Turpin an der Spitze, neben Roland sein Freund Held Oliver, Gottfried von Anjou und Herzog Neimes von Bayern, der kühne Graf Walther und Graf Otto, Herzog Richard von der Normandie und der kluge Ogier von Dänemark, der listige Graf Ganelon und die vielen anderen Ritter aus dem Frankenland.
Sehr bald mußten sich alle festen Burgen und Plätze, die unter der grünen Fahne mit dem Halbmond des Propheten standen, der Gewalt des großen Kaisers beugen. Nur die Stadt Saragossa im fruchtbaren Tal des Ebro hatte dem Ansturm der Frankenkrieger noch widerstehen können.
Doch als Kaiser Karl seinen Heerbann zum Sturm ansetzte, ließ sich Marsilias, der König der heidnischen Mauren, einen arglistigen Rat eingeben, wie er dem überlegenen Gegner entgehen könne. Er bot dem Frankenkaiser die Unterwerfung an, gelobte Frieden und erklärte sich bereit, dem Glauben des Islam abzuschwören und mitsamt seinem Volke zum christlichen Glauben überzutreten.
"Wenn Kaiser Karl über die Pyrenäenberge ins Frankenland zurückzieht", erklärten die Boten, "so bietet König Marsilias Euch siebenhundert Kamele und vierhundert Maultiere, alle beladen mit Gold und kostbarem Gerät, dazu dreitausend Faß Wein. In kurzer Frist wird er Euch sodann mit seinen Mannen ins Frankenland folgen und in der Kaiserstadt Aachen die christliche Taufe annehmen."
Im Kreise seiner kampfbewährten, raterfahrenen Waffengefährten überdachte Kaiser Karl das Angebot des Heidenkönigs. "Laßt mich einen Rat hören, ihr Paladine", rief er und blickte in die Runde.
Erzbischof Turpin hielt mit seinen Bedenken nicht zurück, und auch Roland, der aufrechte Held, wollte nichts wissen von einem Vertrag mit dem Sarazenenfürsten; er ahnte den Verrat. Oliver, sein getreuer Waffengefährte, stimmte ihm bei. Doch da trat Rolands Stiefvater, Graf Ganelon, den beiden Helden ungestüm entgegen. "Höret auf den Rat eines erfahrenen Mannes, Herr Kaiser", rief er, "und verschonet Eure Getreuen vor weiterem Blutvergießen!"
Auch andere Reichsbarone, unter ihnen Herzog Neimes von Bayern, traten dieser Meinung bei. Man solle den blutigen Krieg beenden und die vielen Heiden zu Christen machen.
Da ließ sich der Kaiser von den Vorschlägen bestimmen. Als seinen Gesandten an den Heidenfürsten wählte er auf Rolands Rat sodann Graf Ganelon aus, der als Eifrigster den Plan befürwortet hatte.
Roland, der aufrechte Recke, ahnte nicht, daß er sich durch diesen Vorschlag seinen Stiefvater zum Todfeind gemacht hatte. Denn sosehr Graf Ganelon ein Ende des Feldzuges erstrebte, fürchtete er doch die Hinterlist des Sarazenenfürsten, der bereits einmal die Abgesandten des Kaisers getötet hatte. In seinem Zorn nannte er Roland einen Schurken, der ihn durch die Entsendung ins Kriegslager der Ungläubigen tödlicher Gefahr ausgesetzt habe.
Doch König Marsilias empfing den kaiserlichen Boten mit allen Ehren. Gar bald entdeckte der listige Sarazene die Schwäche des haßerfüllten Grafen für Wohlleben, Gold und kostbaren Schmuck, und beim festlichen Gelage ließ sich der geldlüsterne Ganelon durch eine Fülle ausgesuchter Gastgeschenke verleiten, heimtückischen Verrat zu begehen. Er verband sich mit den Feinden des Frankenkaisers zum Verderben des herrlichen Helden Roland: Beim Rückmarsch des Heeres durch die Bergtäler sollte er als Führer der Nachhut von den Sarazenen überfallen und mitsamt seiner Nachhut vernichtet werden.
So klug war der arglistige Plan gesponnen, daß Kaiser Karl sich durch die Worte des treulosen Ganelon täuschen ließ. Dieser hatte dem Frankenherrscher im Auftrage des Königs Marsilias die Schlüssel der Stadt Saragossa zum Zeichen der Unterwerfung gebracht, dazu Geiseln und Maultiere mit kostbarem Tribut.
"So laßt uns heimwärts zur Pfalz nach Aachen ziehen", gebot Kaiser Karl zufrieden, und er ließ Roland und dessen unzertrennlichen Waffengefährten Oliver zu seinem Schutz zurückbleiben, dazu den streitbaren Erzbischof Turpin und Graf Walther.
Da erklang froher Jubelruf, es wehten die bunten Kriegswimpel, und tausend Hörner begleiteten den Abmarsch des riesigen Heeres. Die Zurückbleibenden sollten das Tal von Ronceval überwachen, wo sich die Straße durch wilde Schluchten nordwärts windet.
Schon nach wenigen Tagen Marsch hatten die heimwärts ziehenden Heerscharen - der tapfere Ogier von Dänemark führte die Vorhut - die Pässe der Pyrenäen erreicht. Hoch und abschüssig ragten die Bergwände, die sie überqueren mußten, und dunkel und eng waren die Täler, die sie durchzogen.
Am letzten Paß ließ Kaiser Karl das Heer an sich vorüberziehen. Düstere Vorahnungen quälten ihn, denn ein Traum hatte ihn erschreckt: Es war ihm ein Engel des Herrn erschienen, der ihn vor Ganelon warnte. "Er riß mir den Speer aus der Hand und zertrümmerte ihn an einer Felswand, daß die Splitter zum Himmel hinaufflogen", berichtete Karl voller Sorge seinem vertrauten Paladin, dem Herzog von Neimes. "Und als ich gleich darauf wiederum Schlaf fand, träumte mir nochmals: Ich war in Aachen, meiner guten Stadt, da sprangen ein Bär und ein Panther mich an, und der Bär zerfleischte mir den rechten Arm, daß der bloße Knochen zutage trat, und vergeblich versuchte mein getreuer Hund, das Untier zu verscheuchen. Und meine Franken schrien entsetzt: 'Welch gewaltiger Kampf!' Doch niemand eilte zur Hilfe herbei."
Die Deutung des Traums war dem Kaiser naheliegend. Nun plötzlich wurde ihm klar, daß Ganelon auf Verrat sinne und den aufrechten Roland mit Hilfe der Sarazenen vernichten wolle. In bitterem Selbstvorwurf klagte er sich an, den Neffen ohne ausreichenden Schutz zurückgelassen zu haben.
Doch nun war es zu spät. Denn von der Höhe überblickte Graf Walther die weite Ebene am Fuße der riesigen Bergkette, und was er sah, ließ ihn erschauern: "Rüstet euch zum Streit, ihr Freunde", rief er tief bestürzt und schnallte den Helm fester, "und nehmt sogleich die Waffen zur Hand! Marsilias naht mit einem riesigen Heere. Roß und Reiter strömen heran, zahllos wie die Sterne am Himmel. So weit das Auge reicht, blitzt es von Waffen!"
"Das ist Ganelons Werk!" stieß Roland voll Ingrimm hervor.
Marsilias, der Sarazenenkönig, hatte die Menge seiner kampffähigen Krieger aufgeboten, mehr als hunderttausend Mannen. Er besprach mit den Heerführern seinen Plan. "Wenn Allah mit uns ist", rief er, "so muß der Sieg unser sein, denn wir sind in der Überzahl, und der Prophet Mohammed vermag mehr als Sankt Peter zu Rom. Ich selber will euch führen und in der Bedrängnis des Kampfes nicht von euch weichen, das schwöre ich euch bei meinem Schwerte! Seht hier die blanke Klinge aus Toledo! Sie werde ich im Kampfe mit Rolands Schwert kreuzen, und gar bald sollt ihr erkennen, wessen Waffe bessere Streiche führt!"
Weithin erklang die Luft vom Klirren der Sarazenenwaffen und vom Hörnerschall. "So reiten nicht Männer, die ihren Herrn nach Aachen zur Christentaufe geleiten", rief Oliver; "das ist ein Kriegsheer, das heranstürmt, uns zu überwältigen." Er stand mit seinem Waffengefährten Roland auf der Höhe eines Felsvorsprungs. Von dort blickten die beiden Recken über das Land hin und überblickten die weißgepanzerten Scharen, unabsehbar an Zahl.
"Blast Euer Horn, Freund Roland!" rief Oliver. "Kaiser Karl wird es hören und mit seinem Heere umkehren, um uns Hilfe zu bringen."
Doch der Recke schüttelte ingrimmig den Kopf. "Nur ein Feigling täte so etwas" versetzte er. "Für immer wäre mein Ruhm dahin, wenn wir es nicht allein wagten, den Kampf mit den Heiden aufzunehmen!"
Oliver, der treue Waffengefährte, wiederholte seine Bitte. "Blast Euer gutes Horn Olifant!" mahnte er. "Kaiser Karl wird umkehren und uns zu Hilfe eilen. Seht doch nur, wie alle Berge von Feinden übersät sind und wie es ringsum von Heidenwaffen blinkt!"
Roland der Recke wußte, daß er sich auf sein gutes Schwert Durandal verlassen konnte. "Lieber sterbe ich den Tod auf dem Schlachtfelde hier im Pyrenäental, als daß ich den Maurenfeinden den Stolz lasse, mich für feige zu halten." Jeden seiner Getreuen wies er an, wie sie ihre Heerhaufen gegen den übermächtigen Feind verteilen sollten. Segnend breitete der kampfgewaltige Erzbischof Turpin seine Hände über die Scharen der Krieger und bat den Himmel um Beistand; dann stiegen alle, zum Entscheidungskampfe entschlossen, zu Pferde.
Roland und Oliver, die kampfbewährten Waffengefährten, ritten Seite an Seite. Mit Sorge beobachteten sie, wie der Ring der Feinde sich eng und enger um die Franken schloß. "Mir will scheinen", stieß Oliver bitter hervor, "dies ist die letzte Nachhut unseres Lebens, die wir führen werden."
König Marsilias hatte als Führer des Vortrupps seinen Neffen Adolart in den Kampf geschickt. Der kühne Heidenritter hatte in früheren Kämpfen schon manchen Feind aus dem Sattel geworfen und brannte nun vor Kampfbegier, auf die Frankenkrieger zu stoßen. "Ich werde dir Rolands Haupt vor die Füße legen!" hatte er seinem Oheim versprochen.
"Allah, il Allah!" brauste der Schlachtruf der Sarazenen über die Ebene hin, als Adolart auf feurigem Berberhengst gegen die Reihen der Franken sprengte. "Heute wird Kaiser Karl seinen Kriegsruhm schmählich verlieren!" schrie er wild. Seine Krieger folgten ihm in blinder Kampfbegeisterung.
"Reitet an, ihr Freunde!" befahl auf der andern Seite Roland seinen Getreuen, gab seinem edlen Streitroß die Sporen und stürzte mit eingelegter Lanze auf den prahlerischen Gegner los. Furchtbar war der Zusammenprall. Roland rannte dem Heiden den Speer so tief in den Kettenpanzer, daß Adolart mit gebrochenem Rückgrat auf die Felsen stürzte. "Kaiser Karl wird seinen Ruhm nicht verlieren!" rief Roland voll ingrimmiger Kampfeswut. "Schlagt mit euren Schwertern drein, ihr Freunde!" feuerte er dann die Waffengefährten an. "Nur uns winkt der Sieg!"
Jubelnd nahmen die Franken seinen Ruf auf. Mit dem Schlachtgeschrei des Kaisers stürzten sie sich in die Reihen der feindlichen Mauren. Doch wenn diese auch erbitterten Widerstand leisteten, so hatte Rolands Vorbild den Kampfesmut der Frankenkrieger aufs höchste angestachelt. In dem furchtbaren Kämpfen, das nun anhub, hatten sie die Oberhand. Der sarazenische Heerführer Falfaron, ein Bruder des Marsilias, drang auf den kühnen Oliver ein, doch er sank leblos in den Staub, als der Held ihm seine Lanze durch das doppelringige Kettenhemd stieß. "Unser ist der Sieg!" schrie Oliver wild.
Viele Stunden lang währte der grausige Kampf. Das ganze Tal hallte wider von Waffengetöse und wildem Kampfgeschrei, von Rossegewieher und vom Schmerzenslaut der Verwundeten. Wer von den Feinden nicht weichen wollte, starb unter dem unwiderstehlichen Ansturm der Frankenhelden; ihre Rosse traten bis über die Knöchel in Blut.
Doch immer neue Kämpfer drangen nach, und auch manch tapferer Franke mußte der Übermacht erliegen.
Karls Paladine, Roland und Oliver und der Erzbischof Turpin, kämpften Schulter an Schulter. Roland selber vollführte mit seinem guten Schwerte Durandal Wunder der Tapferkeit. Als die Sonne auf der Mittagshöhe stand, brach den Sarazenen der Mut. Sie wandten sich zur Flucht und überließen den Frankenhelden das Schlachtfeld.
Rasend vor Wut empfing König Marsilias seine flüchtenden Krieger. "Beim Barte des Propheten", rief er ingrimmig, "die grüne Fahne mit dem Halbmond soll zum Siege voranwehen!"
Sogleich bei Sonnenaufgang standen frische Kämpfer in unendlicher Zahl zum Kampfe bereit. Mit Sorge hörten die Franken, die todmüde nach dem schweren Ringen in den Schlaf gesunken waren, den Klang der tausend Kriegshörner, und mit Bestürzung sahen sie die Höhen und Felder ringsum von Sarazenen bedeckt, die in wildem Ungestüm und in hundertfacher Übermacht heransprengten.
Der Kampf war ungleich geworden, denn die Franken waren geschwächt von dem lang währenden Kampfe des Vortages, und ihre Waffen waren zerbrochen oder schartig.
An der Spitze der Angreifer ritt Climorin von Saragossa, ein starker, hochgemuter Held. Sein brauner, sehniger Arm wog die wurfgerechte Lanze, und er richtete sie auf den Herzog Engelir, einen der kampfbewährten Paladine des Kaisers. Sein Panzerhemd war in den Kämpfen des Vortages mehrfach durchlöchert. Nun traf ihn die Waffe des Sarazenen und warf ihn tot zur Erde.
Für die Franken war dieser Tod des Helden ein schlimmes Vorzeichen. Zwar blieb dem Sieger der Ruhm nicht lange, denn Oliver gab sogleich seinem Streitroß die Sporen und ritt gegen den Überwinder seines Freundes an. So furchtbar sauste sein berühmtes Schwert Alteklere auf Climorins Haupt nieder, daß er lautlos vom Pferde sank. Noch sieben arabische Fürsten, die Oliver umdrängten, sanken unter seinen gewaltigen Schwertstreichen entseelt zu Boden.
Weiter wogte das grausige Morden mit wechselndem Kriegsglück hin und her. Wie wilde Löwen stürmten Oliver und sein Waffengefährte, der Herzog Sansun, über das Schlachtfeld, Tod und Schrecken verbreitend; reihenweise sanken die Sarazenen zu Boden. Doch da drang Valdabrun aus dem Araberland, einer der stärksten Kämpfer aus König Marsilias' Reihen, gegen Herzog Sansun an.
"Jetzt gilt es Mohammed oder Sankt Peter!" schrie der Heide. Er überraschte Karls Paladin beim Kampf mit einem Saragossaner und durchbohrte ihn mit der Lanze, daß Sansun leblos vom Pferde sank. Aus der Ferne hatte Roland den Fall des Kampfgefährten beobachtet. In wilden Sätzen trug ihn sein Streitroß herbei, und mit einem unwiderstehlichen Schlag seines Wunderschwertes Durandal rächte Roland den Tod des erschlagenen Freundes an dem starken Sarazenen. Auch die andern Paladine, voran der Erzbischof Turpin, taten es Karls streitbarem Neffen gleich an Tapferkeit.
Wieder wurde der Boden von Blut getränkt, wieder konnten die Sarazenen nicht der fränkischen Heldenkraft widerstehen. "Mohammed, hilf uns!" erklang es aus den Reihen der Heiden, und dann wälzte sich ein Strom von Flüchtenden zu der Höhe, wo Marsilias mit erlesenen Helden auf seinem andalusischen Streithengst hielt und die Schlacht lenkte.
Mit bösem Ingrimm sah der König, wie seine Sarazenen dem wütenden Ansturm der Frankenkrieger weichen mußten und von den erbarmungslosen Schwertern dahingerafft wurden. Da ließ er die Kriegshörner blasen und führte selber seinen riesigen Heerbann den Kämpfern des Frankenkaisers entgegen. Marsilias' Krieger waren trefflich gerüstet und wohl ausgeruht. Diesen ausgewählten frischen Kämpfern konnten die zu Tode erschöpften Frankenkrieger nicht widerstehen. Reihenweise sanken sie erschlagen in den Staub. Auch vier der Paladine fanden den Tod auf dem Schlachtfelde.
Aus dem dichten Kampfgewühl hatte sich Roland mit seinem Freund Oliver und dem Erzbischof Turpin auf eine Höhe zurückgezogen, um die Kampflage zu beraten. Ihn trieb die Verzweiflung beim Anblick der vielen erschlagenen Kampfgefährten. Sollte er nicht sein Horn blasen, um den Kaiser mit der Hauptmacht des Heeres zur Hilfe herbeizurufen?
Er wollte den Rat der Freunde. "Es ist nun zu spät", sagte der Erzbischof dumpf. Und doch riet er ihm zu, das Horn zu blasen. "Kaiser Karl wird unsern Hilferuf vernehmen und herbeieilen, uns zu rächen. Ob uns die Sarazenen auch das Leben rauben - uns wird in geweihter Heimaterde eine Grabstätte, und mancher Franke wird an unserm Grabe ein frommes Gebet verrichten."
Da setzte Roland sein Horn an die Lippen. Und so gewaltig blies er den Olifant, daß ihm das Blut aus dem Munde quoll und seine Schläfenadern fast zersprangen.
Der Klang des Wunderhornes schwang sich weit über die Berge hin und erreichte das Ohr des Kaisers, der mit seinen Getreuen nordwärts zog. "Roland ist in Not", sagte Karl dumpf. "Daß er das Horn so bläst, zeigt mir an, daß er einen Kampf auf Leben und Tod zu bestehen hat." Sogleich wollte er Befehl geben, den Heereszug umkehren zu lassen.
"Wer sollte es wohl wagen, deine starke Nachhut anzugreifen?" rief der treulose Ganelon. "Wir haben ja Frieden mit den Männern unter dem Halbmond geschlossen. Was Ihr vernehmt, Herr Kaiser, ist das Jagdhorn Eures Neffen. Sicherlich hat er in den Waldbergen einen starken Bären erlegt und bläst vor Freude über sein Jägerglück."
Doch Karl hatte Ganelons Arglist durchschaut und drängte auf Umkehr. Den Verräter ließ er fesseln und auf ein Maultier binden. In aller Eile strebte das Frankenheer zurück ins Tal von Ronceval.
Die Frankenhelden hatten sich dort enger zusammengeschart und erwehrten sich mit verzweifeltem Mut der feindlichen Übermacht. Wie grimmige Löwen wüteten Roland und Oliver unter den Angreifern.
Da kam Marsilias über das Schlachtfeld gesprengt, ihm zur Seite sein Sohn Jurfalu. Der Maurenkönig wies ihm den starken Frankenkrieger: "Das ist Roland, der tapferste der Paladine des Kaisers. Wenn er in den Staub sinkt, so wird die grüne Fahne unseres Propheten weiterhin über Spanien wehen."
Der junge Sarazene ritt mit eingelegter Lanze gegen den mächtigen Recken an. Roland stieß sie mit seinem Schild kampfgeübt beiseite und ließ sein Wunderschwert Durandal auf den Helm des Königssohnes niedersausen, daß Jurfalu lautlos aus dem Sattel fiel.
Dieser Zweikampf war so schnell beendet, daß König Marsilias kaum Zeit fand, die grausame Wahrheit aufzunehmen. Voller Entsetzen starrte er auf den im Staube Liegenden. Doch dann senkte er die Lanze, um seinen tapferen Sohn blutig zu rächen. Aber Rolands Schwert sauste mit gesteigerter Wucht auf ihn nieder. Mit wendiger Kraft wich der Sarazene den Schlägen aus und brachte den Gegner mit seinen Wechselhieben in Bedrängnis. Lange stand die Entscheidung aus. Doch da sah der Frankenheld seinen Vorteil, ließ sein Schwert Durandal niederfahren und traf des Königs Hand, daß sie, am Gelenk abgehauen, mit dem Speer zu Boden fiel.
Mit heulendem Wehruf wandte der schwerverwundete Sarazenenfürst sich ab, und auf seiner Flucht riß er den Rest seiner Krieger, die noch den Franken widerstanden hatten, mit sich.
Es mochte scheinen, daß den ausdauernden Kämpfern der fränkischen Nachhut, die das grausige Gemetzel überstanden hatten und das Schlachtfeld behaupteten, nun doch noch der Sieg zufallen sollte. Doch da rückte ein neues Heer zum Angriff gegen Karls Krieger heran, das zugleich die flüchtenden Sarazenen aufnahm. An der Spitze der neuen Kämpfer, die mehr als fünfzigtausend Mann zählten, erschienen die Könige von Äthiopien und von Karthago. Sie hatten mit ihren Scharen von Afrika her das Meer überquert und waren wild entschlossen zum Kampf gegen den verhaßten Frankenkaiser.
Mit Entsetzen sah Roland die Übermacht der kampfesfrischen Krieger gegen seine todmatten Gefährten andringen. Bald waren die Überlebenden des Frankenheeres ganz von Feinden umringt.
Da ritt Morganich, der König von Äthiopien, gegen den tapferen Oliver an. Er traf ihn von hinten in den Rücken, daß der Speer zur Brust herausdrang. Doch der riesenstarke Held hielt sich im Sattel. Blitzschnell wandte er sich um und ließ sein Schwert Alteklere auf den Gegner niedersausen, daß es ihm den Schädel zerschmetterte. Noch an die zwölf Sarazenen erschlug der Held, bis seine Kraft erlahmte. Roland erschrak auf den Tod, als er des Freundes entfärbtes, geflecktes Gesicht sah; Olivers Hände zitterten wie die eines Greises. Behutsam ließ Roland den treuen Paladinen aus dem Kampfgetümmel herausführen.
Doch die Not, in der Oliver seine Kampfgenossen wußte, ließ ihn keine Ruhe finden. Er hatte sich die Wunden verbinden lassen, hatte sich nach der Kampfeshitze an stärkendem Trunk gelabt und verlangte nach seinem Streitroß. "Ich bin stark genug, um mit dem Schwerte dreinzuschlagen", wies er die Einwände seiner Freunde zurück, "und ich will nichts als einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld."
So stürzte er sich wieder ins Kampfgetümmel. Doch sein Blick war so umwölkt, daß er nicht mehr Freund noch Feind unterscheiden konnte. Wahllos schlug er dort auf dem Schlachtfelde mit dem Schwerte drein. Laut klang es wider, als seine Waffe auf die Brünne eines Streiters einhieb, den er nur undeutlich erkannte. Oliver hob den Schild, den erwarteten Gegenschlag abzuwehren, aber da rief ihn eine Stimme an: "Erkennet Ihr mich denn nicht, Freund Oliver? Warum greift Ihr mich an?"
Es war Roland selber, den er mit seinen Streichen getroffen hatte.
Behutsam führte Roland den Freund zum zweiten Male aus dem Schlachtgetümmel und bettete ihn in dem nahen Wäldchen sicher ins Moos.
Dort lag der kühne Oliver und faltete die Hände zum Gebet. Laut beichtete er seine Sünden und bat Gott um Gnade und Sühne. Sein letzter Segenswunsch galt seinem Freunde Roland. Dann stockte ihm der Atem. Friedlich schied der wackere Held aus der irdischen Welt. In unendlichem Schmerz sah Roland den Freund sein Leben aushauchen; so stark war sein Kummer, daß er ohnmächtig neben dem Toten niedersank.
Als er sein Bewußtsein zurückfand, sah er den Erzbischof Turpin mit Graf Walther vor sich stehen. "Nur wir drei sind noch am Leben", berichtete der tapfere Graf, den Roland vorher zum Schutz der anliegenden Höhen ausgesandt hatte. Er war vor der Übermacht der Feinde zurückgewichen. Die ganze Nachhut hatte auf der Ebene und den Bergabhängen ringsum den Tod gefunden.
Roland, Turpin und Walther kämpften ihren letzten Kampf. Sie waren entschlossen, gemeinsam als Helden zu sterben. Die Felswand bot ihnen im Rücken und von der Seite her Schutz, so daß die Sarazenen nur von vorn angreifen konnten. Im Schutze des Gesträuchs schlichen diese herbei, schleuderten blitzschnell ihre Speere und schossen ihre Pfeile ab. Die Helden schützten sich mit ihren Schilden, und immer wieder sprangen Roland und seine Mitkämpfer in überraschendem Ausfall hervor und streckten einen der Verwegenen nieder. Zwar häufte sich rings um die einsamen Verteidiger ein Wall von erschlagenen Sarazenen, doch ihre Schilde und Brünnen klafften zerfetzt von den zahllosen Geschossen, und bald darauf traf den Grafen Walther so schwer eine feindliche Wurflanze, daß er todwund zur Erde sank. Roland fand im Kampfgewirr nicht die Zeit, dem Tapferen das Sterben zu erleichtern. Wortlos verschied der Waffenbruder, die Augen auf den starken Roland gerichtet. Auch der Erzbischof Turpin war zu Tode getroffen; drei Lanzen aus der Faust der Angreifer staken ihm im Panzer. Doch unerschütterlich stellte er sich den andringenden Feinden entgegen.
"Freund Roland" stieß er dann mit letzter Kraft hervor, "blast noch einmal Euer gutes Horn Olifant! Vielleicht vernimmt Kaiser Karl unsern Hilferuf."
Der starke Paladin des Frankenkaisers blickte wehmütig über das Schlachtfeld hin, das von den Leichen der erschlagenen Mitstreiter bedeckt war. Er selber war zu Tode erschöpft. Doch dann tat er nach dem Geheiß des streitbaren Kampfgefährten und setzte das Horn an die Lippen. Und ob sie auch ausgedörrt waren nach dem erbarmungslosen Kämpfen, er blies so gewaltig, daß der Klang weit über das Schlachtfeld und weit in die Berge hinein drang. Er blies mit so markiger Kraft, daß sein ganzer Körper zitterte und daß die Schläfenader sprang. Wie der Seufzer eines Sterbenden drang der Hornruf durch die Lüfte - aber Karl vernahm ihn. Mit seinen schnellsten Reitern war er, von Sorge getrieben, dem Hauptheere vorausgeeilt und befand sich schon nicht mehr fern der grausigen Kampfstätte im Tal von Ronceval. Nun war ihm nicht mehr zweifelhaft, daß Roland, der beste seiner Paladine, in Todesnot war. Würde er noch rechtzeitig zur Rettung erscheinen?
"Blast mit Macht die Kriegshörner, damit meine Helden unsern Ruf vernehmen und wissen, daß Hilfe naht!" drängte der Kaiser die Seinen.
Doch nur noch die beiden überlebenden Frankenhelden, nur Roland und der todwunde Graf Turpin, vernahmen den Hornruf der Retter. Angsterfüllt aber hörten ihn zugleich die Sarazenen. Nur ein Gedanke trieb sie: Roland und seinen Waffengefährten zu Tode zu treffen und dann vor der Rache des Kaisers zu fliehen.
Vierhundert erlesene Sarazenenkrieger drangen auf Roland und Graf Turpin ein.
"Der Kaiser ist nah!" rief Roland seinem Kampfgefährten zu. Neue Kraft beseelte den herrlichen Helden. In wildem Kampfesgrimm bestieg er sein edles Streitroß und sprengte mitten in die Heidenritter hinein. Niemand konnte seinen wütenden Streichen widerstehen, doch unter der übermächtigen Zahl der feindlichen Speere, die aus der Ferne auf ihn wie Gewitterregen niederprasselten, brach sein starkes Streitroß Vaillantif leblos zusammen. Das Schwert in der Faust, stand der Held, aus ungezählten Wunden blutend, zu Fuß zu weiterem Kampf bereit.
Doch keiner der Sarazenen wagte dem unbezwinglichen Frankenkrieger entgegenzutreten. Da schritt Roland zu Graf Turpin, dem sterbensmüden Kampfgefährten, zurück. Sorgsam löste er dem Freund die beengende Rüstung, verband ihm die Wunden und reichte ihm zu trinken. Dann blickte er über das grausige Kampffeld hin. Scheu hielten die Sarazenen sich in sicherem Abstand. Da raffte Roland sich zu einer letzten Tat auf, die die Freundestreue ihm gebot. "Ich will die erschlagenen Paladine herbeitragen und sie hier vor Euch niederlegen", sagte er zu dem todgeweihten Erzbischof, "damit sie aus Eurer Hand den heiligen Segen erhalten."
So schritt er durch die Reihen der Gefallenen und hob sie auf. Leichnam auf Leichnam legte er vor dem Erzbischof nieder, und mit tränenerstickter Stimme hob Turpin die Hände und segnete sie: "Möge Gott eure Seele ins Paradies aufnehmen", sagte er, "und auch meine dazu, denn noch heute werde ich mit euch vereint sein!"
Die unerbittliche Kampfeswut unter der glühenden Sonne und die unendliche Mühsal, der Schmerz um den Tod der Kampfgefährten und der Zorn über den Erfolg der Feinde waren zuviel für Rolands Ritterkraft. Zu Tode erschöpft, sank er neben der Reihe der gefallenen Frankenkrieger ins blutgetränkte Moos des Felsengrundes. "Nur einen Schluck Wasser!" stieß er mit ausgedörrter Kehle hervor.
Mit übermenschlicher Kraft richtete Graf Turpin, zu Tode verwundet und sterbensmatt, sich auf. Er ergriff Rolands Horn Olifant und schleppte sich mit wankenden Knien zum nahen Bach, um es mit Wasser zu füllen. Doch die Mühe dieser edlen Freundestat ging ihm über die Körperkraft. Hier traf ihn der Tod: ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, und dann sank der fromme Gottesmann, der ein so wackerer Streiter seines kaiserlichen Herrn gewesen war, in das Moos.
So fand ihn Roland: die Hände friedlich über die Brust gekreuzt, lag der tote Erzbischof und hielt die gebrochenen Augen zum Himmel gerichtet, als wolle er Gott den Herrn bitten, ihn in sein ewiges Reich aufzunehmen. Weinend kniete Roland vor dem getreuen Mitstreiter. Dann bettete er ihn behutsam neben die gefallenen Paladine.
Er fühlte, daß nun auch ihm der Tod nahe war. Da schritt er, schwer sich stützend auf Durandal, sein treues Schwert, zur nahen Waldlichtung, wo vier mächtige Felsblöcke Schatten boten. Mit dem Rücken lehnte der Held sich dort an, um den Tod zu erwarten.
Unter den Gefallenen, die ringsum verstreut lagen, hatte sich einer der Maurenkrieger versteckt. Er hatte sich totgesteIlt, um in einer Kampfpause entfliehen zu können. Als er nun Kaiser Karls treuesten Paladin allein in seiner Nähe ruhen sah, glaubte er, es biete sich ihm eine leichte Gelegenheit, dem verhaßten Frankenhelden Schwert und Horn zu rauben. Katzengleich schlich er sich heran. Welchen Triumph würde es im Sarazenenlager bedeuten, wenn er Durandal und Olifant, Rolands berühmte Kampfbegleiter, heimbrächte!
Roland fuhr aus seiner Ohnmacht auf, als der heimtückische Mann ihm das Schwert abziehen wollte. Mit seinem Olifant traf Roland ihn so hart aufs Haupt, daß der Sarazene, zu Tode getroffen, hinsank. Traurig betrachtete der Held sein zersprungenes Horn: "Nie wieder wirst du bei froher Jagd oder auf dem Kriegszuge erklingen!"
In bitteren Gedanken wog er Durandal, sein gutes Schwert, in der Hand. Sollte er zulassen, daß es nach seinem Tode in Feindeshand falle? Da raffte er sich mit letzter Kraft auf und trat vor die Felswand. Mit einer Heldenkraft, wie sie ihm zu den besten Zeiten seines Kämpferlebens erfüllt hatte, führte er mit dem Schwerte einen furchtbaren Schlag auf den Stein, um die Klinge zu zerschmettern.
Doch war Roland der schwertgewaltigste unter Kaiser Karls Paladinen, so war Durandal das beste und härteste der Schwerter: es zerbrach nicht, ja es bekam unter dem wuchtigen Schlag nicht eine Scharte - anstatt zu zerspringen, spaltete Rolands Schwert den harten Felsen in zwei Teile!
"O Durandal", rief der Frankenheld voll inniger Rührung, "du treuer Kampfgefährte! Kaiser Karl, mein Oheim, hat mich einst mit dir umgürtet, und wie viele Schlachten hast du mit mir siegreich bestanden - nun willst du auch auf dem letzten Wege nicht von mir lassen!"
Er ließ sich zu Boden gleiten und lag auf dem Rücken, den Blick zum Himmel gerichtet. Wie sollte er die Schmach verhüten, daß die herrliche Waffe den Heiden in die Hand falle? Mit schwindender Kraft raffte Roland sich auf seinem letzten Lager auf und legte das blanke Schwert unter sich, so daß er es ganz mit seinem Leibe deckte. Dann sprach er sein Gebet und bat Gott voll Demut um Vergebung seiner Sünden. Seine letzten Gedanken galten dem Kaiser, der mit seinen Franken bald von den Höhen herabsteigen würde.
In der Ferne, weit im Süden, wußte Held Roland die weichenden Sarazenen. Dorthin, nach Saragossa, richtete er das Haupt, um im Tode noch als Sieger feindwärts zu blicken.
So ereilte den Helden der Tod und entführte ihn in sein Reich; ohne Schmerzen verschied Roland, der treueste und tapferste von Kaiser Karls Paladinen. Wetterwolken zogen über den Abendhimmel, Blitze zuckten auf, und lautlos breitete sich dann milde die Nacht über die blutgetränkte Walstatt, über die Leichen so vieler erschlagener Krieger.
Mit dem Morgengrauen ertönte Hörnerschall von den nahen Waldbergen herüber. Mit Schrecken nahm Karl mit seinen heranrückenden Franken wahr, daß seine Paladine keine Antwort gaben. Warum ließ Roland nicht sein Horn erklingen? Entsetzen packte den Kaiser, als er mit seinen Helden ins Tal hinabspähte. Grauenvoll war der Anblick dieser Stätte des Todes. Der Kaiser wußte sich nicht zu fassen in Schmerz und bitteren Selbstvorwürfen. Warum hatte er dem Heere nicht zur Seite gestanden?
"Jetzt ist keine Zeit zum Klagen!" mahnte Herzog Neimes die Helden. "In der Ferne zeigt sich noch der Staub der flüchtenden Feinde. Wir müssen sie einholen, um den Verrat zu bestrafen und den Tod unserer Kampfgefährten zu rächen!"
Der Kaiser ließ zwei Grafen als Totenwache im Roncevaltal zurück und machte sich sogleich an die Verfolgung. Gräßlich war die Vergeltung, die seine Mannen übten; nur wenige Heiden entrannen dem Rachewerk.
Dann kehrten die Frankenkrieger zur Walstatt des Todes zurück und machten sich an die schmerzvolle, fromme Aufgabe, die Gefallenen zu bestatten. Das ganze Heer beweinte mit Karl die herrlichen Paladine und ihre vielen Getreuen, die ihr Leben geopfert hatten. Sie wurden alle mit Wein und Salben gewaschen und dann eingesalbt in alexandrinische Tücher gehüllt, damit ihre Leichen unverwest mit in die Heimat geführt werden konnten. Auf sein breites Schwert gestützt, stand Karl lange vor der Reihe der erschlagenen Paladine und vor seinem herrlichen Neffen, der wie schlafend im Grase ruhte. "Nie mehr wird es einen Helden für mich geben wie dich, stark und tapfer, treu bis in den Tod", stieß er leise hervor. "Keinen besseren Freund hatte ich auf Erden als dich, lieber Neffe Roland!" Tränen schossen ihm aus den Augen, und der mächtige Kaiser schämte sich ihrer nicht. Mit inniger Rührung nahm er Rolands Schwert Durandal an sich, das der Held mit seinem Leibe geschützt hatte.
Aber noch standen die Franken vor einem schweren Strauß, denn dem König Marsilias, der sich mit wenigen seiner Sarazenenkrieger über den Ebrostrom gerettet hatte, eilte mit gewaltiger Streitmacht der Kalif Baligan von Babylon zur Hilfe. Hochfahrend verlangten seine Gesandten Unterwerfung und Tribut der Franken. Als Antwort stellte der Kaiser seine Krieger in zehn Heerbannen zum Kampf bereit und ließ die Kriegshörner blasen. Er selber setzte sich dem Heer an die Spitze. Die Kämpfer unter dem Drachenbanner Babylons glaubten leichtes Spiel zu haben, und in dem mörderischen Kampf, der zwei volle Tage in der weiten Ebene hin und her wogte, wurde auch mancher Frankenschild zerhauen und mancher Frankenkrieger leblos aus dem Sattel geworfen. Doch die Heidenkrieger unterlagen dem Siegesmut und dem Schwerte der Frankenhelden. Wild entschlossen suchte Kalif Baligan den Zweikampf mit Kaiser Karl selber, doch er war der Heldenkraft des Frankenkaisers nicht gewachsen. Erschlagen sank er mit Babylons Drachenbanner in den Staub, seine Mannen flohen voller Entsetzen.
Als Sieger zog Kaiser Karl in Saragossa ein. Nachsichtig verschonte er alle Feinde, die sich ihm unterwarfen.
Dann ging der reisige Zug heimwärts ins Frankenland nach Aachen. Mit Lorbeerzweigen bekränzt hielten die Sieger ihren Einzug in die Kaiserstadt. In Fesseln wurde Ganelon mitgeführt.
Den Kaiser drängte es, Gericht zu halten über den Verräter, der aus Rachsucht und um schnödes Geld den edelsten der Frankenhelden samt zwanzigtausend Kriegern den Untergang gebracht hatte.
Mit trotziger Miene stand Ganelon vor der Gerichtsversammlung, zu der der Herrscher die Weisesten aus allen Teilen seines Reiches berufen hatte. Der Angeklagte bestritt hartnäckig jede Schuld. Da erkannten die beratenden Richter auf Gottesurteil. Der riesenstarke Graf Pinabal, ein Freund Ganelons, war bereit, für ihn einzutreten. Die Sache des erschlagenen Roland vertrat Gottfried von Anjou, schlank und von behender Gewandtheit. "Ganelon ist ein Verräter", rief er, "und ich will Roland verteidigen, ob auch Pinabal ein hochberühmter Recke ist."
Auf freiem Felde vor der Kaiserstadt Aachen standen die beiden Kämpfer einander gegenüber. Schon beim ersten erbitterten Zusammenprall zersplitterten die Lanzen. Da sprangen sie vom Pferde und setzten den Schwertkampf zu Fuß fort. Pinabal, seinem Widersacher an Kraft überlegen, konnte den von Anjou schwer am Halse verwunden und wollte ihm Gelegenheit geben, sich zu unterwerfen. "Gäbe ich nach, so wäre ich ein Schurke gleich Ganelon, den du schuldlos nennst", rief Rolands Stellvertreter keuchend, und damit führte er einen so wuchtigen Schlag auf den Helm des Gegners, daß sein Schwert tief in Pinabals Haupt eindrang. Leblos sank der starke Recke zu Boden.
Auch die Ritter, die Ganelons Partei ergriffen hatten, mußten nun erkennen, daß ein Gottesurteil gesprochen war. Der Kaiser ließ die Gerichtsversammlung über die Vollstreckung entscheiden, und die weisen Richter erkannten für Recht, daß der verräterische Vasall, der so furchtbares Unheil über Kaiser Karls Getreue heraufgeführt hatte, von wilden Hengsten zu Tode geschleift werden sollte.
Walther und Hildegund
Als Etzel, der König der Hunnen, mit seinen Heerscharen die Völker unter seine Macht zwang, stellten viele Könige ihm Geiseln, damit er ihr Land verschone. So gab Gibich, der Frankenkönig zu Worms am Rhein, den adeligen Knaben Hagen von Tronje zugleich mit vielen Schätzen als Unterpfand ins Land der Hunnen; in Châlons lieferte der Burgundenkönig Herrich sein Töchterchen Hildegund als Geisel an Etzel aus, und auch der König der Goten, Alpherr von Aquitanien, erkaufte sich den Frieden seines Landes, indem er seinen jungen Sohn Walther an den Hunnenhof sandte. Walther und Hildegund waren nach dem Willen der Eltern miteinander verlobt.
König Etzel und seine Frau Helche hielten die Geiseln in Ehren.
Die jungen Menschen führten in der Verbannung ein Dasein voller Lebensfreude, das nur durch die Trennung von der Heimat getrübt war. Hagen und Walther wuchsen zu kräftigen Männern heran, und die Erziehung, die Etzel ihnen angedeihen ließ, machte sie zu streitbaren Recken, bald übertrafen sie des Königs Mannen an Kraft und Kühnheit, und in den wilden Kriegen, die Etzel zu führen hatte, taten sie sich durch Tapferkeit und Klugheit hervor. Hildegund erblühte zu einer schönen Jungfrau, und in allen Frauenarbeiten zeigte sie sich so geschickt, daß Königin Helche ihr bald volles Vertrauen schenkte und ihr die Verwaltung der Schatzkammer übertrug.
In jener Zeit starb König Gibich in Worms. Auf dem Throne folgte ihm sein Sohn Gunther, der zur Zeit des Hunneneinfalls noch ein Kind gewesen war. Da wollte Hagen von Tronje nicht länger als Geisel bei König Etzel bleiben. Heimlich entwich er vom Hunnenhofe und erreichte glücklich den Rhein und die Heimat.
"Wir müssen verhindern, daß auch Walther flüchtet", sagte Etzel zu seiner Gemahlin, und um ihn zu binden, versuchten sie ihn mit einer hunnischen Fürstentochter zu vermählen. Doch Walther wich diesem Anerbieten klug aus.
Als er bald darauf ruhmbedeckt von einem Kriegszuge heimkehrte, traf er Hildegund einmal allein in ihrem Gemach. Da gestanden sich beide ihre Liebe und gelobten sich die Treue. Und von nun an suchten auch sie die Gelegenheit zur Flucht.
Auf einem Festmahl, zu dem Walther das Königspaar und die hunnischen Fürsten eingeladen hatte, setzte er seinen Gästen so viel schweren Wein vor, daß bald alle Hunnen in tiefen Schlaf sanken. Währenddessen hatte Hildegund auf Walthers Geheiß zwei große Kästen mit goldenen Armringen und Edelsteinen aus der Schatzkammer gefüllt und sich zur Flucht aus Etzels Burg gerüstet.
Walther hängte beide Kästen seinem starken Roß, das Hildegund führte, über den Rücken. In der Hand trug sie Angel und Leimrute, die ihnen auf dem langen Wege die Nahrung liefern sollten. Heimlich verließen die beiden den Königspalast. Walther, der Etzels kostbare Rüstung angelegt hatte, schritt voraus. Und so gefürchtet war der junge Held unter den Hunnen, daß keiner von ihnen den Flüchtigen nachzureiten wagte.
Durch einsame Wälder führte der Weg das Paar dem fernen Ziel entgegen. Vom Wildbret, das der Recke erlegte, und von Fischen fristeten Walther und Hildegund das Leben. Nach vierzig Tagen gelangten sie auf ihrer Flucht endlich an den Rhein und in die Nähe von Worms. Dem Fährmann, der sie übersetzte, gab Walther zur Entlohnung zwei Fische, die er unterwegs gefangen hatte.
Andern Tags verkaufte der Mann seinen Fergensold am Königshofe zu Worms, und verwundert über die seltsame Speise fragte König Gunther beim Mahle nach der Herkunft der fremdartigen Fische. So erfuhr er von dem riesigen Recken und der schönen Jungfrau, die der Fährmann übergesetzt hatte. "Bei jedem Tritt des Rosses", erzählte der Ferge, "erklang es in den Truhen wie von Gold und Edelsteinen!"
"Das kann nur mein Blutsbruder Walther sein, der aus dem Hunnenlande mit Hildegund in die Heimat zurückkehrt", rief Hagen froh, als er das hörte. König Gunther aber empfand eine Freude anderer Art. "Nun ist durch Schicksalsfügung der Schatz, den mein Vater einst ins Hunnenland gesandt hat, in mein Reich zurückgekehrt!" rief er, und sogleich wählte er zwölf seiner Recken aus, die ihm helfen sollten, dem Heimkehrer das Gold abzujagen. Vergeblich riet Hagen ab und warnte vor Walthers Reckenkraft; voller Betrübnis zog er mit aus zum Kampf gegen seinen alten Waffengefährten.
Unterdessen war Walther in den wilden Wasgenwald gelangt, der jenseits des Rheins liegt. Am Wasgenstein, in einer Schlucht, die so eng war, daß nicht zwei nebeneinander reiten konnten, gedachte er zu rasten. Auf der langen Flucht hatte Walther nie anders geschlafen als gewappnet und gestützt auf seinen Schild. Jetzt tat er die schwere Rüstung ab und legte sein Haupt in Hildegunds Schoß, und die Jungfrau wachte für ihn.
Doch schon nach kurzer Zeit mußte sie seinen Schlaf stören; denn in der Ferne bemerkte sie eine Staubwolke und den blinkenden Schein von Waffen. Schnell legte Walther seine Waffenrüstung wieder an und trat vor den Eingang der Schlucht.
Gunther folgte Hagens Rat und schickte zunächst einen Boten hinüber, ließ nach Namen und Weg fragen und an den jungen Recken die Forderung stellen, den Schatz freiwillig herauszugeben. Vergebens bot Walther hundert Goldringe und noch weitere hundert als Lösegeld, Gunther forderte den ganzen Schatz. Da ergrimmte Walther und tötete den Boten.
So kam es zum Kampf. In der engen Schlucht mußte einer nach dem andern gegen Walther anreiten; doch niemand war seiner Heldenkraft gewachsen. Alle elf Streiter, die König Gunther zur Verfolgung mitgenommen hatte, erschlug Walther mit dem Schwert.
Da wandte sich Gunther in seinem Zorn an Hagen, der sich vom Kampfe gegen seinen alten Waffenfreund ferngehalten hatte. Erst als der von Tronje vernahm, daß sein eigener Neffe von Walther erschlagen sei, war er zum Kampfe bereit.
"Wir müssen ihn aus der schützenden Schlucht hervorlocken", sagte er, und so ritt er mit Gunther fort, um sich mit ihm auf die Lauer zu legen.
Unterdessen war es Abend geworden. "In Worms soll man mir nicht nachsagen, ich sei wie ein Dieb in der Nacht entwichen", stieß Walther grimmig hervor, legte einen Zaun von Dornen vor den Eingang der Schlucht und halfterte die erbeuteten Rosse an. Todmüde nach dem schweren Kampfe warf sich der Recke auf seinen Schild, und Hildegund wachte über seinem Schlaf. Nachdem Walther sich ausgeruht hatte, übernahm er die Wache für den Rest der Nacht.
Als der Morgen dämmerte, belud er vier der erbeuteten Rosse mit den Waffenrüstungen der Erschlagenen, hob Hildegund auf das fünfte und ritt mit ihr davon. Aber sie waren noch nicht weit vom Wasgenstein entfernt, als sie Gunther und Hagen heranstürmen sahen. "Reite in den Wald", gebot der Held der verängstigten Hildegund und gab ihr das Roß mit, das die Goldschreine aus dem Hunnenlande trug. Dann stellte er sich den beiden Angreifern zum Kampf.
Traurig sah Walther seinen alten Blutsbruder gegen sich anreiten, und auch Hagen ging schweren Herzens in diesen Streit; doch er mußte seinem König Folge leisten. Mehr als sieben Stunden währte nun der ungleiche Kampf, den Walther gegen die beiden Helden zu bestehen hatte. Schließlich schleuderte er seinen Speer mit unwiderstehlicher Gewalt auf Hagen, und gleich darauf stürzte er sich mit dem Schwert auf Gunther und schlug ihm das Bein von der Hüfte. Schon wollte er zum Todesstreich ausholen, da warf Hagen sich vor seinen König. In dem wütenden Schlagwechsel zersprang Walthers Schwert, und Hagen hieb ihm die rechte Hand ab. Mit der Linken griff Walther zu seinem krummen Hunnenschwert und schlug dem Tronjer ein Auge und sechs Zähne aus.
Da waren die drei grimmigen Recken kampfesmüde und ließen die Waffen ruhen, gemeinsam verbanden Hagen und Walther den schwerverwundeten Gunther. Hildegund, die herbeigeeilt war, reichte ihnen Wein zu Stärkung. Die Kämpfer schlossen Frieden miteinander, und Walther und Hagen erneuerten bei labendem Trunk und grimmigen Scherzen die alte Waffenbrüderschaft, bevor sie sich trennten. Gunther und Hagen kehrten in die Königsstadt am Rhein zurück, während Walther sich nach Süden wandte.
Bald nach der Rückkehr in die Heimat feierte Walther Hochzeit mit der schönen Hildegund, und nach seines Vaters Tode lenkte er sein Volk noch viele Jahre als König von Aquitanien mit Weisheit und Kraft.
Die Schlacht vor Raben
Im Streite um das Vatererbe war Dietrich vor seinem Oheim Ermenrich aus dem Lande gewichen und hatte an König Etzels Hof gastfreie Aufnahme gefunden. "Ich werde dir einst helfen, dein Reich zurückzuerobern", versprach ihm der Hunnenkönig, und Dietrich dankte ihm die Gastfreundschaft, indem er Etzel auf seinen Kriegsfahrten begleitete und ihm im Kampfe tapfer zur Seite stand.
Als das Heer sich nun zum Rachezuge rüstete, um Dietrich die Herrschaft zurückzugewinnen, ließen Etzels zwei Söhne nicht ab zu bitten, man möge sie doch mitreiten lassen. Ihre Mutter wollte nicht zustimmen, denn sie hatte geträumt, ein Drache habe die beiden Jünglinge entführt und vor ihren Augen zerrissen. Da bat Dietrich, die unerfahrenen Knaben seiner Hut anzuvertrauen: "Ich werde treu auf eure beiden Söhne achtgeben", versprach Dietrich den Eltern. So gab Etzel nach, weil auch Königin Helche Dietrichs Worten vertraute, und ließ sie ziehen.
Als der heimkehrende Dietrich die Grenzen seines Landes überschritt, zeigte es sich, daß die Heimat ihn nicht vergessen hatte. Seine Königsstadt Bern öffnete ihm willig die Tore, und viele Getreue scharten sich um ihn. Man rüstete sich zum Kampfe gegen Ermenrich, der sich bei der Stadt Raben mit seinem Heere zur Entscheidung stellte.
Etzels Söhne, Ort und Scharf, dazu seinen jungen Bruder Dieter hatte Dietrich dem kühnen Elsan anvertraut. Mit seinem Leben mußte dieser dafür bürgen, sie nicht vor die Stadt ziehen zu lassen. Doch heimlich übertraten die kühnen Jünglinge das Verbot und ritten ohne Elsan davon. Ohne es zu wissen, gerieten sie auf die Straße nach Raben. Vor dieser Stadt stießen sie auf den starken Witege, der einst Dietrichs Gefolgsmann gewesen und in Ermenrichs Dienst getreten war.
"Wir müssen unsern Herrn Dietrich an dem Verräter rächen!" riefen die drei Jünglinge voller Kampfeseifer und drangen auf den Helden ein. Vergeblich mahnte Witege sie, vom Streite abzulassen, da sie ihn doch nicht bestehen könnten. Er mußte sich jedoch ihres Ungestüms erwehren und erschlug mit Mimung, seinem guten Schwerte, König Etzels beide Söhne, dann Dieter, den jungen Bruder des Berners.
Während Dieter und die Etzelsöhne mit Witege kämpften und sich ihr Schicksal vollzog, entbrannte vor der Stadt Raben eine schwere Schlacht zwischen den Mannen Dietrichs und König Ermenrichs. Lange Zeit tobte der Kampf hin und her. Dann gelang es Dietrich und seinen Recken, den Widerstand von Ermenrichs Scharen zu brechen. Der harterkämpfte Sieg hatte schwere Opfer gekostet. Viele Erschlagene und Verwundete lagen in ihrem Blute, und Dietrich befahl, die Verwundeten zu pflegen und die Toten zu bestatten.
Da sah er, wie eben Elsan auf die Walstatt geritten kam. Dietrich fragte sogleich nach den Jünglingen, die er dem Schutz des Recken anvertraut hatte. Er erfuhr, Schlimmes fürchtend, Elsan habe sie aus den Augen verloren, und bald darauf kamen Boten, die meldeten, Dieter und die Söhne Etzels lägen erschlagen auf der Heide.
"Habe ich sie dir, Elsan, nicht auf Leben und Tod übergeben?" rief Dietrich klagend aus. Dann übermannte ihn der Zorn, und er erschlug Elsan auf der Stelle. Als er die Toten fand und ihre Wunden untersuchte, erkannte er den Täter. Nur das Schwert Mimung schlug solche Wunden, und Witege war es, der dieses Schwert führte. Das Verlangen, den Tod der Jünglinge zu rächen, wurde übermächtig in ihm. Aber wo sollte er den Mörder finden?
Der treue Rüdeger von Bechelaren, dessen junger Sohn in der Rabenschlacht gefallen war, hatte Dietrich zur Todesstätte begleitet. Er war es auch, der Witege und seinen Neffen Rienold über die Heide reiten sah.
Dietrich nahm sofort die Verfolgung auf, als beide vor dem berserkerhaft wütenden Feinde flohen. Schließlich stellte sich der junge Rienold Dietrich entgegen und griff ihn mutig an. Er konnte jedoch Dietrichs rasendem Zorn nicht widerstehen und fiel nach kurzem Kampfe.
Witege, von furchtbarem Schrecken erfüllt, vergaß das Gebot der Ehre und suchte das Heil in der Flucht, auf die Schnelligkeit seines Pferdes vertrauend.
Aber der Abstand zwischen Witege und seinem Verfolger wurde immer kleiner, und da der Fliehende die Richtung auf das Meer nahm, hoffte Dietrich ihn am Strande zum Kampfe zu stellen. Schon verzweifelte Witege selbst an der Rettung, da erhob sich aus den Fluten eine Meerfrau, seine Urahne Waghild, die den letzten Sproß ihres Geschlechtes samt seinem Roß mit sich in die Tiefe zog. Vergeblich harrte Dietrich lange am Strande, in der Hoffnung, der Feind werde wieder auftauchen. Aber nichts zeigte sich über der weiten Flut, und Dietrich mußte erkennen, daß Witege seiner Rache für immer entzogen war.
Trotz des Sieges über Ermenrich blieb Dietrich bei den harten Verlusten seines Heeres nichts anderes übrig, als an Etzels Hof zurückzukehren. Durfte er aber wagen, nach dem Tode der Königssöhne, für deren Leben er sich verbürgt hatte, vor König Etzel und Königin Helche hinzutreten? In dieser Not bat er Rüdeger von Bechelaren um Beistand, und der wackere Kampfgenosse übernahm es, das hunnische Hilfsheer zurückzuführen und die Verzeihung des Königspaares zu erwirken.
Noch bevor er eintraf, erschienen die herrenlosen Rosse der beiden Königssöhne vor dem Palast. Sie hatten allein den Weg in die Heimat gefunden. Die blutigen Sättel kündeten von unheilvollem Geschehen.
Der Schmerz übermannte Etzel und Helche, als sie durch Rüdeger über das Schicksal der Söhne Gewißheit erlangten. Den Zorn des Königspaares über Dietrichs Wortbruch wußte Rüdeger jedoch zu besänftigen, indem er auf die unglückselige Fügung hinwies, die das Zusammentreffen der Jünglinge mit Witege bewirkt hatte.
Als Dietrich bald darauf vor Etzel und Helche erschien, neigte er sich bis zur Erde und bat, der König möge sein Leid an ihm rächen und ihn töten. Da Helche die Erniedrigung des Helden sah, brach sie in Tränen aus. König Etzel aber nannte ihn schuldlos und versicherte ihn seiner Huld. Lange Jahre lebte Dietrich noch an Etzels Hof, wegen seiner Tapferkeit und seines klugen Rates hoch geehrt und geachtet. Als Etzel nach Frau Helches Tod die schöne Kriemhild als Gattin heimführte und diese, voll Rachedurst gegen Sigfrids Mörder, die Burgunden ins Land lockte, um sie zu verderben, war es Dietrich, der König Gunther und den starken Hagen von Tronje im letzten Kampf überwand.
Nach dem Untergang der Burgunden war das Leben an Etzels Hofe grau und trostlos geworden. Etzels Lebensmut war gebrochen. Seine besten Mannen, unter ihnen Markgraf Rüdeger, waren im Kampfe gegen die Burgunden gefallen. Der einzige Sohn aus der Ehe mit Kriemhild hatte durch Hagens Schwert den Tod gefunden. Dietrich hielt nichts mehr im Hunnenlande zurück.
Er verließ Etzels Hof, um die Herrschaft in Bern zu übernehmen. Den alten Hildebrand, seinen getreuen Waffenmeister, schickte er voraus. An der Landesgrenze trat Hildebrand ein wehrhafter Recke entgegen; der Alte erkannte ihn nicht. Drohende Reden flogen hin und her, und bald ritten die beiden Kämpfer erbittert aufeinander los. Die Speere zersplitterten, die Schilde krachten, die Recken sprangen von den Pferden und begannen den Schwertkampf. Keiner konnte den andern überwinden, und schließlich wurden sie so müde, daß sie rasten mußten.
"Nenne mir deinen Namen und gib deine Waffen heraus!" rief Hildebrands Gegner zornig. Der Alte lachte höhnisch und verlangte von dem andern das gleiche. Da hieben beide wieder aufeinander ein, bis ihnen die Kräfte schwanden.
Schließlich schlug Hildebrand dem jungen Recken mit seinem Schwerte eine schwere Wunde, und endlich schien sich dieser besiegt zu bekennen. "Hier, nimm mein Schwert, denn du bist stärker als ich", sagte er und reichte es dem Alten. Doch als Hildebrand danach griff, schlug der Junge zu. "Diesen Schlag lehrte dich ein Weib!" schrie der Alte voller Zorn und drang auf den andern ein. Er warf ihn zu Boden und richtete das Schwert dem Liegenden auf die Brust, dann nannte er ihm seinen Namen. Nun gab auch der Unterlegene den eigenen preis: Es war Hadubrand, Hildebrands Sohn.
Da warf der Alte das Schwert von sich, schloß den Sohn voller Freude in die Arme und küßte ihn unter Tränen. Gemeinsam ritten sie zu Frau Ute. Die wunderte sich über den fremden Gast. "Ich bringe dir meinen Vater Hildebrand", sagte Hadubrand. Da umarmte Ute den Gatten, den sie über drei Jahrzehnte nicht gesehen hatte.
Nur kurze Zeit rasteten Vater und Sohn, dann ritten sie zusammen nach Bern an König Dietrichs Hof. Ermenrich, der ihm so lange die Herrschaft streitig gemacht hatte, war im Kampfe gefallen, und nun endlich konnte Dietrich sich in Rom, der Ewigen Stadt, mit der Königskrone schmücken lassen, die ihm rechtmäßig zustand. Die lange Zeit der Trennung von der Heimat hatte ihn erfahren und weise gemacht.
Viele Jahre trug der Gotenkönig in strahlendem Ruhm die Krone auf dem Haupte, und alles Volk verehrte seine Macht und seine Gerechtigkeit, seine Milde und wahre Mannestugend.
Tannhäuser
Als unter der Herrschaft der Staufenkaiser das Reich sich von der Elbe bis in den fernsten Teil der italischen Halbinsel erstreckte, standen die schönen Künste in hoher Blüte. Minnesänger zogen von Burg zu Burg und fanden gastliche Aufnahme. Damals lebte im Österreichischen der Herr von Tannhäuser, ein Ritter aus altem Geschlecht. Als Lehnsmann des Grafen war er im Kaiserheere auf dem Kreuzzug mit ins Heilige Land gezogen, doch unter dem ritterlichen Panzer schlug das Herz des Sängers, und mehr als ritterliches Leben behagte ihm das freie, ungebundene Dasein des fahrenden Ritters, der seine Lieder zum Lobe von Frauenschönheit und züchtiger Minne, von Waffenlärm und Männerstreit durch die Lande trägt. Wo er als Gast einkehrte, wurde seine Kunst von schönen Frauen und edlen Herren wohl aufgenommen.
Doch längst war ruchbar geworden, daß der Tannhäuser von leichter und lockerer Wesensart war, und man wußte, er war ein Ritter Windbeutel, der das Geld nicht im Säckel halten konnte. Hätte sein Herzog Friedrich, der in Wien hofhielt, den leichtlebigen Sänger nicht immer wieder aus den Händen von Schankwirten und Wucherern befreit, so hätte der Tannhäuser trotz seines Ritterschildes wohl ein gut Teil seines Daseins im Schuldturm verbringen müssen. Der schöne Hofbesitz an der Donau, den der herzogliche Gönner ihm geschenkt hatte, zerrann dem unsteten Mann unter den Händen wie auch aller Geldvorrat, und der Tannhäuser war wieder arm wie zuvor.
Auf seinen Fahrten durch die deutschen Gaue gelangte er einst zur Wartburg, die im waldreichen Thüringen auf einer Bergeshöhe liegt. Gern erfüllte der Burgherr seine Bitte um ritterliche Herberge, denn Landgraf Hermann, der Herr der Wartburg, war den schönen Künsten wohlgesinnt. Auch er war bereit, ihm seine Leichtfertigkeit nachzusehen. Mehrfach war der Sänger bei ihm zu Gast gewesen, um im Wettkampf mit ritterlichen Sängern um den Preis zu ringen, den der Sieger aus den Händen Elisabeths, der lieblichen Nichte des Landgrafen, empfangen durfte.
Tannhäuser wußte alle Erwartungen wohl zu erfüllen, und beglückt lauschten die Bewohner der Burg seinem Gesang.
Wenn er von Minne und getreuer Liebe sang, so glaubte die schöne Elisabeth, daß er niemanden anders als sie selber preise.
Sie täuschte sich darin nicht, denn der Sänger war in Liebe zu ihr entbrannt, doch zugleich stürzte ihn diese Liebe in wilde Verzweiflung: Tannhäuser wußte, daß er, ein armer Ritter ohne eigenen Boden, ein Leichtfuß, der in Schenken heimisch war, niemals hoffen durfte, die Nichte des hochgeborenen, mächtigen Landgrafen zur Ehe zu gewinnen.
Auch zu dieser Zeit hatte der Landgraf zum Wettkampf in der Kunst des Gesanges aufrufen lassen, und aus allen Landen hatten sich die Sänger eingefunden, um den Preis zu erringen. Da waren als Gäste hochberühmte Sänger wie Herr Walther von der Vogelweide und der wackere Wolfram, Reimar Zweter und Heinrich von Ofterdingen.
Doch als die Gäste dann zum festlichen Mahl gerufen wurden, wartete man im Speisesaal vergeblich auf den Sänger. Als der Burgherr ihn holen ließ, fanden die Diener die Kammer leer. Ohne Abschiedswort an den gastfreien Hausherrn war Tannhäuser davon - auch ohne Grußwort an die jungfräuliche Elisabeth, die ihm alle Herzensneigung zugewandt hatte.
Liebeskrank und das Herz voller Unruhe, zog er durch die unendliche Einsamkeit der Wälder Thüringens.
Da hielt plötzlich ein Fremder vor ihm, ein Fahrender schien er zu sein wie er, denn auch er trug die Spielmannsfiedel auf dem Rücken.
"Holla, Gesell!" rief der Fremde ihn an.
Wie verschieden war beider Aussehen! Tannhäuser mit lichtblondem Haar und dem Kleid in hellen Farben, der andere trug einen wallenden schwarzen Umhang, und schwarz waren auch Haar und Bart; die dunklen Augen hatten schwarzen, stechenden Glanz.
"Wohin des Wegs?" rief der Fremde. "Wenn Ihr auf die Wartburg zum Sängerfest wollt, so kann Meister Klingsor Euch wohl den Weg weisen."
Der Sänger blickte den andern ohne Freundlichkeit an. "Ich habe kein Ziel", versetzte er düster. "Der Tannhäuser heiße ich, und vielleicht ist es mir wie einst meinen Ahnen beschieden, im Tann zu hausen . . ."
"Wenn es Euch recht ist", sprach der Schwarze, "so laßt uns hier zusammen rasten. Auch ich habe kein Ziel."
Sie lagerten auf dem Waldboden, und Klingsor hörte von den Liebesqualen, die den Ritter Habenichts bedrückten. "Wenn ich im Burggarten mit ihr lustwandelte und ihr meine Lieder sang. . ."
Da riß ihn die Stimme des Schwarzen aus seinem Träumen: "Die ist nichts für Euch, Tannhäuser. Euer Herz verlangt nach feinerer Kost und derberer Sinnenlust. Die schöne Elisabeth, sagt man, ist schon zu ihren Lebzeiten eine Heilige."
Das Gesicht des Sängers verfinsterte sich, und unwillig antwortete er: "Ihr irrt, Klingsor, wenn Ihr glaubt, daß ich von nichts anderm zu singen weiß als von niederer Minne. Auch Elisabeth habe ich schon mit manchem Lied aus meiner Kreuzfahrerzeit erfreut. Wie traurig ist mir oft zumut, wenn ich heitere und übermütige Weisen zur Leier singen muß."
Da lachte Meister Klingsor so laut und höhnisch, daß Tannhäuser zusammenschrak.
Seite an Seite ritten sie dann weiter. Tannhäuser grübelte düster vor sich hin. Plötzlich hielt er an und packte den Begleiter am Arme. "Horch!" sagte er tief betroffen. Über sein Gesicht, das von dem herben Leid gezeichnet gewesen war, glitt es wie ein Schein überirdischer Seligkeit. "Horch!" sagte er wieder. ,"Was sind das für wundersame Töne - was ist das für ein himmlisches Klingen und Singen?"
Der seltsame Begleiter lächelte wissend: "Der Bergwald hier vor uns ist von ganz besonderer Art. Er ist der Wohnsitz der göttlichen Venus, der Liebesgöttin, die dem Menschen alle Wonnen dieser Erde schenkt. Es ist der Hörselberg!"
Unwillig wandte Tannhäuser sich ab. Wer sollte ihm von der Liebe reden, da er doch seiner Minne zu entfliehen suchte und ihn nach nichts als nach Trost und Vergessen verlangte?
Da sah er, wie der Hörselberg sich öffnete. Aus dem Berginnern brach jäher Glanz wie Feuerschein. Im Innern der Grotte erblickte Tannhäuser nun liebliche Mädchengestalten von überirdischer Schönheit, die riefen und lockten ihn mit bezaubernden Tönen.
"Ein Wunder!" stammelte er geblendet; ihm war, als schaute er mitten hinein ins Paradies. Klingsors Worte klangen verlockend: "Vertraut Euch der Frau Venus an, Gesell, so schwindet aller Herzenskummer, himmlisches Vergessen winkt in neuer, paradiesischer Liebesseligkeit!"
Tannhäuser blickte ihn in tiefer Betroffenheit an. Sollte ihm hier die Erlösung aus seiner Herzensqual winken?
Unschlüssig starrte er zum Berg hinüber. Da gewahrte er voller Überraschung einen Mann, der ihm auf dem Waldweg entgegengeschritten kam. Der Greis mit dem wallenden weißen Bart war uralt wie die Baumriesen ringsum, doch von aufrechter Haltung, als wäre er ein blühender Jüngling. Sein Blick strahlte väterliche Milde aus. Ein Pilgersmann schien er zu sein, denn er trug Pilgerstab und Pilgertasche.
"Gott zum Gruß, Ritter Tannhäuser!" redete der Alte den Sänger freundlich an. Unwirsch erwiderte der Ritter den Gruß, denn sein Blick hing wie gebannt an dem lockenden Bild in der Grotte.
"Ritter Tannhäuser" sagte der eisgraue Alte und legte ihm die Hand auf den Arm, als wolle er ihn zurückhalten. "Folget nicht der lockenden Verführung!" Warnend hob er den Finger: "Verderben droht allen, die den Venusberg betreten!"
"Wer seid Ihr", fragte Tannhäuser erstaunt, "daß Ihr mir solche Mahnung aussprecht? Etwa ein Waldgeist?"
Der Alte lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf. "Den getreuen Eckart heißt man mich. Meine Lebensaufgabe ist es, irrende Menschenkinder vor den Gefahren des Hörselbergs zu bewahren. Höre meine Warnung, Tannhäuser: Betritt nicht den Berg hier vor dir, denn dort herrscht die höllische Venus! Denk an den Frieden deiner Seele und reite ungesäumt von hinnen! Wer in diesen verlockenden Berg eintritt und seine Freuden genießt, darf nimmermehr zurückkehren! Er wird die ewige Seligkeit verlieren!"
Betroffen wandte sich Tannhäuser nach Klingsor, seinem geheimnisvollen Begleiter, um. Ob dieser ihm die Warnungen des Alten deuten konnte? Aber der schwarze Spielmann, dessen Lachen so gellend geklungen hatte, war verschwunden.
Tannhäuser, der Leichtfuß, war nicht bereit, seinen Seelenfrieden zu opfern. "Dank für deinen Rat, guter Alter!" rief er und wandte sich zum Gehen.
Zufrieden blickte der getreue Eckart ihm nach.
Doch das Klingen und Singen wurde lauter. Immer lockender, berückender wurden die Töne, die aus dem Zauberberge erklangen. Ob er wollte oder nicht - Tannhäuser hielt inne und blickte in seligem Verlangen zur Höhe hinauf.
"Denk an dein Seelenheil!" rief Eckart wieder warnend, doch zu stark waren die betörenden Klänge, die den Lauschenden umschmeichelten und in liebliche Träume einwiegten.
Jetzt wurde deutlich eine Stimme vernehmbar: "So komm doch in mein paradiesisches Reich!" Vor Tannhäusers Blicken hatte sich der Berg weit geöffnet, und dort, dort ruhte auf duftigem Lager, das ganz von Rosen überquoll, Venus selber, die Liebesgöttin. Jetzt hob sie die Hand und winkte ihm zu kommen.
Da wurde der arme Sänger von dem lockenden Zauberbild übermannt, daß er Eckarts mahnenden Warnruf nicht mehr hörte. Vergessen war auch die Minne zur schönen Elisabeth. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es ihn in das Reich der Göttin; sie empfing ihn mit weit geöffneten Armen.
In ihrer Sehnsucht nach dem geliebten Sänger blickte Elisabeth über das weite Thüringer Land. Niemand wußte ihr von Tannhäusers Verbleib zu sagen. Doch ihr gütiger Oheim, der Landgraf, hatte längst ihre stille Seelenqual erkannt und sann auf einen Weg, ihr zu helfen: Er wollte die berühmtesten Sänger aus deutschen Landen zum Wettstreit aufrufen. Sicherlich würde solcher Ruf den so lange Vermißten erreichen, und sicherlich würde auch er auf der Wartburg erscheinen.
Ein Jahr lang hatte Tannhäuser die Freuden in Venus' Reich genossen, doch Frieden hatte er nicht gefunden. Nur Überdruß und Ekel erfüllten seine Seele. Und sein Herz entbrannte in tiefer Reue über seine schwere Schuld.
Da hielt es ihn nicht mehr in dem Zauberberge, und er bat die Göttin um Urlaub. Frau Venus wollte den Liebhaber nicht freigeben, doch schließlich ließ sie ihn ziehen. "Ich stelle dir die Bedingung", sagte sie hart, "daß du zu mir zurückkehrst, wenn du keine Erlösung von deinen Sünden findest!"
Damit versetzte sie ihn in tiefen Schlaf. Als Tannhäuser daraus erwachte, lag er auf dem Waldesgrund, wo er einst Meister Klingsor und dem getreuen Eckart begegnet war.
Der arme Tannhäuser fühlte im tiefsten Herzen die Schwere seiner Schuld. Als er das Betglöcklein einer nahen Kirche läuten hörte, wanderte er dem Klange nach. In der Waldkapelle, zu der er gelangte, warf er sich vor dem Priester auf die Knie und beichtete ihm all seine Sünden.
Als aber der Priester hörte, daß der Beichtende geradewegs aus dem Hörselberg komme, bekreuzigte er sich voll Entsetzen. "Wenn du auch von Reue zerknirscht bist", sagte der geistliche Vater, "so bin ich doch nicht in der Lage, dich von deiner Sünde loszusprechen."
Gegen Abend gelangte Tannhäuser an ein Kloster. Doch der Abt verbot ihm, die geweihte Stätte zu betreten.
Verzweifelt irrte der Verworfene in der Waldeseinsamkeit umher. Er wußte sich keinen Ausweg - und er wußte auch nichts von dem Sängerkrieg, zu dem Landgraf Hermann aufgerufen hatte; aber nie hätte er, der sich als Ausgestoßener fühlte, es gewagt, sich dort im Kreise der edlen Menschen auf der Wartburg zu zeigen.
Seine unstete Wanderung führte ihn bis in die Nähe der Wartburg. Dort führte das Schicksal eine seltsame Begegnung herbei. Denn mit den ritterlichen Sängern, die dem Aufruf zum Wettstreit auf der Wartburg gefolgt waren, war der Landgraf zu fröhlicher Jagd ausgezogen. Wie staunte er mitsamt seinen Gästen, als sie plötzlich den Sänger erblickten, den sie so sehr in ihrem Kreise vermißten - und wie betroffen und bestürzt zeigte sich Tannhäuser bei dieser Begegnung, die er so sehr hatte vermeiden wollen!
"Willkommen, edler Sänger!" grüßte ihn Landgraf Hermann, und froh grüßten ihn seine Begleiter.
Sie alle spürten nicht, was den Wiedergefundenen so schuldhaft bedrückte, und führten ihn im Triumph zur Wartburg.
"Allzulange habt Ihr gesäumt!" rief der Landgraf dann. "Nun mag der Sängerkrieg beginnen!" In festlicher Erwartung scharten sich im Saale die Gäste um den Prunksessel, in dem er, die schöne Elisabeth an seiner Seite, thronte.
Als erster wurde Wolfram von Eschenbach, der derbfrohe Landedelmann, aufgerufen. Andachtsvolle Stille lag über dem Saal, als er seine Minnelieder von Reinheit und edler Keuschheit, aus der alles Gute in dieser Welt erwächst, vortrug. Auch Herr Walther von der Vogelweide fand warmen Beifall.
"Es singt der Herr von Tannhäuser!" klang dann die Stimme des Herolds durch den Saal. Während er dem Aufruf folgte, klangen ihm die Verdammungsworte des getreuen Eckarts in den Ohren: "Nie wirst du dein Heil finden!"
Doch als er dann über den festlich gestimmten Zuhörerkreis hinwegblickte, packte ihn unwiderstehlich die Erinnerung an jene betörenden Erlebnisse im Zauberberg der Venus. Und so schlug der Tannhäuser in die Saiten und sang von einer Liebe, die nur nach Wonnen und nach Genuß verlangt, nach triebhaftem Genuß. "Armselig nenn ich euch und eure tugendhaften Worte", so rief er in vermessener Verwegenheit den Minnesängern zu, "denn ihr habt die Liebe nie genossen! Wer sie kennenlernen will, der ziehe in den Berg der Venus!"
Wie Eiseskälte legte es sich auf die Festversammlung. Dann ging wilder Taumel durch den Saal. Edle Damen zeigten, wie tief sie in ihrer Frauenehre verletzt waren, ritterliche Herren griffen erregt zum Schwerte, um die Ungebührlichkeit zu bestrafen.
Nur mit Mühe konnte der Landgraf die zornige Aufwallung beschwichtigen. Elisabeth selber bat für Tannhäusers Leben.
In tiefer Scham blickte er auf die hochgesinnte Jungfrau, die mit solchem Edelmut für den Verwegenen eintrat. Sie riet ihm, Sühne zu suchen am Stuhle Petri in Rom.
Als Bußpilger zog er gen Süden, schleppte sich barfüßig über die tief verschneiten Pässe der Alpen, er mied die Wohnungen der Menschen und nächtigte in Felsspalten und in hohlen Bäumen.
Als ein Bild unsagbaren menschlichen Jammers trat Tannhäuser vor den Heiligen Vater. Es war im päpstlichen Garten, wo der Papst lustwandelte.
"Habt Erbarmen mit mir reuigem und verworfenem Sünder!" rief der Verfemte bebend. Ganz gebrochen berichtete er von der Verfehlung, die er im Venusberg auf sich geladen hatte.
"Wer gefehlt hat wie du, bleibt in ewiger Verdammung verworfen", sagte der Heilige Vater hart und unbeugsam. "Sieh diesen Krummstab, den ich führe: Eher grünt dieses tote Holz, als daß du deiner Sünden ledig wirst."
Mit diesen Worten stieß er seinen Stab in die Erde seines Gartens. Aller Hoffnung beraubt, taumelte Tannhäuser von dannen.
Am dritten Tage nach der Begegnung mit dem unseligen Tannhäuser wandelte der Heilige Vater durch den Garten. Da fiel sein Auge auf den im Boden steckenden Krummstab. Der tote Stecken war mit Trieben und keimenden Blättern bedeckt.
Ein Gotteswunder war hier geschehen. Der Höchste hatte in göttlicher Offenbarung dargetan, daß er dem reuigen Sünder seine Vergebung schenkte.
Vergeblich suchten die Diener des Papstes nach dem fremden Pilger.
Der unselige Tannhäuser war in seiner Verzweiflung der Heimat zugewankt. Wieder schleppte er sich über die Schneepässe der Alpen. In fieberndem Verlangen strebte er zum Hörselberge, wo ihn einst Venus in Liebe empfangen hatte.
Alles Suchen nach ihm war vergebens. Wohl hatten Bauern auf dem Felde am Fuße der Wartburg einen Pilger in härenem Gewande gesehen, der eilenden Schrittes vorüberzog. Doch von dem unglücklichen Tannhäuser erhielt man nie mehr Kunde.
Lohengrin
Über dem Lande Brabant, wo der Scheldestrom sich mit dem Rhein ins weite Nordmeer ergießt, lastete tiefe Trauer, denn Herzog Gottfried, der weise und gerechte Herrscher, lag im Sterben. Viele Jahre hatte er das Herzogtum am Niederrhein regiert. Der Kaiser wußte, daß er nicht allen seiner Vasallen so unbeschränkt vertrauen konnte wie ihm, wenn er mit wehendem Banner gegen die Feinde des Reiches zog. Herzog Gottfried wiederum hatte waffenstarke Vasallen in seinem Dienst, die seine milde und weise Regierung stützten; unter ihnen galt sein besonderes Vertrauen dem Grafen Friedrich von Telramund.
Nun forderte das Alter seinen Tribut, die Strapazen der langen Kriegszüge hatten dem Helden die Lebenskraft erschöpft. Herzog Gottfried wußte um seinen nahen Tod.
In seinem Schmerz, aus dem Leben scheiden zu müssen, blickte er zugleich mit banger Zukunftssorge auf seine Tochter Elsa, die an seinem letzten Lager kniete.
"Elsa, liebe Tochter", stieß er mit schwindender Kraft hervor, "der Himmel hat mir einen männlichen Erben versagt, denn deine Mutter verschied bei deiner Geburt. Aber ich weiß, daß du stark und tapfer bist, und ich weiß dich im Schutz treuer Vasallen. Ruf darum Graf Telramund zu mir!"
Der Todgeweihte erhob sich mit letzter Kraft von seinem Lager und bestand darauf, daß man ihm zur Besprechung mit dem Lehnsmann die herzogliche Rüstung anlegte. So saß er an der Seite seiner jugendschönen Tochter auf dem Throne, als Graf Telramund ergeben sein Knie vor ihm beugte.
"Tretet näher, Graf Friedrich" sagte der Herzog, und hoffnungsvoll ruhte sein Auge auf dem starken Vasallen. "In den heftigsten Schlachten habt Ihr mir treu gedient", fuhr er fort, "und in der Lenkung meines brabantischen Kronlandes konnte ich mich auf keinen Ratgeber verlassen wie auf Euch. Jetzt schlägt für mich die Stunde des Abschieds . . ."
Telramund hob den Arm. "So dürft Ihr nicht sprechen, gnädiger Herr Herzog. Noch viele Jahre . . ."
Herzog Gottfried war in diesen Augenblicken wie in der Vollkraft seiner Mannesjahre. "Laßt solche Einwände, Graf Friedrich. Wir Menschen kennen das unabwendbare Gesetz des Todes, wir wissen von der Spanne Zeit, die Gott uns gesetzt hat. Der Tod wäre für mich ohne Schrecken, wenn mich nicht die Sorge um meine Elsa erfüllte, die ich ohne väterlichen Schutz zurücklasse . . ."
"Erlaubt mir wiederum Einwand und Widerspruch, Herr Herzog. Eure Tochter ist nicht ohne Schutz. Wenn Ihr mit Recht meine Hilfe in Rat und Tat gelobt habt, so seht darin meine Treue zu Euch. Und brauche ich Euch zu versichern, daß diese Treue unwandelbar von Bestand ist, auch wenn . . ."
Herzog Gottfried blickte ihn an: "Fahret fort", befahl er.
". . . unwandelbar von Bestand ist, auch wenn das Schicksal Euch von dieser Erde abberufen würde! Meine Treue gilt auch dem, der nach Euch Euren Thron besteigen wird!"
Aufatmend blickte der alte Herzog seinen Vasallen an. "Solche Worte sind Labsal für einen Sterbenden", sagte er leise; "ich habe Euer Wort, Telramund. Laßt mich jetzt allein."
Mit tiefer Verneigung schied der Graf von seinem Herrn. Als die Tür sich hinter ihm schloß, sank der Herzog in sich zusammen. Behutsam führten die Diener ihn auf sein Lager. Die Augen voll Tränen, beugte Elsa sich über den Sterbenden. "Du darfst nicht von mir gehen, geliebter Vater", rief sie aufschluchzend und bedeckte des Vaters Wangen mit Tränen.
Mit inniger Rührung blickte er auf Elsa. "Weine nicht, mein liebes Kind", sagte er milde; "gegen den Tod sind wir Menschen ohne Macht, und für mich hat er seine Schrecken verloren, seit mich die drückende Sorge verlassen hat. Diese Sorge galt dir, Tochter . . ."
Sie wollte ihn unterbrechen, doch der Vater winkte ab. Zärtlich glitten seine welken Hände ihr über das blonde Haar; mit brechender Stimme fuhr er fort: "Graf Telramund wird seinen Schwur halten und dir als Herzogin ein treuer Beschützer und Berater sein, so wie er bisher die Stütze meines Thrones war. Ich weiß, er ist aufbrausend und von anmaßendem Stolz, aber nie wird er in seiner Treue zu dir wankend werden."
Herzog Gottfried sprach mit letzter Lebenskraft. "Gerätst du je in ernstliche Bedrängnis, so wende dich vertrauensvoll an Kaiser Heinrich. Er steht als weiser und starker Herrscher über uns allen, er weiß meine Dienste und Taten zu würdigen, und er wird als gerechter Richter sein Urteil sprechen . ."
Als Elsa den gebeugten Kopf hob, blickte sie in zwei gebrochene Augen. Herzog Gottfried hatte ausgelitten.
Mit hohen Ehren trugen die Getreuen den geliebten Herrn zu Grabe. Eilboten trugen die Nachricht an den Kaiserhof, und ebenso schnell kam die Antwort des Kaisers, in der er Gottfrieds Tochter Elsa als Herzogin von Brabant bestätigte.
Im Thronsaal des Schlosses hatte die neue Herrin die Vasallen ihres Vaters um sich versammelt, um sie in neuen Lehnseid zu nehmen. Mancher von ihnen mochte wohl wünschen, an ihrer Seite als ihr Gemahl zu stehen.
"Beugt Euer Knie und schwöret mir Vasallentreue, so wie Ihr meinem Vater gedient habt", gebot Elsa den Erschienenen.
Gehorsam knieten die Gefolgsleute vor den Stufen des Herzogsthrones und hoben die Hand zum Schwur: "Heil Herzogin Elsa, der Herrin von Brabant!"
Doch mit finsterem, undurchdringlichem Blick, gestützt auf sein mächtiges Schwert, stand Graf Friedrich von Telramund aufrecht; er sprach nicht das Treuegelöbnis, das Elsa als Herzogin rechtmäßig verlangte, und er zeigte sich nicht bereit, ihr zu huldigen.
Die junge Herzogin zwang sich zur Festigkeit.
"Ihr wißt, was Euer Treuegelöbnis von Euch verlangt, Graf Telramund", rief sie.
"Mir ist nicht bekannt, wovon Ihr sprecht, Frau Elsa. Doch Ihr wißt, was Euer Vater als seinen letzten Wunsch ausgesprochen hat: daß ich als Euer Gemahl an Eure Seite trete und als Herzog von Brabant den Thron Eures Vaters besteige!"
Elsa erbleichte. "Wie könnt Ihr solche anmaßenden Worte, wie könnt Ihr solche abscheuliche Lüge wagen?"
Ungerührt blickte der Telramund sie an: "Wenn Ihr wahrhaftig seid, Frau Elsa, so müßt Ihr eingestehen, wer hier lügnerische Worte spricht. . ."
Elsa stand fassungslos. "Mein Vater hat Euch stets für einen ehrlichen Vasallen gehalten, Graf Friedrich", sagte sie leise; "Schande über den Lehnsmann, der die Schwäche seiner Herrin auszunutzen sucht." Damit wandte sie sich zum Gehen.
"Ich werde mein Recht zu erzwingen wissen", rief der Telramund ihr nach.
Allein in ihrer Kemenate, suchte Elsa Trost in der Erinnerung an ihren Vater. Wenn du in Bedrängnis bist, so wende dich an den Kaiser Heinrich, hatte der Vater gesagt. So schnell also würde sie des Vaters Rat befolgen müssen!
Selbstsicher zeigte sich die Herzogstochter im Kreise ihrer Vasallen, und nur wenige wußten von den schweren Qualen des Zweifels, die ihr Herz erfüllten. In unendlich vielen Gefechten hatte Graf Telramund sich als tapferer Kämpe unter dem Banner des Herzogs Gottfried bewährt, und Kaiser Heinrich wußte die Leistung dieses starken Recken wohl zu schätzen. Sollte er nicht auch der eidlichen Versicherung des berühmten Vasallen Glauben schenken - und damit Elsas Forderung ohne Wohlwollen gegenüberstehen? Und zum andern: Welcher Ritter würde es wagen, als Widersacher gegen den ausgezeichneten Telramund anzutreten?
Bittere Sorgen, drückende Zweifel erfüllten Elsas Herz. Welch schweres Erbe hatte der Vater ihr hinterlassen! Wie dringlich vermißte sie jetzt seine hilfreiche Fürsorge! Mit gefalteten Händen saß sie im Garten der Burg, der den Blick in die Ferne freigab, und sandte ihre Gebete zum Himmel. Würde Gott sie in ihrer Not im Stiche lassen?
Ihr Blick blieb an einem Pünktchen im Himmelsblau haften, das größer und größer wurde, es wuchs im Näherkommen - und nun sauste vom hohen Äther ein Falke auf sie zu, ein Jagdfalke, der ein feines Silberglöckchen um den Hals trug. Zutraulich ließ das Tier sich auf Elsas Schoß nieder.
Sie fuhr ihm mit der Hand zärtlich über das weiche Gefieder: "Willst du mir Trost zusprechen in meiner Bedrängnis und in meinem Herzenszweifel, oder kommst du gar als Bote eines ritterlichen Mannes, der sich meiner Not annehmen und für meine Ehre eintreten will?"
In tiefem Sinnen ging ihr Blick in die Zukunft. Sie sah vor sich den Kaiser, wie er unter der tausendjährigen Linde zu Gericht saß, sie sah seinen Blick voll Wohlwollen auf den grimmen Telramund gerichtet, der mit abweisender Miene auf seinem Anspruch bestand, sie hörte den Kaiser das Gottesgericht ausrufen, sie sah einen Ritter, der in silberglänzender Rüstung herantrat und das Knie in Ehrfurcht vor dem Kaiser und dann vor ihr beugte. "Ich bin bereit, für Elsa von Brabant in die Schranken zu treten", sagte er fest. . .
Die Herzogstochter, die einsam auf der Steinbank im Burggarten saß, fuhr auf. Es war nur ein Traum gewesen, den die Hoffnung ihr eingegeben hatte. Wo sollte sich wohl ein Ritter finden, der bereit und stark genug wäre, dem grimmigen Telramund den Anspruch streitig zu machen?
Der Termin des kaiserlichen Hoftages war gekommen. Von der Rheinstadt Köln her war Kaiser Heinrich, den man den Vogler nennt, den Strom hinaufgefahren, und nun wehten am Ufer des Scheldestromes die bunten Kaiserwimpel und Fahnen, und vor dem Seidenzelt inmitten des riesigen Heerlagers flatterte das Kaiserbanner in dem Winde, der von der Nordsee herüberwehte. Von überall waren die Edlen herbeigeeilt, das festliche Ereignis mitzuerleben.
Der Herold trat vor die Schranken und ließ die Posaunen ertönen. "Im Namen des Kaisers, unseres Kaisers Heinrich", rief er schallend, "gebiete ich Stille für den Gerichtstag. Wer eine Forderung vorzubringen hat, trete vor!"
Er sah fragend auf Elsa von Brabant, die an des Kaisers Seite saß, und alle folgten seinem Blick und sahen mit Bewunderung auf die jugendschöne blonde Herzogstochter, deren Wangen sich in der erregenden Spannung lieblich gerötet hatten. Doch ehe sie das Wort zu ihrer Anklage ergreifen konnte, erhob sich Graf Telramund und trat mit seiner trügerischen Forderung vor des Herrschers Thron.
"Ich heische Recht", klang seine Stimme über die Menge hin, "und erhebe Klage gegen Elsa, die sich Herzogin von Brabant nennt; ihr Vater, der Herzog Gottfried, hat sie mir vor seinem Tode als eheliche Gemahlin zugesagt."
"Und die Herzogin?" wandte Kaiser Heinrich sich an Elsa. Doch bevor sie antworten konnte, hatte der Graf wieder das Wort an sich gerissen. "Widerrechtlich verweigert sie mir die Ehe", gab er finster zurück. "Sie will in mir nicht mehr als den dienstpflichtigen Vasallen sehen!"
"An dem Worte, das ein hundertfach bewährter Ritter beschworen hat, kann der Kaiser nicht Zweifel hegen", erklärte Heinrich hoheitsvoll. "Doch die Gerechtigkeit gebietet, daß ich auch die Beschuldigte anhöre."
Elsa nahm alle Kraft zusammen, ihre Sache mit Überzeugungskraft zu vertreten. "Ich begehre nichts als mein Recht" sagte sie. "Was ich ausspreche, ist die Wahrheit."
Betroffen blickte der Kaiser auf die reine Schönheit, die aus ihren Zügen sprach. Er konnte nicht glauben, daß Graf Telramund, bewährt in so viel Ritterkämpfen, falsches Zeugnis ablege, aber ebenso war er überzeugt, daß eine Herzogstochter wie die schöne Elsa die lautere Wahrheit aussage.
Wie sollte er als Kaiserliche Majestät hier gerechtes Urteil finden? Telramund scheute sich nicht, den Himmel zum Zeugen anzurufen, als er, der Herzogstochter gegenübergestellt, seine Forderung wiederholte.
Auch Elsa blieb bei ihrer Aussage: "Niemals hat mein seliger Vater, der nun in Gottes Frieden ruht, dem Grafen solche Zusage gegeben!"
"Hier versagt Menschenweisheit. Keiner wird sich bei solcher gleichen Aussage anmaßen dürfen, Richteramt zu üben. Jetzt muß ein Gottesurteil entscheiden", erklärte der Kaiser.
Damit wandte er sich an den Grafen: "Seid Ihr einverstanden, Graf Telramund?"
Die Eisenfaust auf den Schwertknauf gestützt, reckte der Gefragte sich siegessicher: "Ich bin einverstanden!"
Da wandte sich der Kaiser an die Herzogin: ,"Und Ihr, Elsa von Brabant, ich frage Euch, seid auch Ihr damit einverstanden, daß ein Gottesgericht die Entscheidung fällt?"
Elsas Stimme hatte nicht die selbstbewußte Kraft des herausfordernden Telramund, aber sie zwang sich zur Festigkeit: "Ich stimme dem Gottesurteil zu!"
Der Herold trat in die Schranken und ließ wieder die Posaunen ertönen:
"Die Entscheidung in dem Rechtsstreit des Grafen Telramund gegen Elsa von Brabant obliegt einem Gottesgericht!" rief er. Und dann trat er wieder vor die Herzogin: "So nennt mir, edle Fraue, den Streiter, der Eure Sache vertritt."
Tiefes Rot zog jäh über Elsas Wangen. Wen sollte sie als Verfechter ihres Anspruchs namhaft machen? Wer würde es wagen, gegen Telramund, den kampfbewährten Recken, in die Schranken zu treten?
"So stellen wir öffentlich die Anfrage", gebot der Kaiser. Da nahm der Herold seine Trompete, setzte sie an den Mund und blies sein Ankündigungszeichen in alle vier Himmelsrichtungen. "In des Kaisers Namen gebiete ich wiederum Schweigen!" rief er. Und mit weithin schallender Stimme berichtete er den versammelten Edlen von dem Rechtsstreit zwischen Elsa von Brabant, der Herzogstochter, und Friedrich Graf von Telramund. "Ist jemand bereit, die Sache der Herzogin zu verfechten, der trete vor den Kaiser!"
Gespannt blickte der Herrscher über die Menge der erschienenen Ritter hin, mit gesenktem Kopf saß Elsa und wagte nicht, die Augen aufzuheben. Wie sehr entbehrte sie in diesem Augenblick die gütige Zusprache des Vaters! Im Kreise der Ritter blieb es still. Niemand regte sich.
Wieder erklang des Herolds Trompetensignal. "Ich wiederhole die Anfrage", rief er, für jeden vernehmbar. Doch wieder war sein Rufen vergeblich.
Zum dritten Male setzte der Mann seine Trompete an und blies in alle vier Winde, nach Osten und Westen, nach Norden und Süden. "Zum dritten Male frage ich an, wer bereit ist zum freiwilligen Kampfe für Elsa von Brabant. . ."
Sollte sich das Gottesgericht so schmählich gegen die Herzogstochter und rechtmäßige Herzogin entscheiden?
Da - plötzlich ging eine Bewegung durch die Reihen der Zuschauer, ein Raunen erst und dann erregtes Rufen: "Da, da!" Alle Blicke wandten sich zum Strome hin. Und siehe: Auf der Schelde nahte ein Kahn, in dem stand aufrecht ein Ritter in schimmernder Waffenrüstung. Und - o Wunder: Nicht Segel oder Ruder trieben das Fahrzeug - es wurde an silbernen Kettchen gezogen von einem silberglänzenden Schwan.
"Ein Wunder - ein Wunder!" ging es durch die versammelte Menge, die sich ungläubig und staunend um die unerhörte Erscheinung drängte. Was wollte dieser herrliche Ritter auf dem Hoftag des Kaisers?
Leichtfüßig sprang der Fremde ans Ufer. "Nun sei bedankt, du lieber Schwan", sagte er mit ritterlicher Gebärde. "Kehr jetzt heim in deine himmlischen Gefilde." Gehorsam wandte sich das Tier zur Umkehr und schwamm den Strom hinab, wo er ins weite Meer einmündet.
Der Ankömmling schritt in selbstbewußter Haltung durch den Kreis der Ritter auf den Thronsessel zu, beugte vor dem Kaiser das Knie und verneigte sich dann ehrfurchtsvoll vor Elsa, der Herzogin von Brabant. "Verstattet mir, edle Frau, Eure Sache zu verteidigen. Ich bin gekommen, Euch zu Eurem Recht zu verhelfen."
Mit tiefem Erröten nickte Elsa dem Fremden ihre Zustimmung zu. "Ich danke Euch, Herr Ritter", sagte sie kaum vernehmbar, "und ich vertraue mich Euch an in dem Gottesgericht, das über mein Schicksal entscheiden soll."
Elsa atmete tief auf. So hatte ihr Träumen sie also nicht getäuscht!
Auch der Kaiser gab sein Einverständnis. "So nennt nach Ritterbrauch Euren Namen", sagte er zu dem Recken, der gegen den gefürchteten Grafen für Elsas Frauenehre in die Schranken zu treten bereit war.
"Ich bin Lohengrin", gab der stattliche Mann zurück und verneigte sich mit ritterlichem Anstand. "Vernehmet aber, ihr schönen Damen und ihr hochgeborenen Herren ringsum, was ich euch sagen muß: Über meine Herkunft darf ich nichts kundtun; ich habe die Gebote meines Ordens beschworen, und diese binden mich zu strenger Verschwiegenheit."
Des Kaisers Blick ruhte wohlwollend auf dem Fremden, der den riesenstarken Telramund im Kampf bestehen wollte. "Niemand wird an Eurem Rittertum zweifeln", sagte er ruhig. Dann wandte er sich an den Herold. "Lasset sogleich die Schranken vermessen! Der Kampf soll beginnen!"
Die Menge der Ritter und Damen drängte sich eilfertig zu dem erregenden Waffengang, aus dem nun das Gottesurteil sprechen sollte. Nur mit Mühe wußte Elsa die Fassung zu wahren, als die beiden Kämpfer einander gegenübertraten. Düsteren Haß und Verachtung in seinem Blick, so stand der Brabanter Ritter, in strahlender Jugendkraft Lohengrin, der geheimnisvolle Fremde; als Helmzier trug er einen silberglänzenden Schwan.
Auf des Herolds Zeichen drangen die beiden aufeinander ein. Ungeheuer war die Kraft, mit der Telramund sein Schwert niedersausen ließ, und er war es nicht gewohnt, daß ein Gegner seinen Streichen widerstand. Doch der Schwanenritter erwies sich als Meister behender, gewandter Schwertkunst. Der ungefüge Schlag des Brabanters glitt an seiner Klinge kraftlos ab, und im selben Augenblick traf Lohengrins Waffe mit voller Kraft den Panzer des Gegners, daß der riesenstarke Telramund wankte. Ein Raunen der Bewunderung ging durch die erregte Menge. Bisher hatte noch niemand Graf Telramund im Kampfe straucheln sehen. Des Kaisers Blick glitt zu Elsa hinüber, die neben ihm mit blassem Gesicht den Kampf verfolgte. Wie herrlich vertrat der fremde Ritter die Sache ihrer Ehre!
Der Brabanter Graf setzte zu neuem Schlag an, sein Gegner erwehrte sich leicht und schlug zurück. Hieb und Gegenhieb wechselten in hastiger Folge - da traf Lohengrin den Widersacher so furchtbar am Halsschutz, daß Graf Telramund in die Knie sank. Für den Schwanenritter war es ein leichtes, nun den Todesstreich folgen zu lassen.
Doch da zeigte er, daß er nicht nur ein Meister im ritterlichen Schwertkampf, sondern auch ein auserwählter Edeling von ritterlicher Gesinnung war. Ihn verlangte nicht nach dem Tode des Gegners. Er wollte nur dessen Widerstand brechen, und so begnügte er sich mit einem Hieb seiner flachen Klinge, der Telramund in den Sand streckte. Blitzschnell entriß Lohengrin ihm die Waffe, setzte dem Wehrlosen das Knie auf den Brustpanzer und forderte ihn auf, sich zu ergeben.
Zähneknirschend gehorchte Graf Telramund dem Befehl des Siegers - und sprach damit zugleich das Urteil des anberaumten Gottesgerichts: Es hatte gegen den Grafen Friedrich von Telramund entschieden, es hatte sein Wort als Lüge entlarvt!
"Heil dem Ritter Lohengrin!" erscholl es ringsum. "Heil Elsa, unserer Herzogin!" erhoben sich die Stimmen zu aufbrandendem Chor.
Der Schwanenritter schritt durch die jubelnde Menge, verneigte sich nach Ritterart vor dem Kaiser und trat vor Elsa hin. "Herzogin", sagte er schlicht, "der Zweikampf, der um Eure Ehre ging, ist beendet. Graf Telramund wird Euch kein Schmähwort mehr sagen. Euer Erbe ist frei."
Über die Wangen der schönen Elsa glitt flammendes Rot. "Ihr habt mir die Ehre zurückgegeben, Ritter Lohengrin", sagte sie, "wie soll ich Euch meinen Dank bezeigen?"
Als er antworten wollte, unterbrachen ihn die Zurufe der Menge. Sie galten dem besiegten Telramund; mit Schimpfworten überhäuft, mußte er sich davonstehlen.
"Einen Beweis Eures Dankes, Frau Herzogin?" nahm Lohengrin die Worte Elsas auf. "So gewährt mir die Bitte, die mich hergeführt hat, weil ich von Eurer liebenswerten Schönheit reden hörte: Erlaubet mir, daß ich um Eure Hand bitte, Herzogin Elsa, daß ich Euch bitte, mit mir in ritterlicher Minne den Ehebund zu schließen."
Niemandem der Umstehenden war zweifelhaft, wie Elsas Antwort lauten würde. Kaiser Heinrich selber weihte den Liebesbund, als er die Hände der schönen Herzogin und des edlen Ritters zusammenfügte. Mit unendlichem Jubel umringten die Ritter und Damen das schöne Paar.
In Anwesenheit des Kaisers wurde die Hochzeit gefeiert. Bevor Lohengrin seine schöne Frau heimführte, erinnerte er sie an das Gelöbnis, an das er gebunden sei durch das Gebot seines Ritterordens. "Niemals darfst du mich nach meiner Herkunft fragen, Elsa", sagte er mahnend, "niemals. Brichst du dieses Gelöbnis, so bin ich dir auf immer verloren!"
Auf des Kaisers Geheiß war Telramund in die Acht des Reiches getan und des Landes verwiesen; sein gräfliches Wappenschild wurde zerbrochen, sein Adelsname getilgt.
In echtem Eheglück aber lebte das schöne Paar, für jeden ein Vorbild ritterlicher Minne, im Herzogspalast, der "Schwanenburg" von Brabant. Die Landschaft am Unterlauf des Rheines blühte auf unter der weisen und gerechten Herrschaft des Herzogspaares, das gemeinsam den Thron innehatte. Kaum einem seiner fürstlichen Lehnsleute vertraute der Kaiser wie Lohengrin, dem starken Schwanenritter, denn sein Schwertarm war der zuverlässigste Schutz jener Landschaft an der Grenze des Reiches. Das Glück der beiden wurde vollständig durch die beiden Kinder, die ihrer Liebe erwuchsen.
Wenn Lohengrin als Gefolgsmann des Kaisers auf Heerfahrt mit auszog, flog der geheimnisvolle Schwan den Kämpfern voraus und führte sie zum glänzenden Sieg.
Einst hatte Kaiser Heinrich, vom Feldzug gegen die Sarazenen heimgekehrt, sein Hoflager am Mittelrhein aufgeschlagen. Glänzende Festtage und ritterliche Waffenspiele feierten den Sieg über die "Ungläubigen", an dem Herzog Lohengrin ganz entscheidenden Anteil hatte. Elsa war mit den Kindern erschienen, um den geliebten Gemahl zu begrüßen.
Beim ritterlichen Turnier war wieder das Lob des Schwanenritters in aller Munde. Niemand konnte der ungestümen Gewalt seines Schwertes und der behenden Kraft seiner Kampfesweise widerstehen. Wie liebliche Musik klang alles Lob, das Lohengrin galt, in Elsas Ohren.
Doch da mischte sich in den jubelnden Beifall der Zuschauer eine Stimme, die sie wie giftiger Schlangenbiß traf: ,"Wie kann man denn einen Ritter mit Lob und Preis erheben, wenn man nicht einmal seine Herkunft weiß? Jeder hochgeborene Mann nennt mit Stolz seines Vaters Namen. Nur wer von dunkler Abstammung ist, verheimlicht sie!"
Elsa blickte sich um und erkannte eine Ritterdame, die einst zum Freundeskreis des Grafen Telramund gehört hatte.
"Und wer etwas zu verheimlichen hat, von dem darf man Böses argwöhnen", fuhr die giftige Stimme fort. "Sollte der geheimnisvolle Lohengrin, der sich zu unserm Herzog gemacht hat, etwa mit dem Teufel verbündet sein?"
Soeben klang Jubel über den Festplatz hin, denn wieder hatte der unüberwindliche Lohengrin seinen Turniergegner in den Sand gesetzt. Doch Elsa konnte sich nicht dagegen wehren, daß ihre Augen von Tränen schimmerten, als der Gemahl ihr in strahlender Freude entgegentrat.
In seiner Siegesstimmung erkannte er nicht den Grund für ihren Kummer, doch die kränkenden Worte hafteten wie ein giftiger Pfeil in Elsas Seele. Sie bohrten tiefer und tiefer und streuten Zweifel über Zweifel, sie raubten ihr die Herzensruhe und verdunkelten allen Sonnenschein, der dem Eheglück der beiden gestrahlt hatte.
Schließlich wußte sich Elsa in ihrem zermürbenden Zweifel keinen Ausweg mehr. "Geliebter Mann", begann sie zaghaft, "müssen Menschen, die sich Liebe gelobt haben, nicht gegenseitiges Vertrauen zeigen?"
Lohengrin wußte sofort, wohin ihre Frage zielte, und blickte sie warnend an: "Diese Frage muß ich an dich richten, Elsa!"
Doch sie wollte seinen warnenden Vorwurf nicht verstehen. "Sind wir es nicht unsern Kindern schuldig, daß sie die Herkunft ihrer Eltern kennen?"
Lohengrin fuhr auf. "Elsa", rief er beschwörend, "du spielst mit unserm Eheglück! Elsa, halt ein!"
Aber ihr Wort war nicht mehr zurückzuhalten. "Wenn du mich ehrlich liebst, so sag mir, Lohengrin, welcher Herkunft du bist. . ."
Totenbleich blickte er auf die Frau, die er so liebte. "Elsa, nun ist es um unser Eheglück geschehen. Das verhängnisvolle Wort ist gesprochen. Sieh dort hinüber!"
Sie blickte in die Richtung zum Strom, wohin sein ausgestreckter Arm zeigte. Ruhig und gemessen näherte sich von dorther der Schwan, den sie kannte, mit dem Boot, das ihr einst den Geliebten zugeführt hatte.
"Der Schwan", stieß sie tonlos hervor und brach zusammen.
"Ja, der Schwan", wiederholte Lohengrin düster; "meines Bleibens ist nicht länger." Liebevoll hob er die Frau empor.
"Bevor ich scheide", sagte Lohengrin mit fester Stimme, "sollst du erfahren, was zu wissen dich drängte: du sollst meine Abkunft kennen."
"So höret", wandte er sich mit fester Stimme an die Ritter und die Menge der edlen Damen, die ihn - auch Kaiser Heinrich war hinzugetreten - umringten, "höret, aus welchem Geschlecht ich stamme. Vernimm es du, geliebte Elsa: Mein Vater ist Parzival, der Hüter des Heiligen Grals und der Hochmeister des Templeisen-Ordens. Diesem Orden gehöre auch ich an. Nach unserer Ordensregel haben wir die Aufgabe, edlen Menschen in ihrer Bedrängnis beizustehen, so wie ich für Elsa eingetreten bin. Wenn jetzt meines Bleibens nicht länger ist, so bitte ich Euch, Herr Kaiser: nehmt Euch meines geliebten Weibes und meiner vaterlosen Kinder an . . ."
"Ihr habt mein sicheres Versprechen", rief Kaiser Heinrich. Vom Ufer her erklang der Ruf des Schwans. "Ich komme" sagte Lohengrin. In inniger Liebe umarmte er die untröstliche Elsa und seine Kinder, grüßte in ritterlicher Art den Kaiser samt den Edlen, die im Kreise standen, und sprang in den Kahn. Das geheimnisvolle Tier steuerte mit seiner Last schnell auf die Mitte des Stromes zu und entführte den herrlichen Ritter. Niemandem war es beschieden, ihn jemals wiederzusehen.
Elsa, die mit der verbotenen Frage ihr strahlendes Eheglück jäh zerstört hatte, wußte, was nun ihre Aufgabe war. Im Sinne des herrlichen Ehegatten führte sie die Regierung des Landes Brabant und erzog ihre Kinder nach dem Vorbild des Vaters. Von diesen entstammen viele adlige Geschlechter, die den Rhein hinauf und hinab mit hohem Ritterruhm gelebt haben.
Gudrun
Vor Zeiten lebte in Irland der König Hagen und seine Gemahlin Hilde; sie hatten eine liebliche Tochter, die den Namen ihrer Mutter trug. Jedermann pries ihre Anmut und ihren Liebreiz, und bald drang der Ruf von Hildes Schönheit über Meer und Land, und viele edle Freier aus königlichem Blut kamen an den Hof, um sie zum Weibe zu gewinnen.
"Ich werde nur dem die Hand meiner Tochter geben", erklärte König Hagen hart, "der mich im Wettkampf besiegt." Viele Bewerber hatte er schon bezwungen und erschlagen.
Damals herrschte im Hegelingenland König Hetel, dessen Reich sich von Jütland bis zu den Niederlanden erstreckte. Sein Wunsch war es, die schönste Fürstentochter als Gemahlin an seiner Seite zu haben, und so entsandte er drei getreue Helden zur Brautwerbung: seinen Waffenmeister Wate, den gewaltigen Recken, den sangeskundigen Horand, seinen Schwestersohn aus Dänemark, und den klugen Frute, dessen Rat dem König schon so manches Mal aus der Bedrängnis geholfen hatte.
"Nicht mit Waffengewalt, nur durch List werden wir zum Ziele kommen", mahnte Frute; "denn König Hagen pflegt die Boten derer, die seine schöne Tochter gewinnen wollen, sehr übel aufzunehmen." Auf seinen Rat reisten die Helden darum als fremde Kaufleute verkleidet nach Irland.
Am Strande von Baljan gingen sie an Land, baten um Gastfreundschaft, die man ihnen gewährte, und schlugen die Zelte auf, um ihre Waren feilzubieten: Waffen und Geräte, wertvolle Stoffe und kostbaren Schmuck an Spangen und Ringen.
Die Leute aus Hagens Burg strömten voll Neugierde herbei, und bald zog das Lob der köstlichen Waren und Kleinodien auch die Königin mit ihrer schönen Tochter in die Zelte der Fremden. Selbst König Hagen fand Gefallen an den Kaufleuten, die gar nicht wie gewöhnliche Krämer erschienen, und eines Tages lud er Wate und seine Gefährten an den Hof.
Im Königssaale saßen die Gäste aus dem Hegelingenlande der Königin und ihren Edelfrauen gegenüber. Mit welcher Freude schauten sie auf Hilde, die liebliche Königstochter, der ihre Reise galt; doch ließen sie nichts von ihrem Vorhaben verlauten und gebärdeten sich weiterhin, als seien sie Kaufleute. "Nicht Krämer, sondern edle Recken sind sie", flüsterte Hagen seinem Marschall zu und blickte dabei wohlgefällig auf den starken Wate mit dem breiten Bart.
Lächelnd trat Königin Hilde vor Wate hin: "Sagt ehrlich Eure Meinung", fragte sie scherzend. "Behagt Euch mehr der Umgang mit schönen Frauen, oder blickt Ihr lieber im Waffenspiel dem Gegner ins Auge?"
Der wackere Streiter ließ sich durch die Scherzfrage überrumpeln und gestand freimütig ein, jeder Gesellschaft schöner Frauen ziehe er den harten Waffenstreit vor. Da gab es fröhliches Gelächter, und als Hagen den Gast, der ein Kaufmann sein wollte, zum Wettkampf herausforderte, mußte er ihn bald voller Erstaunen und Beschämung als seinen Meister anerkennen.
Besonderes Gefallen aber fanden Frauen und Recken des Königshofes an Horand, dem Sänger, der durch seine Stimme aller Herzen gewann. Er sang so bezwingend, daß die Waldvögel in ihrem Gesang innehielten und die schöne Hilde in ihrer Kemenate voll heimlichen Entzückens seiner Stimme lauschte. Niemals hatte sie solch bezaubernden Gesang vernommen. Schließlich konnte sie den lockenden Tönen nicht länger widerstehen und ließ den Sänger zu sich kommen.
Dort in ihrem Frauengemach sang Horand für sie eine Weise, die er noch niemandem gesungen hatte, auf der Meerfahrt hatte er sie von einem Nix vernommen, der schöner sang als jedes Menschenwesen.
Jetzt offenbarte Horand der Königstochter die volle Wahrheit und berichtete ihr von Hetel, seinem Herrn, der nichts sehnlicher wünschte, als sie zur Frau zu gewinnen.
Die schöne Hilde schien nicht abgeneigt, ihr Jawort zu geben. "Mein Vater wird niemals darein willigen, daß ich mit Euch in die Ferne ziehe," meinte sie jedoch zögernd.
"Gerade darum haben wir ja vorgetäuscht, Kaufleute zu sein", versetzte Horand, und so lockend wußte der kluge Sänger ihr seines Herrn Werbung vorzutragen, daß Hilde schließlich einwilligte. Auch ohne die Zustimmung ihres Vaters wollte sie Horand folgen, und sie war bereit, sich von ihm und seinen Gefährten entführen zu lassen.
"Erbitte dir deines Vaters Erlaubnis, unsere Schiffe zu besichtigen", schlug er ihr vor, "dann werden wir die Anker lichten und in König Hetels Land fahren."
Die Flucht gelang. Ein günstiger Fahrtwind führte die Hegelingen zur Heimatküste, und König Hetel, dem Boten den glücklichen Ausgang der Fahrt berichtet hatten, nahte mit einem glänzenden Brautgeleite, um die schöne Hilde heimzuführen. In fröhlichem Einverständnis gelobten sich beide Liebe und Treue. Aber noch ehe es Abend wurde, kam erschreckende Botschaft: König Hagen war mit seiner kampfstarken Flotte bereits nahe der Küste, um die geraubte Tochter zurückzuholen. Denn nicht anders glaubte der Irenkönig, als daß Hilde von Seeräubern entführt worden sei.
"Rüstet euch alle zum Kampfe!" gebot Hetel seinen Mannen, und so standen die Hegelingen zur Abwehr bereit, als König Hagen mit seinen Recken an Land ging.
Ein hartes, erbittertes Ringen begann. Wild flogen die schweren Speere, und dann standen die Kämpfer, das Schwert in der Faust, einander gegenüber. Hagen drang grimmig auf König Hetel ein und traf ihn schwer, und als man den Verwundeten vom Kampfplatz führte, ging Hagen kühn den starken Wate an. Zwei ebenbürtige Gegner standen einander gegenüber, Hagen durchschlug Wates Helm und verwundete ihn schwer. Der alte Recke ließ aber nicht vom Kampfe ab und brachte den König in harte Bedrängnis.
"Trenne, wenn du mich liebst, die beiden erbitterten Kämpfer!" bat Hilde, die alles mit angesehen hatte, König Hetel; "sie werden nicht ablassen von ihrem furchtbaren Streit, bis sie beide zugleich erschlagen zu Boden sinken."
Da raffte Hetel, trotz seiner Verwundung, sich auf und eilte auf die Walstatt. "Laßt es genug sein der Toten, König Hagen!" rief er, "und stellt den unnützen Kampf ein, ihr Helden!" König Hagen, der Achtung hatte vor der Tapferkeit seines Gegners, folgte der Aufforderung König Hetels. Die beiden starken Streiter senkten die Waffen, und König Hetel bekannte, daß er Hagens Tochter habe entführen lassen, um sich mit ihr zu vermählen. "Als Königin der Hegelingen soll sie über Land und Meer herrschen", gelobte König Hetel.
Da willigte Hagen ein und erklärte sich zur Versöhnung bereit. Er geleitete selber seine schöne Tochter in die neue Heimat und feierte auf Hetels Burg Matelane ihre Hochzeit mit dem König der Hegelingen, in guter Freundschaft und mit vielen Gastgeschenken schied Hagen von dannen.
In hohen Ehren lebte die schöne Hilde viele Jahre an der Seite König Hetels, der sein Reich in Gerechtigkeit und Kraft regierte und schirmte. Sie hatten zwei Kinder, Ortwin, der unter der Obhut des alten Wate zu einem edlen Recken heranwuchs, und Gudrun, die an Schönheit sogar ihre Mutter überstrahlte.
Wie einst Hagen über seine Tochter Hilde, so wachte nun König Hetel über die schöne Gudrun. Nur dem sollte sie gehören, den er ihrer würdig erachtete. Vergeblich warb Sigfrid von Morland, der über sieben Reiche gebot, um sie; vergeblich bat auch Hartmut, der Sohn König Ludwigs von der Normandie, um ihre Hand.
Gudrun selber hätte sich dem edlen Recken, der sich durch stattlichen Wuchs und ritterliches Wesen auszeichnete, vielleicht wohl anvertraut; denn er brachte ihr aufrichtige Liebe entgegen. Doch ihr Vater Hetel wies den Freier stolz und hochfahrend ab, als bedeute dessen Werbung eine Kränkung seiner Ehre; Hartmuts Vater Ludwig nämlich war ein Lehnsmann von König Hagen von Irland, und somit galt Hartmut ihm als nicht ebenbürtig.
Voller Zorn nahm der junge Normannenfürst die Abweisung hin, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt und sann auf Rache.
Während Hartmut unverrichteter Dinge heimkehrte, erschien König Herwig von Seeland mit einem Heere vor Hetels Burg. Die Hegelingen mußten der Übermacht der Feinde weichen, und Herwig gelang es, mit seinen Mannen in die Burg einzudringen. König Hetel stellte sich Herwig im Burghof zum Kampfe. Aber als die schöne Gudrun Herwigs Heldenkraft und den Ernst seiner Werbung sah, entbrannte ihr Herz in Liebe zu ihm, und sie bat ihren Vater, um ihretwillen Frieden zu schließen. König Hetel gewährte ihr die Bitte, weil er erkannt hatte, daß Herwig seiner Tochter würdig war.
So wurden Gudrun und Herwig miteinander verlobt. Aber ein Jahr sollte die Brautzeit währen; denn Hetel und Hilde wollten sich nicht so bald von ihrem geliebten Kinde trennen.
Doch ehe Herwig daran denken konnte, seine Braut heimzuführen, hatte er einen schweren Krieg zu bestehen. Der mächtige König Sigfrid von Morland hatte in seinem Zorn über die Abweisung am Hegelingenhofe Rache geschworen und wandte sich nun gegen Herwig von Seeland, der glücklicher gewesen war als er. Herwig war nicht zum Kampfe gerüstet und geriet in schwere Not. Nur mit Hetels Hilfe, in dessen Heer auch der junge Ortwin, dazu Wate, Frute und Horand kämpften, wurde der mißgünstige Nebenbuhler in seine Burg zurückgeworfen. Dort belagerten ihn die Heere der Hegelingen und Seeländer. "Nicht eher werde ich von hier weichen", rief König Hetel drohend, "als bis Sigfrid, der Friedensbrecher, gefangen vor mir steht!"
In dieser Zeit aber, da die wehrhaften Männer fern der Heimat waren, brach das Verhängnis über Hetels Sippe herein. Hartmut, den jungen Normannenfürsten, trieb die Rache wegen der Demütigung, die er an Hetels Hof erfahren hatte, wie auch die Liebe zu Gudrun zu schnellem Entschluß. Seine Späher meldeten ihm, daß König Hetel auf Heerfahrt sei.
Doch ehe Hartmut ins Hegelingenreich einfiel, sandte er noch einmal Brautwerber nach Matelane. "Ich bin Herwig anverlobt", erklärte die stolze Gudrun "und mit keinem anderen werde ich mich vermählen."
Da griff der junge Normannenfürst zur Gewalt, wie er es angedroht hatte, berannte mit seinen Mannen die unbewehrte Königsburg und ließ Gudrun mit mehreren ihrer Jungfrauen, zu denen auch ihre Gespielin Hildburg gehörte, ergreifen und zu den Schiffen schleppen.
Nur Königin Hilde blieb in einsamem Schmerz zurück. Sie sandte Boten mit der Trauerkunde an König Hetel, und als dieser vernahm, was sich ereignet hatte, wollte ihn der Schmerz überwältigen. Aber Herwig rief: "Wir müssen sogleich den frechen Räuber verfolgen und ihm seine Beute abjagen." Auch Wate stimmte ihm zu, und er drängte darauf, mit Sigfrid Frieden zu schließen. Der hartbedrängte König von Morland war auch dazu bereit, und als er erfuhr, daß Hartmut die schöne Gudrun geraubt habe, entschloß er sich, an der Verfolgung teilzunehmen. Ohne zu säumen bestiegen sie die Schiffe, setzten die Segel und nahmen unter Wates Führung die Verfolgung auf.
Die Normannenkrieger dachten nicht an Gefahr und rasteten auf einer Insel, dem Wülpensande. Plötzlich entdeckten die ausgestellten Wächter Segel auf dem Meer. Die Normannen hatten kaum Zeit, sich zu rüsten, so schnell waren die Schiffe heran. Die bewaffneten Hegelingen sprangen an Land, und die Schlacht begann.
In wütendem Ringen wogte das Kampfglück hin und her. Die Wellen röteten sich vom Blute der Erschlagenen, und rot färbte sich auch das Gras der Dünen, ringsum war die Walstatt von Toten und Verwundeten bedeckt. Hetel stellte in wildem Zorn den Normannenkönig Ludwig, Hartmuts Vater, zum Zweikampf; aber nach schwerem Ringen traf ihn Ludwigs Schwert, daß er sterbend zu Boden sank. Da wurde der Zorn des alten Wate zum Grimm eines reißenden Tieres. Brüllend vor Kampfeswut stürzte er sich in die Reihen der Kämpfer, um seinen Herrn zu rächen, viele Normannen fielen unter seinen Streichen.
Als der Abend herabsank, war die Schlacht immer noch nicht entschieden. Erst die hereinbrechende Finsternis trennte die Kämpfenden. In tiefer Ermattung sanken hüben und drüben die Streiter in den Schlaf. König Ludwig wußte, daß er mit seinen Mannen auf die Dauer den Hegelingen nicht werde standhalten können. Deshalb führte er im Schutze der Nacht seine Krieger lautlos zu den Schiffen, gewann unbehindert die See und steuerte mit günstigem Wind der normannischen Heimat entgegen.
Als Wate in der Morgenfrühe das Heerhorn ertönen ließ, um den Kampf von neuem zu beginnen, war ringsum kein Feind mehr zu erblicken. Nur seine Toten bedeckten den Strand. Groß war die Enttäuschung der Hegelingen; denn sie mußten erkennen, daß sie nicht mehr die Kraft besaßen, den entwichenen Feinden zu folgen.
Da begruben die Überlebenden in tiefem Schmerz ihre Toten; auf das Grab des erschlagenen Königs Hetel wälzten sie einen gewaltigen Stein. Sechs Tage währte es, bis die Toten auf der breiten Meeresdüne bestattet waren. Auch die gefallenen Feinde begruben sie, damit die Leichen nicht den Raben zum Fraß dienten.
Dann ging die Fahrt heimwärts ins Hegelingenland. Ohne den Heerkönig, den starken Hetel, und ohne die schöne Gudrun, um deretwegen sie ausgezogen waren, mußten Wate und Herwig vor die Königin Hilde treten, fast die ganze waffenfähige Mannschaft hatte den Tod gefunden.
Laut klagte Königin Hilde, als sie diese Kunde vernahm. "Wir müssen sogleich zum Kampf gegen die räuberischen Normannen rüsten!" rief sie; doch Herwig zögerte, und Wate, der starke Kämpfer, wiegte bedächtig das Haupt: "Allzusehr sind von dem zweifachen Kriegszug unsere Kräfte erschöpft; erst wenn eine neue Waffenjugend herangewachsen ist, können wir daran denken, gegen die Normannen den Kampf zu erneuern." Auch Herwig versprach, nicht eher zu ruhen, als bis er Gudrun befreit und an Hartmut gerächt habe.
Währenddessen rauschten die Schiffe der Normannen durch das Meer nach Süden. "Seht jene Burgen, Herrin", sagte Hartmut zu der von Kummer gebeugten Gudrun, "über sie und all meine Lande sollt Ihr gebieten, wenn Ihr mich erhöret." Und auch König Ludwig redete ihr gut zu.
"Lieber will ich sterben, als meinem Verlobten die Treue brechen", erwiderte Gudrun. In jähem Zorn ergriff sie der alte König und stieß sie ins Meer. Aber Hartmut sprang ihr nach und rettete sie aus den Wellen. Drohend trat er vor seinen Vater. "Hätte ein anderer sich solchen Tuns erkühnt", rief er, "so hätte er es mit dem Leben büßen müssen!" Da faßte Reue den rauhen König, und er tat Abbitte bei Gudrun.
Als die Schiffe in den Heimathafen einliefen, standen Hartmuts Mutter, die Königin Gerlind, und seine Schwester Ortrun am Strande, um Gudrun freundlich zu empfangen. Doch diese wehrte weinend jeden Gruß ab. Trotzdem versuchte die Königin zunächst, die Entführte versöhnlich zu stimmen. Aber gegen sie wie auch gegen Hartmut und alle andern blieb Gudrun abweisend und unzugänglich; nur zu Ortrun, die ihr stets liebreich entgegenkam, fühlte sie sich hingezogen.
Hartmuts Hoffnung, daß Gudrun ihm allmählich ihre Liebe zuwenden werde, erfüllte sich nicht. Zu sehr zürnte Gudrun dem Manne, der die Schuld an ihrem Unglück trug, und sie zeigte sich unversöhnlich, obwohl sie durch Ortrun wußte, daß Hartmuts Liebe aufrichtig war.
Als Gudrun sich fernerhin weigerte, mit Hartmut Hochzeit zu halten, riet Gerlind dem Sohne, die Widerspenstige ihrer Zucht zu übergeben, so werde sich alles wohl fügen. Da willigte Hartmut ein, bat jedoch die Mutter, Gudrun in Ehren zu halten, wie es ihr zustehe. So kam Gudrun, die Königstochter, in Frau Gerlinds Zucht und mußte schwere Magddienste verrichten. Gerlind quälte sie auch durch kränkende Worte und durch Strafen und gab ihr kärgliche Nahrung.
In schweigendem Stolz nahm Gudrun alle Pein geduldig auf sich. Aber die bittere Not verscheuchte die frische Farbe ihrer Wangen. Als Hartmut von Gudruns Behandlung durch seine Mutter erfuhr, stellte er diese zur Rede, und Frau Gerlind versprach, Gudruns Los zu mildern. Trotzdem trug sie der Königstochter immer härtere Arbeiten auf.
Fortan mußte Gudrun am Strande die Wäsche waschen. Der einzige Trost für die gequälte Gudrun war, daß Hildburg, ihre Gespielin, die Not mit ihr teilte. Mitten im eisigen Winter standen die beiden Mädchen am Meeresstrande und gingen ihrer schweren Arbeit nach.
Immer wieder richtete die Königstochter den Blick über die weite See, dorthin, wo sie die ferne Heimat wußte. Hatte man sie denn dort ganz vergessen, glitt kein Segel von Norden her, kam nicht der Verlobte, sie zu suchen und ihr Rettung zu bringen?
Die Jahre gingen hin. Immer quälender und drückender wurde Gudruns Los in der Fremde, und immer mehr schwand ihre Hoffnung auf Rettung und Heimkehr. Ob Herwig, ihr Verlobter, und ihr Bruder Ortwin und ihre Mutter Hilde nicht mehr am Leben waren?
Einst standen Gudrun und Hildburg wieder bei ihrer harten Arbeit am Strande. Das Wetter war rauh und kalt; aber die grausame Gerlind hatte sich nicht gescheut, den beiden Jungfrauen sogar die Schuhe zu versagen; barfüßig, halb erstarrt vor Schmerz und Erschöpfung, so standen sie im Schnee am Meeresufer. Da sahen sie einen Seevogel in den Wellen treiben, und in ihrer Sehnsucht riefen die Jungfrauen ihn an. Der Vogel aber antwortete ihnen mit Menschenstimme: "Harret mutig aus, ihr beiden Dulderinnen; die Rettung ist nahe!" Dann hob er sich in die Luft und flog davon.
Hatte der Vogel wahr gesprochen? Gudrun und Hildburg faßten neuen Mut.
Als sie tags darauf wieder am Strande die Wäsche spülten, schraken sie auf; ein Boot, in dem zwei Männer standen, näherte sich dem Ufer. Gudrun schämte sich und wollte sich verbergen, aber Hildburg überredete sie zu bleiben.
"Wessen Wäsche wascht ihr denn?" fragten die Männer; sie schienen Mitleid zu haben mit den beiden Mädchen, die zitternd und windzerzaust so schwere Arbeit verrichten mußten. Bereitwillig gaben die Jungfrauen Auskunft; doch eine Belohnung, die man ihnen anbot, schlugen sie aus.
"Ihr seid im Normannenlande", sagte Gudrun, "und die Burg, die ihr dort seht, gehört dem König Ludwig und seinem Sohne Hartmut."
Begierig vernahmen die Fremden, was Gudrun berichtete.
"Habt ihr etwas gehört von den Jungfrauen, die vor Jahren als Gefangene hierher verschleppt worden sind und von denen die eine Gudrun heißt?" fragte der eine der beiden Männer.
"Ich kannte sie, denn ich gehöre selber zu den Gefangenen, die einst hierhergebracht wurden", antwortete Gudrun.
Da vernahm sie, wie der eine der beiden von seinem Gefährten Ortwin genannt wurde. "Ihr fragt nach der armen Gudrun", sagte sie dann; "ich muß euch kundtun, daß sie schon längst ihrer Qual und Mühsal erlegen ist."
Da wurden die Augen der beiden Helden naß. "Bis an mein Lebensende", rief Herwig, "muß ich nun klagen um sie, die mir zur Ehe versprochen war!"
"Ihr wollt mich täuschen, wenn Ihr Gudrun Eure Braut nennt", sagte die Jungfrau da. "Denn wäre Herwig am Leben, längst wäre er gekommen, mich zu befreien!"
Damit hatte Gudrun sich verraten. Nun wußten Ortwin und Herwig, daß Gudrun vor ihnen stand. Herwig zeigte ihr den Ring, den er einst aus ihrer Hand empfangen hatte, und sah an ihrer Hand den gleichen, den er ihr einst gegeben hatte.
Da umarmten und küßten sich die beiden Verlobten in unendlichem Glück. Ohne Verzug wollte Herwig die Mädchen mit sich zu den Schiffen führen. Dem widersetzte sich Ortwin: "Nicht feige wegstehlen wollen wir sie", sagte er, "sondern nach ehrlichem Kampfe werden wir Gudrun und die Mädchen befreien!" "Sollen wir sie auch nur eine Stunde länger in der Knechtschaft leben lassen?" brauste Herwig auf. "Ich habe meine geliebte Braut wiedergefunden! Nun bringe ich sie in Sicherheit, und dann soll der Rachekampf beginnen, der Kampf um die Gefährtinnen Gudruns und Hildburgs!"
Aber der edle Ortwin bestand auf seiner Forderung: "Eher bleibe ich selber hier", rief er, "und lasse mich an der Schwester Seite von den normannischen Feinden niederstrecken. Nur in Ehren, Gudrun, sollst du befreit werden! Aber vertrau auf unsere Treue!" Da fügte Herwig sich dem Willen des Schwagers, das Versprechen der beiden Tapferen war für Gudrun Trost genug. Mit herzlichem Abschied gingen sie auseinander.
Freudige Hoffnung hatte Gudrun ergriffen, ihr Antlitz gewann wieder die blühende Farbe, und die Augen erhielten leuchtenden Glanz. "Wir müssen an die Arbeit gehen, sonst erwartet uns Strafe", mahnte Hildburg; aber Gudrun wollte vom Waschen nichts mehr wissen. "Bin ich etwa eine Magd, die niedrige Dienste zu leisten hat?" rief sie, und lachend warf sie die Wäsche, die für sie das Zeichen der Knechtschaft war, ins Meer. Königin Gerlind geriet in großen Zorn, als sie erfuhr, was Gudrun mit der Wäsche gemacht hatte. Sie ließ eine Rute binden und befahl, die Jungfrau zu züchtigen. Da antwortete Gudrun: "Ehe ich die Strafe erdulde, will ich zum Manne nehmen, den ich bisher nicht nahm. Bald wird das Normannenland mir, der Königin, dienen!"
Durch solche Worte ließ sich die Königin ihren Zorn besänftigen. Sie glaubte wirklich, Gudrun habe nun endlich ihren Sinn geändert und sei entschlossen, Hartmut die Hand zum Ehebunde zu reichen. Sogleich ließ Gerlind ihn rufen. Doch als Hartmut in ungläubiger Freude herbeieilte und die stolze Gudrun als seine Braut in die Arme schließen wollte, wies sie ihn zurück: "Seht, wie ich hier stehe, barfuß und im nassen Gewand, wie ich soeben vom Strande heimgekommen bin. Nicht eher sollt Ihr mich berühren, als bis ich Euch ebenbürtig bin und die Krone auf meinem Haupte trage!"
Hartmut fügte sich ihrem Willen und fragte nach ihren Wünschen. Da verlangte Gudrun königliche Gewänder für sich und angemessene Kleidung für ihre Jungfrauen. "Als Fürstin will ich morgen meinen Bräutigam empfangen!" sagte sie bedeutungsvoll .
Gerlinds Dienerinnen waren nun voller Eifer bereit, der eben noch so schmählich Mißhandelten behilflich zu sein. Nur Gerlind mißtraute Gudruns Sinneswandlung, als sie die Königstochter so fröhlich mit den Jungfrauen aus ihrer Heimat scherzen sah, und sie glaubte, ihren Sohn Hartmut warnen zu müssen. Doch seine Liebeshoffnung hatte Hartmut blind gemacht, und unbesorgt schlug er alle Mahnungen der Mutter in den Wind.
Als die Frauen aus dem Hegelingenlande dann zu später Abendzeit allein waren, offenbarte Gudrun ihnen die Wahrheit. "Habt Geduld bis morgen", sagte sie tröstend, "dann wird unser Leid endlich in Freude verwandelt werden!"
Ortwin und Herwig waren inzwischen zur Flotte der Hegelingen zurückgekehrt und hatten mit ihrem Bericht überall frohe Hoffnung erweckt. Nun mußte das kühne Wagnis gelingen! Als die Nacht herabsank, lichteten sie die Anker und steuerten bei Mondenschein zur Felsenbucht, wo die Normannenburg herüberdrohte. Glücklich gelangten die Helden ans Ufer, und voller Tatendurst rüsteten sie sich zum Kampfe. Gudrun selber, von einer ihrer Jungfrauen geweckt, sah mit heller Freude vom Fenster aus, wie die ganze Bucht von Schiffen voll war und wie die Schlachthaufen der Hegelingen sich zum Sturme bereit stellten. Die Burg war von allen Seiten umstellt. Erst jetzt ließ der normannische Wächter sein Horn erschallen, um die schlafenden Recken zum Kampfe zu rufen; doch zugleich tönte Wates Heerhorn schreckenerregend durch die Morgenfrühe.
Ein harter Kampf entbrannte. Kühn hatten die Normannen die Tore geöffnet, um den Feinden draußen vor den Burgmauern entgegenzutreten: doch bald zeigte es sich, daß sie der Kampfeswut der Hegelingen nicht gewachsen waren. König Ludwig stieß auf Herwig, aber der junge König von Seeland, dem der Gedanke an die wiedergefundene Gudrun die Kraft verdoppelte, schlug so wuchtig drein, daß König Ludwig ihm unterlag: sterbend sank er zu Boden, und Herwig schlug ihm das Haupt ab.
Hoch auf den Zinnen der Burg stand Gudrun inmitten ihrer Jungfrauen und sah dem wechselvollen Kampfe mit fliegendem Atem zu. Immer stärker wurde die Überlegenheit der vordringenden Hegelingen. Selbst den tapferen Hartmut, der überall im Vorkampfe gestanden hatte, verlangte es nach Rast. Aber als er sich mit seinen Mannen ins Tor zurückziehen wollte, versperrte der starke Wate ihm den Weg und stellte ihn zum Kampfe. Schwer fielen die Streiche der beiden gewaltigen Helden.
Da hörte Hartmut, der noch nicht wußte, daß König Ludwig gefallen war, seine Mutter laut den Tod des Gemahls beklagen. Zugleich äußerte sie das Verlangen, Gudrun tot vor sich zu sehen, und entsandte einen ihrer Knechte auf die Burgzinne. Gudrun schrie auf, als sie den Mann mit dem blanken Schwert auf sich zukommen sah, und mit diesem Notschrei aus Todesfurcht zog sie Hartmuts Blicke auf sich, der immer noch in schwerem Zweikampf mit dem grimmen Wate stand. Hartmut eilte herbei, und furchtbar drohte der Normannenfürst, sich an dem gedungenen Mörder zu rächen; da ließ dieser das Schwert sinken und entfloh.
So hatte Hartmut, obwohl selber in Todesnot, Gudrun das Leben gerettet, der immer noch seine Liebe galt.
Bedrängter wurde seine Lage, schon schien er verloren; da eilte Ortrun herbei und warf sich Gudrun zu Füßen. "Wende den Tod von meinem Bruder ab!" bat sie flehend; "mein Vater ist erschlagen und all die Meinen, nun erspare mir ein Schicksal, wie du es selber erlebt hast!"
Da hatte Gudrun Erbarmen mit der Königstochter, die stets freundlich zu ihr gewesen war, und von der Höhe herab winkte sie Herwig heran und bat ihn, die Kämpfenden zu trennen. Nur mit Mühe konnte Herwig ihre Bitte erfüllen. Zwar wurde Hartmut dem Zorne des unbezwinglichen Wate entrissen; aber gefesselt führten Herwigs Mannen ihn zu den Schiffen.
Damit war das Geschick der normannischen Königsburg entschieden. Furchtbar wütete Wate, der sich den Eingang erzwungen hatte, durch alle Gemächer. Er wollte Gericht halten mit Gerlind, die die Tochter seines Königs so grausam behandelt hatte. In ihrer Verzweiflung suchte die Königin Hilfe bei Gudrun, die schon Ortrun vor der Wut der Hegelingen beigestanden hatte. Voller Großmut gewährte die edle Gudrun auch ihrer Feindin Schutz und versteckte sie hinter sich. Aber Wate, furchtbar anzuschauen in seiner Kampfeswut, zerrte Gerlind hervor und ließ die Königin mit dem Tode büßen, was sie seiner Herrin angetan hatte.
Damit hatte der erbitterte Kampf ein Ende gefunden. In unendlichem Glück umarmte Gudrun den Verlobten und den Bruder, die ihr die Freiheit gebracht hatten.
Mit reicher Siegesbeute ging es sodann auf die Heimfahrt, Hartmut und Ortrun wurden als Gefangene mitgeführt.
Frau Hilde, die Hegelingenkönigin, hatte schon durch Boten den glückhaften Ausgang vernommen. Bald lag Gudrun in den Armen der Mutter. Nun endlich wußte sie, daß ihre lange Leidenszeit ein Ende gefunden hatte.
Die beiden normannischen Königskinder verwies Hilde zunächst streng aus ihren Augen; später jedoch fügte sie sich Gudruns Fürsprache. Ortwin nämlich hatte die schöne Ortrun liebgewonnen und warb um ihre Liebe, und auch Hartmut gegenüber ließ die Königin von ihrem Groll und gewährte ihm Verzeihung und Freiheit. Da bat der junge Normannenfürst die treue Hildburg um ihre Hand, und als bald darauf Gudrun und Herwig den Lebensbund schlossen, für den Gudrun sich neun Jahre lang bereit gehalten hatte, da sah die Hochzeitsfeier im Hegelingenlande drei glückliche Brautpaare.
Eine lange Friedenszeit folgte nach den schrecklichen Jahren der Entbehrung und des Krieges. Gudruns Schönheit erblühte von neuem, und ihre Treue, die sie so viele Jahre hindurch bewahrt hatte, wurde in allen Landen besungen.
Parzival
Parzival der reine Tor
Vorzeiten verließ Gachmuret, der Sohn des Königs von Anjou, den Hof seines Vaters und zog nach Ritterart in die Welt hinaus. Es widerstrebte ihm, dem äIteren Bruder, der Krone und Königreich erbte, als Vasall zu dienen. Die Freunde lobten Gachmurets ritterlichen Mut und seine unwandelbare Treue, die Frauen seinen edlen Anstand und den Adel seiner Sitten; die Feinde aber mußten seinen starken Arm anerkennen und fürchten.
Auf seinen riesigen Fahrten und Abenteuerreisen durchquerte Gachmuret die persische und arabische Wüste und kam gar bis nach Damaskus. Dann wieder verschlug ihn der Seesturm an die Küste Afrikas, wo er im ehrenhaften Rittersold der schönen Mohrenkönigin stand: er gewann ihre Minne und befreite ihr die Hauptstadt von der Belagerung zweier feindlicher Heere.
Aber trotz Ehren und Goldeslohn ließ die Abenteuerlust den tapferen Recken nirgends stetig verweilen. In der spanischen Stadt Toledo vernahm er von dem Ritterturnier, das die Königin Herzeleide ausgeschrieben hatte. Sie war eine Witwe von berühmter Schönheit und hatte dem Sieger ihre Hand und das Königszepter zum Lohne geboten. Da meldete Gachmuret sich zum Wettkampf, und keiner der vielen Bewerber konnte seiner ungestümen Kraft und Gewandtheit widerstehen: als Sieger errang er den ausgesetzten Preis.
Mehrere Jahre lebte er nun an der Seite der Königin. Unter seiner weisen Regierung blühte das Reich auf. Doch der ritterliche Tatendrang ließ Gachmuret nicht lange ruhen, und als der Kalif von Bagdad ihn in Kriegsnot anrief, zögerte er nicht, dem Freunde im fernen Morgenlande zu Hilfe zu eilen. Vergeblich suchte Frau Herzeleide ihn zurückzuhalten.
Nach qualvoller Wartezeit kehrte endlich als Bote aus dem fernen Morgenlande einer von Gachmurets Knappen in der Königsburg ein; im Kampf vor Bagdad hatte er den Rittertod gefunden.
Bald darauf brachte Frau Herzeleide ein Knäblein zur Welt, wohlgestaltet und stark an Gliedern. Sie gab ihm den Namen Parzival.
Ohne den starken Arm ihres Gatten war Frau Herzeleide machtlos. Der König des Nachbarreiches stieß sie vom Thron und raubte ihr Krone und Land. Da zog sie in die Einsamkeit des Waldes Soltane; nur wenig Gesinde nahm sie mit sich und ließ auf einer Lichtung ein einfaches Haus bauen, den Wald roden und das Feld beackern.
Die liebevolle Sorge der Mutter galt nun dem kleinen Parzival. In ihrem Groll gegen Krieg und Männerkampf, die ihr das Liebste auf der Welt genommen hatten, verbot sie ihren Dienstleuten bei strengster Strafe, dem Jungen gegenüber jemals ein Wort von Ritterschaft und ritterlichem Wesen verlauten zu lassen:
»Denn würde mein Sohn, mein liebstes Erbe des toten Gatten, vernehmen, was Ritterleben ist, so brächte es ihm und mir nur noch weiteres Leid!«
Die Dienerschaft handelte sorgsam nach den Befehlen der Herrin. Was Parzival an ritterlicher Übung verblieb, waren Bogen und Schießbolzen, die er sich mit eigener Hand fertigte, um die Vögel im Walde zu erlegen. Doch wenn das gefiederte Wild getroffen vor ihm lag, so packten ihn Mitleid und bittere Reue, und der Vogelsang in den Baumwipfeln ergriff ihn so sehr, daß er traurig den Tag verbrachte.
»Warum sollen denn die armen Vögel sterben?« fragte Parzival betrübt seine Mutter.
Da küßte sie ihn innig: »Wie sollte ich wohl etwas gegen den Willen unseres höchsten Gottes tun?«
»O Mutter«, rief er, »was ist denn das: Gott?« Und Frau Herzeleide antwortete: »Gott ist noch lichter als das helle Tageslicht, mein Sohn, dies merk dir als Lebensweisheit: Rufe ihn an in jeder Not; er wird dir immer getreulich helfen.«
Bald war Parzival Meister im Wurfspieß. Bei jedem Wetter war er auf der Jagd, und alle bewunderten seine männliche Körperkraft, wenn er das schwere Wild, an dem ein Maultier seine Last gehabt hätte, allein auf den Schultern heimtrug.
Als Jung-Parzival einst von der Pirsch heimkehrte, hörte er vor sich auf dem Waldpfade Hufschläge. »Wenn jetzt der Teufel käme«, sagte er bei sich und faßte den Wurfspeer fester, »wie wollte ich ihn im Kampfe bestehen!« Kampflustig stand der junge Held bereit.
Doch wie staunte er: Drei prächtige Gestalten jagten zu Pferde daher, herrlich in blanken Stahl gewappnet. Der junge Waidmann glaubte in seiner Einfalt allen Ernstes, jeder von den dreien sei ein Gott. Er warf sich mitten auf dem Wege auf die Knie. »Hilf, Gott!« rief er mit erhobenen Händen. »Du kannst wohl Hilfe spenden!«
Die drei Stahlgepanzerten waren Ritter des Königs Artus. Der erste wurde zornig über die Behinderung: »Du ungeschickter Tölpel«, fuhr er ihn an, »halt uns unsern Ritt nicht auf!« Mit verhängtem Zügel kam da ein vierter Ritter daher, noch glänzender gewappnet als die drei anderen.
Parzival stand wie im Traume. Noch nie hatte er soviel lichten Glanz geschaut. Er glaubte, Gott selber stehe vor ihm, von dem seine Mutter ihm so oft erzählt hatte, wenn sie ihn den Unterschied von Licht und Finsternis lehrte. Inbrünstig hob der Königssohn die Hände zum Himmel: »O hilf mir, hilfreicher Gott!«
»Ich bin nicht Gott«, gab der eine Ritter lächelnd zurück; »was du hier vor dir siehst, das sind vier Ritter, die in seinem hohen Dienst leben.«
»Du sagst: Ritter,« rief der junge Mensch; »so sag mir doch, wer denn Ritterschaft gibt!«
Die Ritter mußten über sein einfältiges Fragen lächeln. Der Vornehmste unter ihnen aber gab wieder geduldig Antwort: ,»Das tut unser König Artus. Kommt an seinen Hof, er wird Euch den Wunsch gern erfüllen.« Wohlgefällig blickten die vier auf den edlen Wuchs des Jungen, dessen königliche Abkunft unverkennbar schien.
Voller Neugier betrachtete Parzival Harnisch und Waffen der Ritter und weckte wieder ihr Lachen durch seine einfältigen Fragen. Panzerringe und Brünne, Harnisch und Schild – alles war ihm ja ganz unbekannt. Nachsichtig erklärten die Ritter ihm den Gebrauch von Schild und Schwert.
Der Knabe aber eilte in begeisterter Freude zur Mutter, um ihr von der erregenden Begegnung zu berichten. »Gib mir ein Pferd, Mutter«, bat er mit glühenden Wangen, »daß ich an König Artus, Hof ziehe, ein Ritter zu werden!« Die Königin, die alle ihre Mühe und Muttersorge so grausam zunichte sah, hörte von der Begegnung im Walde. Parzival erzählte von der glänzenden Erscheinung der vier Ritter, und die Mutter mußte mit Herzensbitternis erkennen, daß sie ihren Jungen nun doch nicht länger würde zurückhalten können. Da sann sie in ihrer sorgenden Mutterliebe auf Mittel und Wege, ihn schnell wieder von seinem Vorhaben abzubringen und zu ihr zurückzuführen. Sie wollte ihn so lächerlich ausstaffieren, daß er, vom Spott der Welt zurückgestoßen, gar bald umkehren würde.
So kleidete sie ihn in ein Gewand aus grobem Sackleinen, setzte ihm eine Narrenkappe auf den Kopf und gab ihm plumpe Schuhe aus ungegerbtem Kalbsfell, wie Gaukler sie tragen.
»Du sollst mit meinem mütterlichen Rat in die Fremde hinausziehen«, sagte sie und umarmte den geliebten Sohn inbrünstig. »So höre, was ich dir sage: Wenn du ohne Pfad daherziehst, so meide dunkle Furten; aber in die seichten und lauteren Furten kannst du kühn hineinreiten. Zum zweiten: Sei höflich gegen jedermann und entbiete jedem deinen Gruß! Zum dritten: Hab Achtung vor einem grauen Haupte und folge dem Rate des erfahrenen Alters! Und zuletzt: Wenn eine edle Jungfrau dir Ring und Gruß bietet, da greif getrost zu; ein Kuß in Ehren bringt gutes Glück. Und du sollst wissen, mein Sohn Parzival, daß du von königlichen Ahnen bist und daß es der hochfahrende Lähelin war, der dir dein angestammtes Erbe entrissen hat!«
»Das werde ich rächen!« rief Parzival entschlossen. »Mein Wurfspeer soll ihn zu Tode treffen!«
Da umarmte ihn die Mutter in Liebe. Er küßte sie zum Abschied. Doch als Jung-Parzival am Waldesrand ihren Blicken entschwand, sank Frau Herzeleide tot zur Erde; der Abschiedsschmerz hatte ihr das Herz gebrochen.
Inzwischen ritt der schöne Knabe fürbaß, ohne von dem Tode der geliebten Mutter zu wissen. Der Weg führte ihn an einen Bach, den wohl ein Hahn hätte durchschreiten können; aber weil das Wasser dunkel erschien, so achtete er das Wort der Mutter und mied den Übergang. Den ganzen Tag rit er am Ufer entlang und übernachtete schließlich im Freien, da er keine Furt finden konnte. Erst der helle Morgen zeigte das seichte Wasser so klar, daß er den Übergang wagte.
Bald darauf überquerte er eine Wiese, auf der ein Zelt stand; es war ganz aus kostbarem, dreifarbigem Sammet und mit feinen Borten verziert.
Behutsam wagte der Junge einen Blick in das Innere. Da sah er eine schlafende Frau, edel geformt war sie und liebreizend ihr Mund mit den leuchtenden Lippen. Es war Jeschute, die Frau des Herzogs Orilus.
»Wie hat mir die Mutter angeraten?« sagte Parzival leise zu sich. Er dachte an ihre Worte von Gruß und Ring, und unbekümmert schob er den Vorhang beiseite, gab der Schlafenden einen Kuß und zog ihr dabei den Ring vom Finger. Frau Jeschute mußte wohl wach werden von der unsanften Berührung. »Was erlaubt Ihr Euch, Junker, mein Gemach zu betreten und mich durch Euren Kuß zu entehren?« fuhr sie voll Zorn und Scham auf.
Doch Parzival kümmerte sich nicht um ihren Unwillen. »Meine Mutter lehrte mich so«, versetzte er; »und außerdem habe ich Hunger.« Da mußte die Herzogin trotz aller Kränkung lächeln. »Dort auf dem Tisch findet Ihr Brot und Wein und auch zwei zarte Rebhühner, die meine Dienerin mir brachte.«
Da setzte der ungebetene Gast sich zum Mahl und trank auch reichlich von dem Wein. Schamgefühl und der Gedanke an den Herzog ließ Frau Jeschutes Herz ängstlich schlagen: »Junker«, bat sie, »gebt mir mein Ringlein zurück und zieht eilig Eures Weges! Trifft der Herzog Euch hier an, so wäre es sehr zu Eurem Schaden!«
Doch Parzival war unbesorgt. »Was sollte ich mich wohl vor dem Zorn Eures Gemahls fürchten, edle Frau? Wenn ich aber Eurer Ehre Schaden antue, so will ich Euch gern zu Willen sein und meines Weges gehen!« Entsetzt wich die Herzogin zurück, als er ihr zum Abschied wieder einen Kuß raubte. »Der Kuß einer edlen Frau bringt Glück, hat mich meine Mutter gelehrt«, so sagte er treuherzig, grüßte Frau Jeschute ehrerbietig und ritt davon. Er freute sich, den Rat seiner Mutter so trefflich befolgt zu haben.
Bald kehrte der Herzog zu ihr zurück, und an dem niedergetretenen Gras erkannte er nur zu deutlich, daß Frau Jeschute Besuch gehabt hatte. »Hab ich das um dich verdient«, fuhr er sie zornig an, »daß du mir solche Schande antust?«
Mit Tränen in den Augen leugnete die Frau jede Schuld. Und ängstlich berichtete sie von dem närrischen Besucher, der ihr gegen ihren Willen Ring und Kuß geraubt und zu essen begehrt habe. Aber sie konnte doch nicht unterlassen, seine edle Erscheinung zu loben: »So viel Junker ich kennengelernt habe, nie sah ich solche Jugendschönheit!«
Dies unbedachte Wort weckte natürlich die Eifersucht des Herzogs noch mehr. In seinem ritterlichen Zorn schwur er, den elenden Verführer zu züchtigen, wo er ihn antreffe. Jeschute aber wollte er hinfort nicht mehr als sein Ehgemahl achten. »Mögen deine roten Lippen blaß werden und deine Augen rot vom Weinen – ich werde dich für deine Untreue strafen. Als Magd sollst du mir folgen auf einem dürren Klepper; und statt des kostbaren Zügels sollst du einen bastgedrehten Strick führen!«
Ohne die Tränen der Unglücklichen zu achten, rüstete der Herzog zum Aufbruch und befahl der verstoßenen Gattin, ihm zu folgen. Welches Herzensleid hatte Parzival ihr durch seine Unbedachtsamkeit gebracht!
In grimmigem Haß ritt der Herzog der Fährte nach; aber der harmlose Knabe, der die Verfolgung nicht ahnte, war nicht mehr aufzuspüren. Unbefangen zog er seines Weges. Wer seinen Weg kreuzte, den grüßte er höflich und setzte hinzu: »So hat es mich meine Mutter gelehrt.«
Vor einem Felsabhang hörte er plötzlich die Stimme einer Jungfrau, die schrie verzweifelt. Sie saß am Bergeshang und hielt in ihrem Schoß einen toten Ritter.
Voll Mitleid trat Parzival näher und grüßte höflich, wie ihn seine Mutter gelehrt hatte. »Gott schütze Euch, edle Jungfrau«, rief er ihr zu. »Sagt mir doch, wer dem Ritter ein Leid zufügte. Wenn ich Euch nützlich sein kann, bin ich gar gern erbötig, für Euch einzutreten.«
»Ich sehe, daß Ihr ein ritterliches Herz habt, Junker«, erwiderte sie zaghaft; »so hört: Dieser Ritter, um den ich traure, war mein Verlobter. Er wurde vom Herzog Orilus erschlagen. Doch ehe ich weiterspreche, sagt mir, wer Ihr seid! Ihr scheint mir treue Eltern zu haben, daß Ihr so liebevoll Anteil zu nehmen wißt.«
Parzival erkannte in ihr Sigune, die Schwestertochter seiner Mutter. »Liebe Base«, sagte der Junge voll Zorn und Mitleid; »ich werde dich an dem Herzog Orilus rächen. Zeige mir den Weg, den er geritten ist, so will ich ihn sogleich zum Zweikampfe stellen!«
Aber der Jungfrau war es schon leid, seine Kampfeswut geweckt zu haben, denn sie mußte ja fürchten, der unerfahrene Junge würde den Kampf gegen den grimmen Ritter nicht bestehen. So wies sie ihm den falschen Weg.
Parzival aber machte sich voll Eifer an die Verfolgung und ritt die Straße, die ins Bretonenland führt. Und wer seinen Weg kreuzte, ob Ritter oder Kaufmann, den grüßte er mit höflichem Gruß und setzte arglos hinzu: »So hat mich's meine Mutter gelehrt.«
Gegen Abend kam der Junge, müde von dem langen Ritt, vor eine armselige Fischerhütte und bat um Obdach. Aber der Fischer, ein grober Geizhals, wollte ihn mit barschen Worten von der Tür weisen. Erst als Parzival ihm Frau Jeschutes Ring zum Lohn bot, wurde der ungefällige Mann gefügig. »Willst du mir morgen früh den Weg an den Königshof weisen, wo König Artus Tafelrunde hält«, setzte der Jüngling hinzu, »so soll dieser goldene Ring dein Eigentum sein.«
So kam Jung-Parzival vor die Stadt Nantes ins Reich des Königs Artus.
Vor der Stadt begegnete ihm ein Ritter, dem er freundlichen Gruß bot. Die Antwort war gleicherweise freundlich: »Gott lohn es Euch, Junkerlein!« Parzival hielt seinen Klepper an und betrachtete verwundert den riesigen Mann. Rot war seine Rüstung und rot sein Roß; auch der Kopfschmuck des Pferdes und die samtene Satteldecke waren von glänzendem Purpur und der Schild rot wie Feuer.
Es war Ither von Gahawieß, den man den roten Ritter nannte, König Artus' Vetter. In seiner Faust hielt er einen goldenen Becher, den er von des Königs Tafel genommen hatte.
Mit Wohlgefallen blickte er auf den schönen Jüngling. »Wollt Ihr in die Stadt dort«, sagte er, »so tut mir den Gefallen, dem König und seinen Mannen eine Botschaft von mir zu überbringen. Ich lebe mit ihm im Streit um mein Erbland.«
Parzival willigte gern ein.
»So sagt dem König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde, der rote Ither habe nicht im Sinne, von seinem angestammten Rechte zu lassen. Meldet ihm, daß ich zum Zeichen meiner Besitzrechte den goldenen Becher von der Tafel an mich nahm und daß ich gewillt bin, für meine Rechte mit dem Schwerte einzustehen!«
Parzival versprach, die Botschaft treulich zu überbringen.
Er trabte wohlgemut in die Stadt hinein. Doch sein wunderlicher Aufzug erregte überall Aufsehen; man begleitete ihn mit lauten Spottrufen, daß er sich nur mit Mühe seinen Weg bahnte. »Komm, Junker, ich helfe Euch«, stellte sich ihm da freundlich ein Jüngling zur Seite; es war Iwein, ein Knappe von Artus, Hofe, der sich seiner hilfreich annahm und ihn zum Königsschloß geleitete.
Bei dem Anblick der vielen reichgeschmückten Ritter rief Parzival ganz verwundert: »So viele Artusse sehe ich hier! Welcher von ihnen ist denn nun der richtige, der mich zum Ritter schlagen wird?« Die Ritter alle lachten über seine Einfalt. Man führte den Jüngling in den Palast, wo die edle Hofgesellschaft, König Artus' berühmte Tafelrunde, versammelt saß.
In die frohe Festesstimmung hinein rief Parzival unbekümmert seinen Gruß: »Gott schütze Euch, Ihr edlen Ritter, und besonders Euch, Herr König, mit Eurer hohen Gemahlin!« Und wie immer setzte er treuherzig hinzu: »So hat es mich meine Mutter gelehrt.«
König Artus blickte den jungen Menschen, der gekleidet war wie ein Gaukelspieler und gewappnet wie ein Strauchdieb, verwundert an. »Ich überbringe eine Botschaft«, rief Parzival: »Ein roter Ritter, Ither mit Namen, läßt dem König Artus seinen Gruß entbieten und ihm vermelden, er warte draußen vor dem Stadttor mit einem goldenen Becher auf den, der ihm sein Erbrecht streitig zu machen bereit sei.«
Das Lächeln, mit dem die Ritterrunde Parzivals Begrüßungsworte aufgenommen hatte, war ihr schnell vergangen. »Mir scheint wohl« setzte der Junge ruhig hinzu, »er will mit einem von Euch kämpfen. Wie gerne gewänne ich selber die prächtige Rüstung dieses edlen Ritters.«
Nur unwillig gab der König seine Zustimmung, daß Parzival selber den Kampf mit dem kühnen Herausforderer übernähme. Bekümmert blickte er den Jungen an: »Die Rüstung, die Ihr begehrt, trägt der tapferste Ritter. Ach, wüßtet Ihr, wie sehr sogar ich selber meinen ungestümen Neffen fürchten muß!«
Doch Parzival war zum Kampf entschlossen. Mit dem Sieg erstrebte der unerfahrene Knabe den Besitz der Ritterrüstung und den Ritterschlag aus der Hand des Königs Artus.
Alle Ritter der Tafelrunde waren voller Spannung über den Ausgang des Kampfes. Auch die Königin mit ihrem Gefolge begab sich ans Fenster, um das Schauspiel zu erleben. Unter den Damen saß die stolze, schöne Frau Kunneware, des Herzogs Orilus Schwester; sie hatte ein Gelübde getan, nie zu lachen, bis sie den Mann erblickte, dem es bestimmt sei, den höchsten Heldenruhm zu erwerben. Als sie den kühnen Junker in dem narrenhaften Gewand vorüberreiten sah, da lachte sie plötzlich hell auf.
Das verdroß Herrn Keye, den Oberhofmeister, so sehr, daß er sie zornig bei ihren langen Flechten packte und ihr mit seinem Stab derb über den Rücken schlug. Erschrocken blickten alle auf den Rohling, der sich so hatte hinreißen lassen, die edle Fürstin zu schlagen.
Der junge Parzival war Zeuge der Schmach, die der Dame um seinetwillen widerfuhr. Der Wurfspieß zuckte ihm in der Hand, für die Übeltat sogleich Rache zu üben. Aber um der Königin willen verschob er die Vergeltung auf spätere Zeit.
Ungeduldig wartete Ither indessen vor dem Tore auf den Helden, der ihm sein Recht streitig machen wollte. Wie staunte er, als Parzival auf seinem elenden Klepper ihm entgegenritt!
Der rote Ritter fand natürlich nur Spottworte für Parzivals kecke Herausforderung. Parzival ließ sich nicht abweisen und bestand auf seinem kühnen Anspruch. Er verlangte Rüstung, Waffen und Pferd des roten Ritters. Als er kühn Herrn Ithers edles Roß beim Zügel packte, stieß dieser zornig den Jungen mit umgekehrtem Lanzenschaft vom Gaule, daß er rücklings ins Gras fiel. Aber schon stand Parzival auf den Füßen, schleuderte seinen Wurfspieß und traf in des Ritters Eisenhelm so geschickt die Spaltöffnung im Visier, daß die Waffe tief ins Haupt eindrang. Ither sank tot zu Boden.
Mit dem jungen Sieger waren alle Zuschauer überrascht über den schnellen Sieg. Ein Knappe half Parzival, den Besiegten zu entwaffnen.
Schnell zog er die prächtige Rüstung des Besiegten über sein sackleinenes Narrengewand, legte die Beinschienen an und schnallte die Sporen fest.
Behende schwang sich der Junge auf das edle kastilische Roß seines toten Gegners. »Wie prächtig Ihr erscheint in Eurer Rüstung und auf dem edlen Streitroß, Junker«, rief der Helfer entzückt; »nie sah ich ein so schönes Bild eines Ritters!«
So wurde Parzival zum Ritter. Frohgemut ritt er in die Welt hinaus. Es drängte ihn, neue Abenteuer zu erleben.
Gegen Abend sah der Reiter von ferne die Zinnen einer Burg im Sonnenglanz leuchten. Der Burgherr selber, der Ritter Gurnemanz, saß im Schatten einer Linde auf grünem Anger davor und blickte dem Ankömmling entgegen. Er war im Lande wegen seiner Lebenserfahrung und Altersweisheit und wegen seiner ritterlichen Tugenden geachtet und geehrt.
Parzival grüßte ihn nicht nach Ritterart. »So hieß mich meine Mutter tun«, sagte er dabei, und er setzte hinzu: »Und sie gebot mir, ein greises Haupt zu achten und die weisen Lehren des Alters anzunehmen. So bitte ich Euch um Euren Rat; ich werde ihm gerne gehorchen.«
»Ich will Euch zu Willen sein«, erwiderte der Alte freundlich, »sofern Ihr meinen Worten folgen wollt.« Damit nahm er seinem Sperber, den er auf der Faust trug, die Kappe von den Augen und warf ihn empor; hell klang die goldene Schelle, als das Tier sich durch die Luft schwang und als Bote zur Burg hinüberflog. Dort standen Ritter zu Parzivals Empfang bereit und nötigten ihn, vom Pferde zu steigen.
Aber der einfältige Parzival, dem ritterliche Art ganz fremd war, wollte davon nichts wissen. »Seit König Artus mich zum Ritter machte, muß ich zu Pferde sein und darf nicht absteigen.« Erst mit freundlicher Nötigung brachten sie den reisemüden Gast dazu, aus dem Sattel zu steigen und in die Kemenate zu treten. Wie staunten sie, als sie unter dem schweren Panzer die Narrenkleider und die groben Bauernstiefel erblickten!
Mit freundlicher Nachsicht redete Gurnemanz dem unerfahrenen Jüngling dann zu. Parzival, der einfältige Tölpel, der bisher jedes Gebot seiner Mutter in treuherziger Wörtlichkeit aufgefaßt hatte, lernte in den Tagen, da er bei Gurnemanz zu Gaste war, feine Ritterart und gottgefälliges Leben, das den Menschen zum Seelenheil führt.
»Die Art, wie Ihr von Eurer Mutter redet«, belehrte ihn der Alte, »erhöht nicht Eure Ritterehre. Bewahrt Euch edle Scham! Das ist mein zweites Gebot an Euch. Schamlosigkeit führt den graden Weg zur Hölle. Nach Art und Haltung taugt Ihr wohl zum Ritter. Vergeßt dabei aber nicht das Hauptgebot ritterlicher Pflicht: Habt Erbarmen mit den Bedrängten! – Auch Milde und Güte zu erweisen ist Ritterpflicht! – Bewahrt Euch stets ein demütiges Herz und helft dem schuldlos Verarmten! – Der weise Mann versteht den rechten Mittelweg einzuhalten zwischen Geiz und Verschwendung!«
Parzival hörte schweigend zu. Wohl erkannte er, daß des Alten Worte aus weiser Erfahrung und aus mitfühlendem Herzen gesprochen wurden, und er war ehrlich bestrebt, die Lehren anzunehmen.
»Ich habe bemerkt, daß Ihr Belehrung braucht«, fuhr der Alte fort. »So hört mich weiter: Ich rate Euch, laßt das unziemliche Daherreden und haltet Eure Gedanken in Zucht.
Fragt nicht zuviel! Und wenn man an Euch Fragen richtet, so antwortet bedächtig und überleget wohl! Im ritterlichen Kampfe sollt Ihr tapfer streiten – und großmütig verzeihen. Dem Gegner, der sich ergibt, gewähret ritterlich Schonung. Und achtet auf alles, was höfische Sitten, Zucht und Anstand gebieten; vergeßt nicht, Euer Äußeres nach ritterlichen Formen zu pflegen, so wie wir es den Frauen schuldig sind! – Ja, ehret und liebet die Frauen! Die edle Minne hütet sich vor allem Falsch; nur sie erhöht und erhebt des Menschen Leben.«
Parzival dankte dem weisen Alten für seine tiefen Lehren und nahm sich alle ernstlich zu Herzen. Mit großer Freude folgte er nun Gurnemanz, Unterweisung im ritterlichen Zweikampf; der Alte erwies sich als ein trefflicher Lehrer in der kunstgerechten Führung der Waffen. Unermüdlich nahm er den Gast mit auf den Turnierplatz und ließ ihn sich mit seinen Leuten fleißig üben.
Im Tjost, dem ritterlichen Zweikampf, mit Herrn Gurnemanz, Rittern durfte Parzival beweisen, wie schnell er die Unterweisung angenommen hatte. Fünf Ritter, die gegen ihn anritten, hob er so leicht aus dem Sattel, daß jeder seine Gelehrigkeit anerkennen mußte und Gurnemanz ihm alles Lob zollte.
Aber bald trieb es ihn zu neuen Abenteuern hinaus in die Welt. Gurnemanz hörte mit großer Betrübnis seine Bitte, Abschied nehmen zu dürfen.
Mit Tränen in den Augen reichte er dem liebgewordenen Freunde die Hand und sah ihn bekümmert von dannen reiten.
Gedankenverloren ritt Parzival seinen Weg. Er fühlte, wie sein Herz von Gefühlen zerrissen war, für die er nicht Namen noch Inhalt wußte. War es, weil er sein kindliches Gemüt abgelegt hatte?
In solcher Stimmung ließ er dem Pferd die Zügel und achtete nicht, wohin es ihn durch die pfadlose Einsamkeit führte.
Über Berg und Tal ging es, durch unwegsame Gebirgsketten und waldige Einöde, bis ein reißender Fluß den Weg hemmte. Der Abend legte sich schon mit feinem Schleier über die Landschaft, und Parzival folgte dem Laufe des Flusses, bis er im Scheine des Abendrotes am anderen Flußufer eine vieltürmige Stadt auftauchen sah. Es war Belrapeire, die Stadt der Königin Kondwiramur.
Über den Fluß führte eine Brücke aus leichtem Flechtwerk, und sechzig Ritter mit aufgebundenen Helmen sicherten sie und wollten dem Fremden den Übergang wehren, denn sie glaubten, er stehe im Bündnis mit Klamide, der die Stadt ihrer Herrin belagerte.
Größte Not herrschte unter den Belagerten. Welches Bild des Jammers bot sich dem Fremden, als er durch die Straßen ritt! Überall erblickte er gewappnete Ritter, aber welches Bild des Jammers boten all die Männer, die zur Verteidigung ihrer Stadt angetreten waren! Schlaff und kraftlos schlichen die Bürger unter der Last ihrer Waffen daher, und die Ritter, die dem Ankömmling entgegentraten, waren bleich und abgezehrt.
Ja, in der Stadt herrschte Hungersnot, denn alle Zufuhr war ihr durch das feindliche Belagerungsheer abgeschnitten.
Neue Hoffnung erfüllte die armen Stadtbewohner, als sie den kraftstrotzenden Recken begrüßten, der freiwillig in den Dienst ihrer bedrängten Stadt trat. Parzival ließ sich zum Schlosse führen, wo ihn die jungfräuliche Königin Kondwiramur empfing. Aber welches Gefühl ergriff ihn, als er die herrliche Erscheinung sah! Nie zuvor, so meinte er, hatten seine Augen so viel Frauenschönheit erblickt. Lichter Glanz, so schien es ihm, ging von ihr aus. Von zwei Herzögen ihres Landes geleitet, trat sie dem jungen Ritter entgegen, küßte ihn in züchtigem Anstand auf die Stirn und führte ihn in den Saal. War es die Ritterlehre des greisen Gurnemanz, die ihn schweigen ließ, oder nahm ihm Kondwiramurs Schönheit jede Sprache, Parzival redete kein Wort. »Ob ich ihm wohl mißfalle, weil ich so verhungert aussehe?« dachte die Königin befangen.
Schließlich brach sie das Schweigen, das lastend werden wollte: »Edler Ritter, als Hausherrin habe ich Euch den Willkommensgruß gegeben. So will ich als Herrin der Stadt auch das erste Wort sprechen. Wie mir eine meiner Frauen berichtet, habt Ihr mir Euren Beistand verheißen. Solches Angebot wurde mir in meiner bedrängten Lage noch niemals gemacht. So sagt mir, wer Ihr seid und von wo Ihr kommt!«
Parzival nannte seinen Namen und berichtete von seinen Erlebnissen: ,»Heute morgen, Frau Königin, ritt ich von der Burg des edlen Gurnemanz fort, wo ich mehrere Tage als Gast geweilt habe.« Mit Staunen hörte Frau Kondwiramur seine Worte: »Einen anderen, edler Ritter, würde ich für solche Worte der Lüge zeihen; denn ein jeder meiner Boten, und ritt er auch das schnellste Roß, benötigt für diese Wegstrecke wenigstens zwei volle Tage! Doch sagt, wie geht es meinem lieben Oheim? Ihr müßt nämlich wissen, daß meine Mutter Herrn Gurnemanz, Schwester war. Seid Ihr mit ihm Freund, so sollt Ihr auch mir hoch willkommen sein.« Parzival dankte ritterlich für die Aufnahme. Aber zum Nachtmahl wollte er sich nicht einladen lassen. »Der geringen Reste, die Ihr noch besitzt, will ich Euch nicht berauben, Frau Königin«, sagte er. »Verteilt es lieber an die armen Leute, die vor Hunger umkommen. Für uns beide wird eine Scheibe Brot genügen.«
Dankbar folgte die Königin seiner Weisung. Hoffnungsfroh, daß seine Ankunft das Schicksal ihrer bedrängten Stadt wenden würde, teilte sie mit ihm ihren letzten Bissen Brot und ließ ihm sodann im Fremdengemach ein prächtiges Bett herrichten.
Schnell war der müde Gast eingeschlafen.
Kondwiramur lag auf ihrem Ruhebett und blickte mit starren Augen in die schwarze Dunkelheit. Die Sorge um ihre Stadt lastete ihr schwer auf der Seele und ließ sie keine Nachtruhe finden. Würde sich die neuerwachte Hoffnung erfüllen, daß Parzival den Belagerern Trotz bieten könnte?
Gegen Mitternacht hielt es sie nicht länger auf dem Lager, über ihr seidenes Nachtgewand zog sie einen samtenen Mantel, schritt leise an ihren schlafenden Kammerfrauen vorbei auf Parzivals Kemenate zu und öffnete behutsam die Türe. Ihr Fuß stockte in jungfräulicher Scham, aber dann ging sie entschlossen auf Parzivals Ruhebett zu und kniete schweigend vor ihm nieder.
Parzival fuhr erschrocken auf. »Kommt, setzt Euch zu mir!« sagte er dann und hob sie auf.
Da nahm sie voll Befangenheit an seiner Seite Platz und berichtete von ihrer bedrängten Lage. Sie wurde nach dem Tode ihres Vaters vom König Klamide zur Frau begehrt, und weil sie sich weigerte, belagerte er nun ihre Stadt und hatte viele ihrer kühnen Ritter erschlagen.
»Ach«, rief sie voller Verzweiflung, »welche Hoffnung gibt es noch für mich Arme!«
Parzival hatte schweigend der Klage zugehört. Aber sein Herz war voll Mitleid, der schönen Königin zu helfen. »Sagt, edle Herrin«, rief er entschlossen, »was ich Euch zum Trost und zur Rettung tun kann! Und seid versichert, in mir einen treuen Helfer zu finden!«
Unter Tränen gab Kondwiramur ihm Antwort: »Wenn Ihr mich erlösen wolltet von dem schrecklichen Kingrun, Herrn Klamides Seneschall. Morgen kommt er wieder vor meine Burg und meint, mich endlich in die Arme seines Herrn zu zwingen.«
Parzival war ganz gefangen vom Liebreiz der Königin. »Vieledle Herrin«, versetzte er schlicht, »seid versichert, daß Ihr in mir einen Helfer habt gegen jeden Eurer Feinde!«
»Welch Trost sind mir Eure Worte«, rief sie beglückt; »habt innigen Dank, Herr Ritter!« Dann schlich sie leise in ihr Schlafgemach zurück. Niemand hatte den nächtlichen Besuch bemerkt.
Parzival aber konnte nicht wieder einschlafen; zu sehr bewegten ihn die Worte der schönen Königin.
In aller Frühe verlangte Parzival nach seinem Harnisch und ließ sich wappnen. Schon zeigte sich der grimme Kingrun vor dem Tore. Weit ritt er Klamides Heere, das mit vielen Streitbannern drohend heranrückte, voraus. Ohne Zaudern sprengte Parzival dem furchtbaren Gegner entgegen.
So wuchtig war der Anprall, daß die Pferde mit geborstenen Gurten und Bauchriemen zu Boden sanken. Behende aber sprangen die Ritter aus dem Sattel, zogen das Schwert und setzten den Kampf zu Fuß fort.
Es war Parzivals erster Schwertkampf. Doch er zeigte, was er bei Ritter Gurnemanz gelernt hatte. Seine Schwerthiebe trafen den Seneschall so wuchtig wie Würfe einer mächtigen Steinschleuder. Parzival bezwang ihn nach bitterem Kampfe und setzte ihm den Fuß auf die Brust, doch Herr Kingrun bat um sein Leben. »Ich biete Euch als Sühne, was Ihr verlangt«, rief er, und Parzival, der nicht nach Rache strebte, gewährte sie ihm. Er gebot ihm, an König Artus, Hof zur Jungfrau Kunneware zu gehen, die einst um Parzivals willen von dem Seneschall Keye so gröblich beleidigt war. »Sagt der edlen Jungfrau«, fügte er hinzu, »sie werde mich nimmer froh sehen, bis ich jene üble Tat gerächt und dort einen Schild durchbohrt habe!«
König Klamides Ritterheer ließ nach diesem Siege über den stärksten Streiter sogleich von weiteren Angriffen ab. Bejubelt von den Bürgern der Stadt, kehrte Parzival zurück. Alle riefen laut, der Heldenjüngling solle die Hand der jungen Königin erwerben und Krone und Reich in seine männliche Gewalt nehmen.
Freudig begrüßte ihn auch Kondwiramur, umarmte ihn vor allen Leuten und half ihm selber, Waffen und Harnisch abzulegen. »Nie auf Erden will ich eines anderen Weib werden als dessen, den ich hier umarmt habe«, sagte sie mit glückseligem Lächeln.
Da zeigten sich zwei braune Segel auf dem Meere, und schnell trieb der Wind zwei mächtige Kauffahrteischiffe in den Hafen; der Sturm hatte sie dorthin verschlagen. Zwei Schiffe, voll beladen mit Lebensmitteln! Gott selber machte es in seiner Weisheit so gefügt haben.
Parzival bot den Kaufleuten doppelten Preis für die Habe und sorgte für gerechte Verteilung an die hungernde Bevölkerung. Er selber überwachte fürsorglich, daß jeder zu seinem Recht kam. Unter inniger Anteilnahme der ganzen Stadt wurde sodann die Hochzeit des jungen Paares gefeiert.
Parzival war jetzt Ehegatte der schönen Kondwiramur und König von Belrapeire.
Der grimme König Klamide wollte die Unglücksbotschaften nicht glauben, die ihm von Kingruns Besiegung berichteten. Er war tief bedrückt über die Mutlosigkeit seines Heeres und wagte keinen neuen Angriff.
Parzival ließ die Tore zu einem Ausfall öffnen und stritt allen tapfer voran. Bald gelang es ihm, den König selber, der seiner jungen Gemahlin soviel Leid zugefügt hatte, zum Zweikampf zu stellen. Der Sieg in diesem Streit der beiden Könige, so wurde nach Ritterart vereinbart, sollte über den Ausgang des ganzen Krieges entscheiden.
Auch hier erwies sich Parzival als der Überlegene. Klamide hatte nicht die Ausdauer des starken Parzivals. Schließlich traf ihn ein so mächtiger Schwertstreich, daß er zu Boden stürzte und Parzival ihm den Helm vom Kopfe riß. Der Besiegte erwartete den Todesstreich.
Doch Parzival schonte in seinem Edelmut auch diesen Besiegten. Er gab auch ihm auf, an König Artus, Hof zu ziehen und sich der Jungfrau Kunneware als besiegt zu stellen. »Und sagt dem Seneschall Keye«, fügte er hinzu,»daß meine Rache nicht auf sich warten lassen wird.«
So war das Land von der lastenden Belagerung befreit.
Die beiden Besiegten ritten nach Parzivals Gebot an den Artushof in die Bretagne und richteten der Jungfrau Kunneware getreulich den Sühnebefehl ihres Besiegers aus. Wie staunte man dort über Parzivals Waffenerfolge!
Der junge König wußte die Krone mit Würde und in Ehren zu tragen. In kurzer Frist blühte das Land unter seiner weisen und kraftvollen Regierung wieder auf. Mit seiner schönen Gemahlin lebte Parzival in der glücklichsten Ehe. Kondwiramur hing mit inniger Liebe und Bewunderung an ihm.
Doch für Parzival konnte die heitere Ruhe nicht von Dauer sein. Es drängte ihn hinaus auf Abenteuer. Traurig ließ Kondwiramur den geliebten Gatten ziehen.
Auf der Gralsburg
Wieder überließ er dem Pferde den Zügel und ließ sich durch Wildnis und pfadloses Moor tragen. Als der Abend herabdunkelte, kam er an einen See. Dort ankerten Männer in Ufernähe, die auf Fischfang ausgingen und Wasservögel jagten. Parzival rief sie freundlich an. Es war einer unter ihnen, der hob sich durch seine Kleidung auffällig heraus. Er trug eine Pfauenfeder am Hute und auf dem Jagdrock prächtigen Pelzbesatz. Ihn fragte der fahrende Ritter, wo er für die Nacht wohl Herberge finden könne. Mit tiefer Traurigkeit gab der Gefragte Antwort: »Soviel mir bekannt ist, Herr, gibt es in dreißig Meilen rundum keine andere menschliche Behausung als eine feste Burg. Sie liegt dort hinter jenem Felsvorsprung. Wenn Ihr vom Burggraben aus um Einlaß bittet, so wird man Euch die Zugbrücke herablassen.«
Der Sprecher war der Burgherr selber.
Parzival folgte der Weisung und wurde gastfrei aufgenommen. Man bereitete ihm ein Bad und reichte ihm weiche Hauskleidung aus Seide. Als dann gemeldet wurde, der Burgherr sei zurückgekehrt, bat man den Gast zum Mahle.
Der Rittersaal erstrahlte in blendender Helle der Kronleuchter und der Kerzen. An den Wänden standen hundert Ruhepolster, die Platz für je vier Ritter boten. In drei marmornen Feuerstätten mitten im Saal strahlte wohlriechendes Holz einen milden Schein aus. Dort hatte sich der Burgherr auf seinem Ruhebett niedergelassen. Er begrüßte den Gast freundlich.
Welch ein Gegensatz war zwischen den beiden! Der kranke Ritter, obwohl in kostbare, pelzbesetzte Gewänder gehüllt, schien noch siecher, sein Antlitz noch gramvoller, als Parzival es am See bemerkt hatte. Und vor ihm stand der strahlende Recke in aller Fülle seiner Jugendkraft und Mannesschönheit, daß alle Ritter voller Bewunderung auf ihn blickten.
Auf einmal öffnete sich eine Tür, und ein Knappe trat ein. In der Hand trug er einen Speer, an dessen Schaft Blut herabtroff. Lautes Wehklagen erscholl nun durch den weiten Saal, als der Knappe mit der blutbedeckten Waffe an allen Rittern vorbeischritt; in tiefer Trauer hielten sie das Haupt gesenkt, bis er den Saal wieder verlassen hatte.
Parzival stand voll Staunen und blickte stumm auf die feierliche Handlung.
Da öffnete sich auf der anderen Seite des Saales eine stählerne Tür, und vier liebliche Jungfrauen, goldene Leuchter in den Händen, kamen herein. Schweigend setzten sie zwei Bänklein von Elfenbein vor dem Burgherrn nieder.
Es folgten vier Frauenpaare, köstlich in grünen Samt gekleidet. Sie trugen Kerzen und legten eine Tischplatte aus funkelndem Granat auf die elfenbeinenen Bänkchen vor den Burgherrn. Schweigend rückten die Jungfrauen dem Siechen den Tisch zurecht, verneigten sich tief und traten zurück.
Wieder öffnete sich die Stahltür: sechs schöne Jungfrauen, silbernes Tafelgeschirr in den Händen, richteten sorgsam den Tisch.
Parzival blickte in wachsendem Staunen auf das wundersame Bild; aber auch er brach mit keinem Worte das feierliche Schweigen, das über dem weiten Saale lag.
Abermals traten sechs Jungfrauen in kostbaren, golddurchwirkten Gewändern hervor. Sie waren das Ehrengeleit für die Königin.
Denn nun erschien die schönste der Schönen. Ihr Antlitz erstrahlte in Schönheit wie die Morgensonne im ersten Frühlicht. Auf grünseidenem Kissen trug sie eine Schale aus wundersam funkelndem Edelstein. Das war der Heilige Gral, der Wunderhort aller Christenheit.
Die Trägerin dieses Heiligtums war des Burgherrn Schwester, Repanse de Schoye; denn des Grals Wunderwesen gebietet, daß nur eine reine Hand ihn berührt. Es ist das heilige Gefäß, aus dem einst Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern trank und in dem Joseph von Arimathia das Blut des gekreuzigten Heilands auffing, als die rohen Kriegsknechte ihm die Seite öffneten.
Die edle Jungfrau verneigte sich züchtig vor dem königlichen Bruder, setzte das heilige Gefäß vor ihn hin und zog sich mit ihren kerzentragenden Jungfrauen zu den übrigen zurück, die sich je zwölf und zwölf ihr zur Seite reihten.
Nun rüstete man sich zur festlichen Bewirtung der vierhundert Ritter. Knappen trugen hundert Tische herbei, deckten sie mit weißem Linnen und setzten sie vor die Ruhepolster.
Für jeden der Tische standen vier Knappen zur Bedienung bereit. Goldene Gefäße und kostbares Tafelgeschirr wurden auf zierlichen Wagen herbeigeführt. Und jetzt geschah das Wunder: Was jeder der ritterlichen Gäste sich wünschte an Speisen erlesenster Art, das spendete der Heilige Gral, und das wurde nun von den bedienenden Knappen eilfertig herbeigetragen. Und was sie auch zu trinken begehrten, das floß in den ausgestreckten Becher, alles von der Wunderkraft des Grals.
Die edlen Ritter waren beim Heiligen Gral zu Gaste.
Wie staunte Parzival über all diese Wunder! Aber eingedenk der Ritterlehre des edlen Gurnemanz unterließ er jede Frage.
Da brachte ein Knappe auf einen Wink des Burgherrn ein Schwert herbei. Griff und Klinge waren Wunder an kostbarer Arbeit. »Nehmt diese Waffe als mein Gastgeschenk«, sagte er zu Parzival; »tragt sie in Ehren, die mir in so manchem Streite zur Seite stand, ehe die tückische Krankheit mich schlug.«
Parzival nahm das Schwert entgegen. Daß er nicht den tieferen Sinn der feierlichen Umgebung erkannte! Er ahnte nicht, der junge Tor, daß es in seiner Hand lag, den Gastgeber von aller Last zu befreien! An Parzival lag es, das rechte Wort auszusprechen.
Aber auch jetzt sprach er kein Wort; kein Wort des Dankes oder des Mitleids oder eine Frage nach der Ursache des Leidens kam über seine Lippen.
Da gab der Kranke das Zeichen, das Mahl zu beenden. Eilfertig trugen die Knappen die Tafelgeräte hinaus, und in feierlichem Zuge führte die schöne Königin, geleitet von ihren Ehrenjungfrauen, den Heiligen Gral aus dem Saale.
Parzival schaute dem Kleinod schweigend nach. Da sah er durch die geöffnete Tür einen Greis auf dem Ruhebette liegen; sein Haar war weiß wie kristallner Frühreif. Niemals, so schien es dem jungen Ritter, hatte er solch friedestrahlende Altersschönheit erblickt.
Aber auch jetzt stellte der Jüngling keine Frage.
Wer mochte der ehrwürdige Alte sein?
»Ihr werdet müde sein,« wandte sich der Burgherr nun wieder seinem Gaste zu. »Schlafgemach und Nachtlager sind Euch bereitet. So wünsche ich Euch eine gesegnete Nachtruhe!«
Parzival verneigte sich zum Danke züchtig nach Ritterart, aber immer noch blieb er in törichter Verblendung schweigsam. Man führte ihn in eine ganz prächtig hergerichtete Kemenate, in der ein prunkvolles Bett für ihn bereitstand. Ritter, Knappen und edle Jungfrauen wetteiferten darin, ihm zu Diensten zu sein.
Aber die ersehnte Ruhe wollte nicht bei ihm einkehren. Wirre Träume schreckten ihn, Schwertschläge prasselten auf sein Bett, und Ritterscharen sprengten in wildem Turnier über ihn dahin.
Schweißgebadet wachte er auf. Der junge Tag schien schon freundlich zu ihm herein, doch keiner der aufmerksamen Diener zeigte sich. Erschrocken fuhr er auf, blickte sich voll Verwirrung im Raume um und rief nach den Knappen.
Doch niemand war zu seinem Dienste bereit.
Auf dem Teppich vor seinem Bette lag neben seinem Schwerte das Gastgeschenk des Burgherrn, daneben seine Rüstung.
In aller Eile wappnete er sich, band beide Schwerter um und trat auf den Hof. An der Treppe fand er sein Roß; daneben lehnten Schild und Speer.
Doch vergeblich blickte er sich nach den Bewohnern der Burg um; niemand zeigte sich. Auf dem Hofe fand er Erde und Gras von Pferdehufen zertreten.
Das Burgtor stand weit offen, und Spuren vieler Hufe wiesen hinaus. Entschlossen folgte er den Spuren zum Tore hinaus. Kaum aber hatte er die Zugbrücke verlassen, da wurde sie hinter ihm in die Höhe gezogen, und ein Knappe, der sich vorher verborgen gehalten hatte, rief ihm höhnisch nach: »Tölpel wie Euch erlebt man nicht alle Tage! Nach Ritterruhm scheint Euch nicht zu verlangen! Hättet Ihr Euren Mund nur einmal gerührt, um den Herrn zu fragen! Nun habt Ihr alle Ritterehre verspielt!«
Parzival blickte sich bei dieser unerwarteten Beschimpfung ganz erstaunt um und verlangte nach einer Erklärung. Aber der Knappe würdigte ihn keiner Antwort.
In tiefen Gedanken war er den Spuren der Ritter nachgeritten. Aber bald verloren sie sich im dichten Walde.
Da hörte er ganz in der Nähe eine weinende Frauenstimme. Unter einer breitästigen Linde saß eine schöne Frau, in ihren Armen einen toten Ritter.
Jetzt erkannte Parzival die Jungfrau. Es war seine Base Sigune, die immer noch um den erschlagenen Ritter, ihren Verlobten, trauerte. Sie hatte den Leichnam einbalsamieren lassen und bot, die starre Gestalt des Geliebten im Arm, ein Bild des Grauens.
»Du bist Parzival, meiner Mutterschwester Sohn«, rief sie ihn an; »sage mir doch, was du in diesem Walde suchst!« Von Sigune erfuhr er das Geheimnis der Gralsburg. Sie ist an aller irdischen Vollkommenheit reich. Aber nicht jedem Sterblichen ist sie zugänglich. Wer sie mit Fleiß sucht, der wird niemals zum Ziele kommen. Wer aber unbewußt und ohne Absicht zu ihr gelangt, dem wird sie sich öffnen, und aller Erdensegen und alle irdische Glückseligkeit wird dem Finder zuteil.
Parzival hörte schweigend zu.
»Du wirst von dieser Burg nichts wissen, Parzival«, fuhr Sigune fort. »Munsalwäsche ist ihr Name. Dort regiert als Gralskönig der edle Amfortas, den Gott mit schwerer Krankheit geschlagen hat. Er kann nicht gehen noch reiten noch liegen noch stehen und muß immerfort in einem Sessel lehnen.
Wärest du dorthin gelangt«, fuhr Sigune fort, ,»zu Amfortas und seinen trauernden Rittern, so wäre der Burgherr von seinem Leid befreit worden – dir aber winkte höchster Ritterruhm und alle irdische Erfüllung im Leben!«
»Ich war auf der Burg und habe vielerlei Wunder geschaut«, entgegnete Parzival düster.
»Du warst auf der Burg! Sahst du den unglückseligen Amfortas?« Sigune war außer sich vor Erregung. »Oh, wenn du sein Leid gewandt hast, Gott wird deine Reise dann segnen! Denn alles, was die Himmelsluft berührt, steht als dann unter deiner Hoheit, und dir ist bestimmt, alle Macht in Fülle zu erwerben!
Wenn du ihn von seinem Siechtum befreit hast«, fuhr Sigune fort, »so bist du höchsten Ruhmes wert. Du trägst sein Schwert, so wirst du seinen Segen kennenlernen. Deiner Hand muß alles dienen, was du an Wundern dort auf der Burg erblicktest. Allzeit wirst du der Seligkeit Krone tragen.« Parzival sprach kein Wort.
»Hast du der Frage ihr Recht getan?« fuhr sie auf.
»Ich habe nicht gefragt.«
»O du Unseliger«, rief die Jungfrau voll Entsetzen und bedeckte mit den Händen die Augen. »Du sahst das heilige Wunder und hattest nicht den Mut zu fragen! Geh mir aus den Augen, den das Schicksal verstoßen hat! Der du kein Erbarmen mit der Not deines Gastgebers hattest! Für alle Zeiten hast du dein Lebensglück verscherzt!«
»Sigune«, bat er, »ich erkenne meine Verfehlung; ich glaubte, ritterliches Zuchtgebot zu befolgen, so wie Gurnemanz es mich gelehrt hatte, und nun bin ich so sehr schuldig geworden. So zeige mir doch, ich bitte dich, den Weg, wie ich büßen und bessern kann!«
»Es ist zu spät«, versetzte sie hart. »Auf Munsalwäsche schwand deine Ritterehre dahin. Fortan wirst du von mir kein Wort mehr hören.«
So schied Parzival von ihr.
Einsam setzte Parzival seinen Ritt fort. So sehr hatte ihn das Schicksal mit Schuld überhäuft, daß er den entscheidenden Augenblick seines Ritterlebens verspielt hatte! Hatte er schuldhaft gehandelt, als er durch sein Schweigen unwissend so große Gnade verscherzte?
Da erblickte er vor sich ein seltsames Paar, einen wohlgerüsteten Ritter, dem in demütigem Abstande eine junge Frau folgte. Aber wie jammernswert war ihr Aufzug! Auf elendem, halbverhungertem Klepper hockte sie. Lumpen bedeckten dürftig ihren schönen Leib.
Als Parzival sie mit ritterlichem Anstand grüßte, erkannte sie ihn sofort: »Wieviel Leid habe ich um Euretwillen erleiden müssen,« stieß sie hervor; »denn Ihr seid es, dem ich dieses armselige Schicksal verdanken muß.«
Es war die unglückliche Frau Jeschute, der Parzival einst in gedankenlosem Übermut Ring und Kuß geraubt hatte und die dafür von ihrem Gemahl, dem Herzog Orilus, so schimpflich behandelt wurde.
Parzival war sofort entschlossen, die Ehre der schönen Frau wiederherzustellen. Schon hatte er den Speer eingelegt und ritt gegen den Herzog an. Wortlos, ohne sich Fehde anzusagen, prallten die beiden Recken aufeinander.
Beide Ritter gaben ihr Bestes. Lanzensplitter stoben, und Funken sprühten unter machtvollen Schwerthieben. Aber der kampferfahrene Herzog war der Urkraft des jungen Ritters nicht gewachsen. Parzival stürzte ihn zu Boden, daß das Blut aus dem Visier sprang. Da mußte sich Orilus ergeben.
»Ich werde dein Leben schonen«, rief der junge Sieger, »wenn du mir in die Hand gelobst, dein Ehgemahl wieder in ritterlichen Ehren aufzunehmen und ihr alles zu verzeihen.«
Herzog Orilus versprach die geforderte Sühne und nahm seine so lange verstoßene Frau wieder in aller Liebe auf.
Begegnung mit den Artusrittern
Parzival irrte weiter in der unendlichen Waldeinsamkeit umher. Seine Gedanken rissen ihn in Selbstvorwürfen und Zweifeln hin und her. Würde es ihm nun gelingen, die Gralsburg wiederzufinden? Das wußte er aus Sigunes Worten: Kein Sterblicher kann den Weg dorthin aus eigener Kraft erzwingen. Nur wer sich ebenso tapfer wie glaubensstark bewährt, dem weist Gott den Weg.
Eines Morgens, als Parzival sich von dem harten Lager auf dem nackten Erdboden erhob, war ringsum alles verschneit. Da scheuchte ein Falke von König Artus' Rittern, die ganz in der Nähe ihr Zeltlager aufgeschlagen hatten, eine Schar Wildgänse auf. Eine von ihnen schlug er im Fluge unmittelbar über Parzival, daß drei Blutstropfen vor ihm in den Schnee fielen. Drei Tropfen Blut! Sinnend blickte der junge Recke auf das Bild: »Rot und weiß, wer ist es, an den mich diese Farben gemahnen?« Er starrte vor sich hin, und aus den drei Tropfen wurde Kondwiramurs Bild, das liebliche Antlitz seiner Gattin, weiß und rot so wie Milch und Blut.
Er verhielt auf seinem Rosse, die Umgebung versank ihm; mit erhobenem Speere stand er traumverloren da wie schlafend.
In der Nähe lagerte König Artus mit seinen Rittern; er wollte den kühnen Parzival, dessen Ruhm durch alle Lande erklang, für seine Tafelrunde gewinnen. Da kam einer seiner Knappen voller Erregung herbeigestürzt: er hatte einen Ritter zu Pferde angetroffen, der wie ein Standbild im Schnee verhielt. In kecker Streitlust zogen sogleich König Artus' Recken aus, um den Eindringling zu besiegen: Zuerst Segramor, der Neffe der Königin. Ohne die Wirklichkeit recht zu erfassen, schlug Parzival ihn aus dem Sattel. Ebenso erging es Herrn Keye, des Königs Seneschall; ohne es zu wissen, Iöste Parzival damit das Versprechen ein, das er einst Frau Kunneware gegeben hatte.
Erst als Ritter Gawan waffenlos anritt und über die drei Blutstropfen seinen Mantel warf, kehrte Parzival in die Wirklichkeit zurück.
Willig ließ der junge Recke sich in König Artus' Lager führen und in die Tafelrunde aufnehmen. Alle Tischgenossen boten ihm ritterliche Freundschaft an.
Doch da wurde die heitere Festesfreude pIötzlich durch eine grausig-seltsame Erscheinung aufgescheucht.
Auf gespenstigem Maultier, das hoch wie ein Streitroß war und klapperdürr, die Nüstern aufgeschlitzt und mit prunkvollem Zaumzeug, kam eine Jungfrau dahergesprengt. Eine Jungfrau, von welch erschreckendem Aussehen! Eine Nase hatte sie wie ein Hund, ihr Antlitz war struppig, und zwei Eberzähne ragten ihr wohl spannenlang aus dem Munde. Ohren hatte sie wie ein Bär, und unter ihrem Hut, der von golddurchwirkter Seide war, hing ein Zopf von Schweinsborsten bis auf den Rücken des Maultieres herab. Die Fingernägel waren wie die Krallen eines Löwen. Es war Kundrie, ein Bild weiblicher Häßlichkeit trotz der Pracht ihrer prunkvollen Gewänder. Aber sie war hoch gelehrt in aller Weisheit und kundig aller Sprachen – sie war die Fluchbotin des Grals!
»Weh über Euch, König Artus«, schrie sie den König gellend an. »Weh über Euch! Der Ruhm Eurer Tafelrunde ist geschändet durch den Unwürdigen, den Ihr in Eurer Mitte aufgenommen habt. Die Ehre Eurer Tafelrunde ist dahin!«
Die Tafelrunde erstarrte in Grauen. Ehe der König ein Wort erwidern konnte, wandte sie sich an Parzival. »Fluch über Euch, Fluch über Eure Jugendschönheit und Eure ritterliche Gestalt! Fluch über Euch!«
Unheimliches Schweigen lag über der Tafelrunde.
»Warum, so frage ich Euch, warum habt Ihr Amfortas, Seufzer und Klagen am See nicht beachtet, warum habt Ihr ihn nicht von seinen Leiden erlöst? Ihr sahet den Heiligen Gral und den blutigen Speer und habt dennoch keine Frage getan? Habt Ihr denn kein Erbarmen mit Amfortas, Not gehabt? Eine einzige Frage hätte all sein Elend wenden und Euch zu aller irdischen Glückseligkeit erheben können! Herzeleides Kind hat den Weg der Ehre verfehlt!«
Kundrie selbst aber hatte vor Erregung jede Fassung verloren. Sie warf Parzival einen haßerfüllten Blick zu und jagte ohne Abschiedsgruß davon. Parzival war bleich vor Schrecken. Sein Herz war zerrissen von Reue und Kummer.
»Durch Unwissenheit habe ich meine große Aufgabe verspielt«, sagte er; »nun bleibt mir nichts als die Pflicht, das Versäumte zu sühnen. Ich will nicht ruhen noch rasten, bis ich den Heiligen Gral gefunden und den unglücklichen Amfortas von seinen Qualen erlöst habe!«
Trauernd umringten die Ritter der Tafelrunde ihn zum Abschied, und Artus gelobte ihm ewige Freundschaft. Der edle Gawan, dem er sich in inniger Freundschaft verbunden fühlte, gab ihm eine Wegstrecke das Geleit. »Gott sei mit dir auf deinem Ritte«, wünschte er ihm.
»Weh, was ist Gott!« erwiderte Parzival mit Bitterkeit im Herzen. »Wäre er allmächtig, so hätte er mir wohl nicht solche Schande zugefügt. Nun aber bin ich entschlossen, ihm allen Dienst aufzusagen!«
Mit seinem Gotte verfallen, ritt er in die Welt hinaus.
Viele Jahre zog er als fahrender Ritter umher, ohne sein Ziel zu erreichen. In einer Einsiedlerklause traf er schließlich Sigune, seine Base, die dort – ein Bild des Erdenjammers um ihren erschlagenen Verlobten trauerte. Voll Betrübnis vernahm sie, daß Parzival vergeblich den Gral suche. Jeden Samstag, so erzählte sie ihm, erscheine Frau Kundrie, die Gralsbotin, bei ihr und versorge sie mit Nahrung.
Das gab dem jungen Ritter neue Hoffnung. Er folgte der Spur des Maultiers, doch bald verlor sie sich im Gesträuch.
So ging ihm abermals der Gral verloren.
An einem kalten Märzmorgen begegnete ihm in einem riesenhaften Walde ein seltsamer Zug. Barfuß und im Büßergewande kam ein graubärtiger Ritter daher, ihm zur Seite seine Gemahlin und zwei zarte Töchter in gleicher Kleidung; gesenkten Hauptes folgten Ritter und Knappen. Welchen Gegensatz bot der herrliche Recke in seiner strahlenden Rüstung zu dem bußfertigen Aufzug der Barfüßigen! »Ihr tut gar Unrecht, daß Ihr am heiligsten Tage des Jahres im Schmucke Eurer Waffen daherreitet«, redete der Alte ihn milde an.
Doch Parzival verstand nicht seinen Tadel. »Was kümmert mich des Jahres oder der Wochen Lauf, was die Namen der Tage? Es gab eine Zeit, da diente ich einem, der heißt Gott. Stets war ich beständig in diesem Dienst und wahrte ihm die Treue. Und er – er entgalt mir's mit Schmach und verhängte schmählichen Spott über mich!«
»Wenn Ihr Christus meint mit Euren Worten, Herr, so versündigt Ihr Euch gar schwer. Denn wisset, daß heute Karfreitag ist, der Tag, an dem unser Heiland für die sündige Menschheit den Kreuzestod erlitt. Achtet die Heiligkeit dieses Tages! Folget uns zur Behausung des frommen Trevrizent. Der kann Euch auf den rechten Weg zurückweisen.«
Aber Parzivals Herz war zu verstockt. Er war nicht bereit, dem Rate des Alten zu folgen. Unwillig riß er sein Roß herum und ließ ihm die Zügel. Aber wie staunte er, als er erkennen mußte, daß das edle Pferd eigenwillig den Weg suchte und ihn geradewegs vor Trevrizents Behausung führte.
Der würdige Greis nahm ihn freundlich auf und verwies ihn auf die Güte Gottes. »Ich habe stets gemeint, ihm in Treue zu dienen«, sagte Parzival dumpf; ,»aber meine Treue hat mich in tiefstes Leid gestoßen!«
»Denkt Ihr denn, man könne Gottes Liebe und Hilfe erzwingen?« rief Trevrizent. »Wißt Ihr nicht, daß der Herr nur dem sich huldvoll zuneigt, der ihm in Treue dient, ohne Zweifel und Anfechtung? Nur wer gläubig und reinen Herzens ist, wer frei von Hochmut und schwächlichem Zweifel, erscheint des Grals würdig.«
Trevrizent redete ihm tröstend zu: »Als erstes sage ich dir: Gott hat dich nicht verlassen. Vertraue ihm mit gläubigem Herzen, so wird er dich aus aller Bedrückung befreien!«
Noch lange saß er im vertrauten Gespräch mit dem Alten, und dessen väterliche Mahnungen wurden ihm wie eine langersehnte Belehrung aus allen Zweifelsgedanken und gaben ihm Trost und Frieden nach der langen Irrfahrt. Als die beiden voneinander schieden, ritt Parzival versöhnt mit seinem Gott und frei von allen Zweifelsqualen neuem Leben entgegen.
Parzivals Berufung
Mannigfache Abenteuer hatte der Held noch zu bestehen, bis ihn der Weg wieder an König Artus' Hof führte. Beim festlichen Mahle feierte man dort die Rückkehr des Helden.
Da geschah es wie einst: auf dem häßlichen Maultier kam die häßliche Jungfrau angesprengt: Kundrie, die Gralsbotin, stand plötzlich wieder vor den Rittern der Tafelrunde!
Doch sie brachte dem leidgeprüften Parzival nicht neuen Fluch, sondern eine herrliche Botschaft: die Zeit seiner Prüfung war vorbei – er war nun zum Gralskönig auserkoren!
Erst jetzt erfuhr Parzival, daß die liebliche Kondwiramur ihm Zwillinge geboren hatte. Sein Sohn Lohengrin würde einst sein Nachfolger als Hüter des Grals sein. In Kundries Begleitung zog Parzival nun zur Gralsburg. Welche Gefühle bestürmten den Auserkorenen, als er den Saal betrat, in dem er einst die entscheidende Wende seines Lebens erlebt hatte!
Im Nebenzimmer lag der sieche Amfortas auf seinem Schmerzenslager. Schreckliche Schmerzen hatte der Todkranke in der langen Zeit durchleiden müssen. Neue Hoffnung ergriff ihn, als er seinen Retter erblickte. »Wie lange habe ich voll Sehnsucht auf dein Kommen gewartet«, rief er dem Neffen mit frohem Willkommensgruß zu. »Hilf mir nun, meine Not zu beenden!«
Jungfrauen hatten die segenspendende Schale des Grals enthüllt. Da sprach Parzival ein Gebet, trat dann vor Amfortas und fragte ihn ruhig: »Sag mir, lieber Oheim, woher kommen deine quälenden Schmerzen? Sag mir, wie ich dir helfen kann!«
Das war die erlösende Frage.
Mit verklärtem Gesicht erhob der König sich von seinem Schmerzenslager und umarmte den Neffen. Nach dem heiligen Gebot überreichte er Krone und Herrschaft an den neuen Herrn.
Sogleich ging die Freudenbotschaft an die edle Kondwiramur. Parzival ritt ihr entgegen und traf sie mit den beiden Söhnen Kardeis und Lohengrin auf einer Aue – es war die Stelle, wo er einst traumverloren vor den drei Blutstropfen gestanden hatte. In überströmendem Glück begrüßte er die Geliebte Frau und die zwei Kinder.
So wundersam fügte es das Schicksal.
In ehrenvollem Geleit der Gralsritter zog der junge König mit seiner Gattin und seinem Sohne Lohengrin, dem Gralserben, dann zur Gralsburg hinauf, während Kardeis mit dem Gefolge der Königin in die Heimat zurückkehrte. Es war tiefe Nacht, als das Ehrengeleit auf der Burg eintraf. Doch man hatte Fackeln und Kerzen in solcher Menge anzünden lassen, daß es aus der Ferne schien, die Burg stehe in Flammen.
Im großen Festsaale der Burg saß man dann beim Mahle.
Aber nicht wie einst, da der blutige Speer durch den Saal getragen wurde, herrschte Klage und Trauerlaut; nein Freude lag über dem weiten Saale, seit man aller Sorge ledig war.
Wieder vollzog sich die feierliche Handlung: Die edlen Jungfrauen geleiteten in züchtigem Anstand die schöne Repanse de Schoye, die das Gralsheiligtum trug; die Kämmerer rüsteten die Tische zum Festmahle und zogen auf den Speisewägelchen die kostbaren Goldgefäße herein, die Knappen standen zur Aufwartung bereit.
Und wieder wie damals erwies der Heilige Gral seine Wunderkraft und spendete an kostbarsten Speisen und Getränken, was jeder begehrte.
An der Seite der schönen Kondwiramur aber führte Parzival als Gralskönig viele Jahre die Herrschaft in weiser Ritterschaft und frommer Demut.
Texte 2003 von Volker zugeschickt bekommen, vermutlich aus "Märchen und Sagen" - "Das Beste"
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