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Epiktet - Handbüchlein der stoischen MoralEpiktet (griechisch Ἐπίκτητος Epíktētos, lateinisch Epic'tetus, deutsch Epik'tet; * um 50 in Hierapolis in Phrygien; † um 138 in Nikopolis in Epirus) war ein antiker Philosoph. Er zählt zu den einflussreichsten Vertretern der späten Stoa. Als Sklave gelangte Epiktet nach Rom, wo er in Kontakt mit stoischen Lehren kam und auch selbst zu unterrichten begann. Aus Rom vertrieben begründete er in Nikopolis eine Philosophenschule, an der er bis zu seinem Tod lehrte. Da Epiktet selbst keine Werke verfasste, ist seine Philosophie nur in den Schriften seines Schülers Arrian überliefert, der seine Vorlesungen aufzeichnete. Seine Lehre behandelt vor allem ethische Fragen und stellt die praktische Umsetzung philosophischer Überlegungen in den Vordergrund. Im Zentrum seiner Ethik stehen die innere Freiheit und moralische Autonomie eines jeden Menschen. Epiktet trennt strikt zwischen Dingen und Zuständen, die sich außerhalb der menschlichen Macht befinden und daher als gegeben angenommen werden müssen, und solchen, die das Innerste des Menschen betreffen und daher ausschließlich Gegenstand seines Einflusses sind. Außerdem entwickelt Epiktet ein Konzept der sittlichen Persönlichkeit, die nach seiner Ansicht das Wesen des Menschen darstellt. Menschliches Handeln wird für ihn aber stets auch von Gott bestimmt und gelenkt, der in jedem einzelnen Menschen, der Welt und dem eine Einheit bildenden Kosmos direkt anwesend ist. Da dieser göttliche Kern allen Menschen gleichermaßen innewohnt, muss die Menschenliebe unterschiedslos allen gelten. Die Rezeptionsgeschichte der Lehre Epiktets ist vielschichtig. Nach einer ersten kurzen Blüte im 2. Jahrhundert geriet er während des Mittelalters im Westen weitgehend in Vergessenheit. Auf indirektem Weg – über späteres Schrifttum und christianisierte Umformungen der ältesten Überlieferung – beeinflussten Konzepte Epiktets jedoch christliche Autoren von der Spätantike bis in die Neuzeit maßgeblich, auch wenn diese Schriften nur noch in loser Verbindung mit dem Namen Epiktets standen. Die Aufzeichnungen seines Unterrichts wurden in der Renaissance erneut bekannt und wirkmächtig. https://de.wikipedia.org/wiki/Epiktet
Epiktet - Handbüchlein der stoischen Moral (Encheiridion) Unser Eigenthum. I, 1. Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. In unserer Gewalt sind: Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist. – Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Aemter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist. Vorzüge des Eigenthums. I, 2. Und die Dinge, welche in unserer Gewalt stehen, sind von Natur frei; sie können nicht verhindert, noch in Fesseln geschlagen werden. Die Dinge aber, welche nicht in unserer Gewalt stehen, sind schwach, und völlig abhängig; sie können verhindert und entfremdet werden. Verwirrung aus Verwechslung. I, 3. Wofern du nun Dinge, die von Natur völlig abhängig sind, für frei, und Fremdes für Eigenthum ansiehst, so vergiß nicht, daß du auf Hindernisse stoßen, in Trauer und Unruhe gerathen, und Götter und Menschen anklagen wirst. Wenn du aber nur, was wirklich dein ist, als dein Eigenthum betrachtest, das Fremde aber so, wie es ist, als Fremdes, so wird dir niemand je Zwang anthun, niemand wird dich hindern; du wirst keinen schelten, keinen anklagen, wirst nichts thun wider Willen, niemand wird dich kränken, du wirst keinen Feind haben, kurz: du wirst keinerlei Schaden leiden. Keine Halbheit! I, 4. Wenn du nun so Großes begehrst, so bedenke, daß du nicht mit halbem Eifer darnach greifen, sondern einiges völlig verleugnen, anderes für jetzt aufschieben mußt. Wofern du aber sowohl jenes begehrst, als auch herrschen und reich sein willst, so wirst du vielleicht nicht einmal dieses letztere erlangen, gerade weil du zugleich nach dem ersteren strebst. Gänzlich verfehlen aber wirst du dasjenige, woraus allein Freiheit und Glückseligkeit entspringt. Aeußere Dinge – was gehen sie dich an? I, 5. Bestrebe dich, jeder unangenehmen Vorstellung sofort zu begegnen mit den Worten: du bist nur eine Vorstellung, und durchaus nicht das, als was du erscheinst. Alsdann untersuche dieselbe, und prüfe sie nach den Regeln, welche du hast, und zwar zuerst und allermeist nach der, ob es etwas betrifft, was in unserer Gewalt ist, oder etwas, das nicht in unserer Gewalt ist; und wenn es etwas betrifft, das nicht in unserer Gewalt ist, so sprich nur jedesmal sogleich: Geht mich nichts an! Du hast dein Glück in der Hand. II, 1. Bedenke, daß die Begierde verheißt, wir werden erlangen, was wir begehren; der Widerwille aber verheißt, es werde uns nicht widerfahren, was er zu meiden sucht. Wer nun nicht erlangt, was er begehrt, ist unglücklich, und wem widerfährt, was er gerne vermeiden möchte, ist es doppelt. Wenn du aber bloß dasjenige zu meiden suchst, was der Natur der Dinge, die in deiner Gewalt sind, zuwider ist, so wird nichts von dem widerfahren, was du meiden willst. Willst du aber Krankheit meiden, oder Armuth, oder Tod, so wirst du unglücklich sein. Das Sicherste für den Anfang. II, 2. Hinweg also mit deinem Widerwillen von allem dem, was nicht in unsrer Gewalt ist, und trage ihn über auf das, was der Natur der Dinge, die in unsrer Gewalt sind, zuwider ist. Die Begierde aber entferne vorerst ganz. Denn wenn du etwas von dem begehrst, was nicht in unserer Gewalt ist, so mußt du nothwendiger Weise unglücklich sein. Von den Dingen aber, die in unserer Gewalt sind, und welche zu begehren rühmlich wäre, ist dir noch gar nichts bekannt. Nur Trieb und Abneigung laß walten; aber sachte, mit Auswahl und mit Zurückhaltung.
Gemüthsruhe. III. Bei Allem, was die Seele ergötzt, oder Nutzen schafft, oder dir lieb und werth ist, vergiß nicht, ausdrücklich zu erwägen, welcher Art es sei, und fange beim Geringsten an. Wenn du einen Topf liebst, denke: ich liebe einen Topf. Zerbricht er dann, so wird es dich nicht anfechten. Wenn du dein Kind oder Weib herzest, so sage dir, daß du einen Menschen herzest. Stirbt er, so wird es dich nicht anfechten. Wie man die Fassung behauptet. IV. Wenn du an ein Geschäft gehen willst, so erinnere dich beiläufig, wie das Geschäft beschaffen sei. – Wenn du zum Baden gehst, stelle dir vor, was im Bad zu geschehen pflegt, wie sie einander mit Wasser spritzen, einander stoßen, schimpfen und bestehlen. So wirst du mit größerer Sicherheit zu Werk gehen, indem du dabei alsbald zu dir selbst sprichst: Ich will jetzt baden, zugleich aber auch meinen der Natur gemäßen Grundsatz festhalten. Und so bei jedem Geschäfte. Auf diese Weise wirst du dann, wenn dir beim Baden etwas in den Weg kommt, sogleich den Trost bei der Hand haben: Ich wollte ja nicht dieses allein, sondern auch meinen naturgemäßen Grundsatz festhalten. Ich werde ihn aber nicht festhalten, wenn ich mich über das Vorgefallene ärgere. Der schrecklichste der Schrecken. V. Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. So ist z.B. der Tod nichts Schreckliches, sonst wäre er auch dem Sokrates so erschienen; sondern die Meinung von dem Tod, daß er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche. Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen. – Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Mißgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen andern, noch sich selbst anzuklagen. Thörichter Stolz. VI. Sei auf keinen fremden Vorzug stolz. Wenn das Pferd sich stolz erhebend spräche: wie schön bin ich! so könnte man sich das gefallen lassen. Wenn aber du selbst voll Stolz sprächest: welch ein schönes Pferd habe ich! so wisse, daß du auf die Vorzüge deines Pferdes stolz bist. Was ist nun aber dein? – Der Gebrauch deiner Vorstellungen! – Wenn du also von deinen Vorstellungen einen naturgemäßen Gebrauch machst, dann magst du stolz sein; denn alsdann bist du stolz auf einen Vorzug, der dir gehört. Zum Sterben fertig! VII. Wenn du auf einer Seereise, während das Schiff im Hafen liegt, ausgehst, um Wasser zu schöpfen, so hebst du wohl nebenbei auch ein Muschelchen oder Zwiebelchen am Wege auf; deine Gedanken aber mußt du auf das Schiff gerichtet haben, und fleißig zurückschauen, ob nicht etwa der Steuermann rufe; und wenn er ruft, so mußt du alle jene Dinge zurücklassen, damit du nicht gebunden hineingeworfen werdest, wie die Schafe. So ist's auch im Leben. Wenn dir statt Zwiebelchen und Muschelchen ein Weibchen oder Kindchen geschenkt wird, so wird nichts dagegen einzuwenden sein. Wenn aber der Steuermann ruft, so renne zum Schiff und laß alle jene Dinge zurück, ohne dich auch nur umzuschauen. Bist du aber ein Greis, so entferne dich nicht einmal weit vom Schiff, damit du nicht zurückbleibest, wann jener ruft. Schwimme nicht gegen den Strom. VIII. Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen. Der Wille ist frei. IX. Krankheit ist ein Hinderniß des Körpers, aber nicht des Willens, wenn er nicht selbst will. Lähmung ist ein Hinderniß des Fußes, aber nicht des Willens. Und so denke bei allem, was dir begegnet; denn du wirst finden, daß es wohl ein Hinderniß für etwas anderes ist, aber nicht für dich.
Versuchung und Widerstand. X. Vergiß nicht, bei jedem Vorfall in dich zu gehen, und zu untersuchen, welches Mittel du besitzest, um daraus Nutzen zu ziehen. Erblickst du einen Schönen oder eine Schöne, so wirst du ein Mittel dagegen finden, – die Selbstbeherrschung. Kommt Anstrengung, so findest du Ausdauer; kommt Schmach, so findest du Kraft zum Erdulden des Bösen. Und wenn du dich so gewöhnst, so wird dich die Vorstellung nicht hinreißen. Der Weise verliert nichts. XI. Sage nie von einem Ding: ich habe es verloren; sondern: ich habe es zurückgegeben. Dein Kind ist gestorben; – es ist zurückgegeben worden. Dein Weib ist gestorben; – es ist zurückgegeben worden. Dein Landgut wurde dir genommen. – Nun also auch dieses ist nur zurückgegeben worden. – »Aber der es dir genommen hat, ist ein Schurke.« – Was geht es aber dich an, durch wen es dir derjenige wieder abgefordert hat, der es dir gab? – So lange er es aber dir überläßt, behandle es als fremdes Gut, so wie die Reisenden die Herberge. Fort mit Sorgen. XII, 1. Willst du Fortschritte machen, so mußt du Gedanken, wie die folgenden, fahren lassen: Wenn ich das Meinige vernachläßige, so werde ich kein Brod haben; wenn ich meinen Jungen nicht züchtige, so wird er ein Bösewicht werden. Denn besser ist es, Hunger sterben, frei von Traurigkeit und Furcht, als im Ueberfluß leben mit Unruhe im Herzen; und besser ist's, daß der Junge ein Bösewicht werde, als daß du unglücklich seiest. Was kostet Gemüthsruhe? XII, 2. Fange also mit geringfügigen Dingen an. Man verschüttet dir dein Bischen Oel, man stiehlt dir dein Restchen Wein. Denke dabei: so theuer kauft man Gelassenheit, so theuer Gemüthsruhe. Umsonst bekommt man nichts. Sei ein Thor vor der Welt. XIII. Willst du Fortschritte machen, so laß es dir gefallen, daß man dich in Bezug auf äußere Dinge für dumm und einfältig hält. Du mußt nicht scheinen wollen, als wissest du etwas. Wenn auch gewisse Leute etwas auf dich halten, so traue dir selbst nicht. Wisse nemlich, daß es nicht leicht ist, die naturgemäßen Grundsätze, die du hast, und zugleich die äußeren Dinge im Auge zu behalten. Vielmehr, wer für das eine sorgen will, muß ganz nothwendig das andere vernachläßigen. Begehre nichts Unmögliches. XIV, 1. Wenn du willst, daß deine Kinder, dein Weib und deine Freunde ewig leben sollen, so bist du ein Thor. Du willst damit, daß Dinge, die nicht in deiner Gewalt sind, in deiner Gewalt sein sollen, und was nicht dein ist, soll dir gehören. Herr oder Knecht. XIV, 2. Ein Herr über alles ist der, welcher die Macht hat, das, was er will, oder nicht will, anzuschaffen oder wegzuschaffen. Wer nun frei sein will, der muß weder etwas wollen, noch etwas nicht wollen von dem, was in anderer Leute Gewalt ist. Wo nicht, so muß er ein Sklave sein. Selbstverleugnung. XV. Vergiß nicht, daß du dich (im Leben) wie bei einem Gastmahl betragen mußt. Man bietet etwas herum, und es gelangt zu dir: – strecke die Hand aus, und nimm bescheiden davon. Es geht an dir vorüber: – halte es nicht auf. Es will immer noch nicht kommen: – blicke nicht aus der Ferne begehrlich darauf hin, sondern warte, bis es an dich kommt. Ebenso halte es in Bezug auf Kinder, Weib, Aemter und Reichthum; dann wirst du einst ein würdiger Tischgenosse der Götter sein. – Wenn du aber selbst von dem, was dir vorgelegt wird, nichts annimmst, sondern darüber wegsiehst, so wirst du nicht bloß mit den Göttern zu Tische sitzen, sondern auch mit herrschen. So handelten Diogenes und Heraklit und ihresgleichen, und deßhalb waren und hießen sie mit Recht göttliche Menschen. Spare das Mitleiden. XVI. Wenn du jemand weinen siehst aus Betrübniß, entweder weil sein Sohn in die Fremde gegangen ist, oder weil er das Seinige verloren hat, so gib Achtung, daß dich nicht die Vorstellung hinreiße, als sei jener im Unglück durch äußere Ursachen; sondern sprich nur sogleich: jenen drückt nicht das Begegniß selbst, – einen andern drückt es ja auch nicht, – sondern was er sich darunter vorstellt. Zögere zwar nicht, dich wenigstens in deinen Worten nach ihm zu richten, und wenn es sich gerade schickt, auch mit ihm zu seufzen. Hüte dich aber, daß du nicht auch innerlich mitseufzest.
Vom Schauspieler lerne! XVII. Bedenke, daß du Schauspieler bist in einem solchen Stück, wie es eben dem Dichter beliebt; ist es kurz, in einem kurzen; ist es lang, in einem langen. Will er, daß du einen Bettler vorstellen sollst, so stelle auch einen solchen naturgetreu dar. Ebenso einen Lahmen, einen Herrscher, einen gemeinen Mann. Deine Sache ist es nemlich, die Rolle, welche dir übertragen worden ist, gut zu spielen; sie anzuwählen, Sache eines Andern. Böses nimm auch für gut. XVIII. Wenn ein Rabe durch sein Krächzen Unheil verkündet, so laß dich nicht von der Vorstellung hinreißen; sondern unterscheide sogleich bei dir selbst und sprich: keines von diesen Vorzeichen gilt mir; sondern entweder meinem elenden Leib, oder meinen paar Pfennigen, oder meinem bischen Reputation, oder meinen Kindern, oder meinem Weibe. Mir selbst aber wird lauter Glück geweissagt, sofern ich nur will; denn was immer von jenen Dingen sich ereignen mag, es steht bei mir, Nutzen daraus zu ziehen. Sicherer Sieg. XIX, 1. Du kannst unüberwindlich sein, wenn du dich in keinen Kampf einlässest, in welchem es nicht in deiner Macht steht, obzusiegen. Geistesfreiheit. XIX, 2. Wenn du einen hochgeehrten, oder vielvermögenden, oder sonst angesehenen Mann siehst, so hüte dich, daß du nicht, von der Vorstellung hingerissen, ihn glücklich preisest. Denn wenn das wahre Gut in den Dingen besteht, welche in unsrer Gewalt sind, so findet weder Neid noch Eifersucht Raum; und du selbst wirst nicht Heerführer, oder Rathsherr, oder Consul sein wollen, sondern frei. Dazu führt nur ein Weg: – Verachtung der Dinge, die nicht in unsrer Gewalt sind.
Langsam zum Zorn! XX. Bedenke, daß nicht derjenige dich kränkt, welcher dich schmäht, oder schlägt; sondern die Meinung, als liege darin etwas Kränkendes. Wenn dich also jemand ärgert, so wisse, daß dich deine Meinung geärgert hat. Deßhalb versuche es vor Allem, dich nicht von der Vorstellung hinreißen zu lassen. Hast du nur einmal Zeit und Aufschub gefunden, so wirst du dich um so leichter beherrschen. Der Tod der Lüste. XXI. Tod und Verbannung und Alles, was als schrecklich erscheint, soll dir täglich vor Augen schweben, am meisten aber der Tod; so wirst du nie weder an etwas Gemeines denken, noch etwas allzuheftig begehren.
Laß die Spötter spotten! XXII. Du willst ein Philosoph sein. Mache dich von Stund an darauf gefaßt, daß man dich auslacht, daß dich viele verspotten und sagen: Er ist plötzlich als Philosoph zu uns zurückgekommen; und weßhalb trägt er seinen Kopf gegen uns so hoch? – Du sollst aber den Kopf nicht hoch tragen; sondern was dir das Beste zu sein dünkt, das halte fest, gerade so, als ob du von Gott selbst auf diesen Posten gestellt worden wärest; und bedenke, daß dich, wenn du immer auf dem Gleichen beharrst, diejenigen, welche dich zuerst verlacht haben, zuletzt bewundern werden. Lässest du dich aber von ihnen besiegen, so wirst du zwiefältigen Spott ernten. Nach innen schau! XXIII. Wenn es dir einmal begegnet, daß du dich nach außen wendest, in der Absicht, irgend einem zu gefallen, so wisse, daß du deine innere Stellung verloren hast. Es genüge dir also durchaus, ein Philosoph zu sein. Willst du aber auch (von jemand) dafür angesehen sein, so sieh dich selbst dafür an. Dies vermagst du. Tugend verloren – Alles verloren! XXIV, 1. Gedanken, wie die folgenden, laß dich nicht anfechten: Ich soll in Schande leben, und als der Garnichts auf der Gotteswelt. Denn wenn die Schande ein Uebel ist, so kann dir das Uebel ebensowenig durch einen andern aufgenöthigt werden, als etwas Sittlich-schlechtes. Ist es etwa dein eigen Werk, mit einem Amte bekleidet, oder zur Tafel gezogen zu werden? Keineswegs. Wie könnte also das eine Schande sein? Und in wiefern wirst du der Garnichtssein, da du doch nur in den Dingen etwas sein sollst, in welchen es ganz bei dir steht, dich auf's höchste auszuzeichnen? Verkaufst du deine Freiheit um ein Linsengericht? XXV, 1. Einem andern ist beim Gastmahl, oder beim Grüßen, oder beim Herbeiziehen zu einer Berathung mehr Ehre widerfahren, als dir? Wenn dieß ein Gut ist, so sollst du dich freuen, daß jener andere es erlangt hat. Ist es aber ein Uebel, so klage nicht, daß es dich nicht betroffen hat. Bedenke übrigens, daß du nicht denselben Lohn ansprechen kannst, wenn du nicht dasselbe thust, um die Dinge zu erlangen, die nicht in unsrer Gewalt sind. 5. Hast du nun nichts zum Ersatz für das Gastmahl? – Das hast du, daß du den nicht zu loben brauchtest, welchen du nicht loben wolltest, und daß du dir nichts gefallen lassen mußtest von seinen Thürstehern. Der Wille der Natur. XXVI. Der Wille der Natur läßt sich erkennen aus dem, worüber keine Meinungsverschiedenheit unter uns herrscht. Z.B. wenn der Sklave eines andern ein Trinkglas zerbricht, so sind wir gleich bereit zu sagen: so geht es eben. – Wisse nun, daß du, wenn das deinige ebenfalls zerbricht, dich ebenso betragen mußt, wie wenn das des andern zerbricht. Wem es gilt, den trifft's. XXVII. Gleichwie ein Ziel nicht zum Verfehlen aufgesteckt wird, so auch nicht die Natur des Uebels in der Welt. Körper und Geist. XXVIII. Wenn jemand deinen Körper jedem, der dir begegnet, preisgäbe, so würdest du es übel aufnehmen. Daß aber du selbst deinen Geist dem nächsten besten preisgibst, so daß er in Aufregung und Verwirrung geräth, wenn man dich schilt, – schämst du dich dessen nicht?
Vorbedacht – Nachgethan! XXIX, 1. Bei allem, was du thun willst, achte auf das, was vorangeht, und was nachfolgt, und so mache dich daran. Wo aber nicht, so wirst du wohl anfangs lustig daran gehen, weil du nicht bedacht hast, was nachkommt; hernach aber, wenn sich etliche Schwierigkeiten zeigen, wirst du mit Schanden davon gehen. Sittengesetz und Naturgesetz. XXX. Die Pflichten sind so ziemlich überall den Verhältnissen angemessen. Es ist einer Vater: Die Pflicht gebietet, sein zu pflegen, ihm in allem nachzugeben, sein Schimpfen, seine Schläge geduldig hinzunehmen. Weisheit und Frömmigkeit. XXXI, 1. Die Hauptsache in der Frömmigkeit, mußt du wissen, ist dieß, daß man richtige Vorstellungen von den Göttern habe, nemlich, daß es Götter gebe, und daß sie alles gut und gerecht regieren, daß sie dir die Bestimmung gegeben haben, ihnen zu gehorchen, und dich in alles, was geschieht, zu schicken, und willig zu folgen, weil es ja in bester Absicht geschieht. So wirst du niemals die Götter tadeln, noch sie beschuldigen, als bekümmern sie sich nichts um dich. Die Orakel und das Gewissen. XXXII, 1. Wenn du zum Orakel gehst, so erinnere dich, daß du nicht weißt, was geschehen wird, sondern daß du kommst, um es von dem Seher zu erfahren. Wie aber eine Sache beschaffen ist, das weißt du schon beim Kommen, wenn du ein Philosoph bist. Ist es nemlich etwas von den Dingen, die nicht in unsrer Gewalt sind, so kann es schlechterdings weder ein Gut, noch ein Uebel sein. Vorbild und Nachfolge. XXXIII, 1. Stelle dir ein Muster und Vorbild auf, und lebe ihm nach, sowohl wenn du allein bist, als wenn du unter die Leute kommst. Schweigen, Reden und Lachen. XXXIII, 2. Auch schweige man meistens oder spreche nur, so viel nöthig, und mit wenigen Worten. Bisweilen aber, wenn die Umstände zum Reden auffordern, sollst du reden; aber nicht von jenen alltäglichen Dingen, nicht von Fechterspielen, nicht von Pferderennen, nicht von den Athleten, nicht von Essen und Trinken, wovon man allerorten redet, besonders aber nicht von Personen, weder tadelnd, noch lobend, noch vergleichend. Vom Eid. XXXIII, 5. Den Eid verweigere, wenn es angeht, ganz; wo aber nicht, doch so viel als möglich. Böse Gesellschaft. XXXIII, 6. Gastmähler bei Fremden und bei ungebildeten Leuten schlage aus. Kommt aber der Fall einmal vor, so mache es dir zum Gesetz, wohl aufzumerken, daß du nicht unversehens in Gemeinheit versinkest. Denn wisse: wenn einer einen unfläthigen Menschen zum Kameraden hat, so muß er, der sich mit ihm einläßt, ebenfalls besudelt werden, auch wenn er selbst vielleicht rein ist. Einfacher Sinn. XXXIII, 7. In Bezug auf das Leibliche versieh dich nicht weiter, als mit dem schlechthin nothwendigen Bedarf an Speise, Trank, Kleidung, Obdach, Dienerschaft. Was aber zum Gepränge, oder zum Luxus gehört, schneide völlig ab. Keuschheit. XXXIII, 8. In Bezug auf geschlechtlichen Umgang halte dich vor der Ehe so keusch als möglich. Wer sich aber damit befassen will, genieße ihn, wie es gesetzlich erlaubt ist. Du aber sei nicht unbillig gegen die, welche Gebrauch davon machen, und verdamme sie nicht. Auch führe es nicht bei jeder Gelegenheit an, daß du dich dessen enthaltest. Wie man dem Lästerer das Maul stopft. XXXIII, 9. Wenn dir jemand hinterbringt, daß der oder jener Schlimmes von dir rede, so vertheidige dich nicht gegen das Gesagte, sondern antworte: Der wußte also nichts von meinen übrigen Fehlern, sonst würde er wohl nicht bloß von diesen gesprochen haben. Sei ein kühler Beobachter. XXXIII, 10. Oft in das Theater zu gehen, ist nicht nothwendig. Kommst du aber zufällig einmal dahin, so laß niemand, als dich selbst, merken, daß du innerlich Antheil nimmst, d.h. wünsche, daß nur das geschehe, was geschieht, und nur der siege, welcher siegt; denn auf diese Weise wird dir alles nach Wunsch gehen. Des Schreiens aber und Beifall-Zulachens, oder häufiger Mitbewegungen enthalte dich gänzlich. Nach dem Weggehen unterhalte dich nicht viel über das Vorgekommene, so weit es nicht zu deiner Besserung beiträgt. Denn hiedurch gewönne es den Anschein, als habest du das Schauspiel bewundert. Verschiedene Verhaltungsregeln.
a) Ueber den Besuch öffentlicher Vorlesungen. XXXIII, 11. Zu den Vorträgen gewisser Leute gehe nicht ohne Ursache oder leichtsinnig hin. Gehst du aber hin, so beobachte ein würdevolles, festes, und doch nicht abstoßendes Betragen. b) Ueber den Verkehr mit Vornehmen. XXXIII, 12. Wenn du im Begriff stehst, dich mit jemand in ein Gespräch einzulassen, besonders mit einem von denen, welche für sehr vornehm gelten, so stelle dir vor, was in diesem Fall Sokrates oder Zeno gethan hätte, und du wirst nicht verfehlen, dich den Umständen angemessen zu betragen. c) In Gesellschaft. XXXIII, 14. In Gesellschaften vermeide man es, seiner eigenen etwaigen Thaten oder Abenteuer häufig und maßlos zu gedenken. Denn nicht ebenso angenehm, als es dir ist, deiner Abenteuer zu gedenken, ist es den andern, zu hören, was dir zugestoßen ist. Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang. XXXIV. Wenn du die Vorstellung irgend einer sinnlichen Lust in dich aufnimmst, so hüte dich, wie auch in andern Dingen, daß du nicht von ihr hingerissen werdest; sondern laß die Sache auf dich warten, und nimm dir längere Zeit dazu. Alsdann vergegenwärtige dir die beiden Momente, sowohl denjenigen, da du die Lust genießen, als denjenigen, da du hernach, wenn der Genuß vorüber ist, Reue fühlen, und dir selbst Vorwürfe machen wirst. Und dem stelle nun gegenüber, wie du dich freuen und dich selbst loben wirst, wenn du enthaltsam gewesen bist. Wenn es dir aber schicklich scheint, dich mit der Sache zu befassen, so gib wohl Achtung, daß dich nicht das Reizende, Angenehme und Verführerische derselben überwinde, sondern stelle dir vielmehr vor, wie viel wohler dir das Bewußtsein thun muß, einen solchen Sieg erkämpft zu haben.
Thue recht, scheue niemand. XXXV. Wenn du etwas thust, wovon du dich überzeugt hast, daß es gethan werden muß, so vermeide es nie, gesehen zu werden, während du es thust, auch wenn der große Haufe anderer Meinung darüber sein sollte. Denn, ist es unrecht, was du thust, so meide die That selbst: ist es aber recht, was fürchtest du dich vor denen, die es unrecht schelten wollen? Tischregel. XXXVI. Wie die Sätze: »Es ist Tag« und »Es ist Nacht« zwar vortrefflich zu einem disjunktiven Urtheil, dagegen zu einer Conjunktion gar nichts taugen, so mag es auch für den Körper einen großen Werth haben, wenn man sich die größte Portion herausnimmt; aber zur geziemenden Beobachtung der gesellschaftlichen Pflichten beim Gastmahl trägt es nichts bei. Wenn du nun bei einem andern zu Gast geladen bist, so vergiß nicht, daß man nicht bloß darauf sehen darf, welchen Werth das Aufgetragene für den Leib hat, sondern daß man auch die Schicklichkeit gegenüber dem Wirth beobachten muß. Ne sutor ultra crepidam! XXXVII. Wenn du eine Rolle übernimmst, welcher du nicht gewachsen bist, so wirst du sowohl in dieser zu Schanden werden, als auch jene, die du hättest ausfüllen können, vernachläßigen. Vorsichtig wandeln. XXXVIII. Wie du dich beim Gehen wohl hütest, in einen Nagel zu treten, oder den Fuß zu verrenken, so hüte dich auch, den herrschenden Theil deiner selbst zu beschädigen; und wenn wir dies bei jeder Handlung beobachten, so werden wir um so sicherer zu Werk gehen. Maß halten. XXXIX. Einem jeden dient sein Leib als Maßstab für den Besitz, wie der Fuß für den Schuh. Wenn du dabei stehen bleibst, so wirst du Maß halten. Gehst du aber darüber hinaus, so wirst du unfehlbar vollends wie von einer steilen Höhe heruntergerissen werden. Gerade wie mit dem Schuh! Willst du auf größerem Fuß leben, so kommt zuerst ein vergoldeter Schuh, dann ein purpurner, dann ein gestickter. Denn was einmal über das Maß hinaus ist, hat keine Gränze mehr. Der Schmuck der Frauenzimmer. XL. Die Frauenzimmer werden sogleich vom vierzehnten Jahre an von den Männern Herrinnen genannt. Wenn sie nun sehen, daß sie kein anderes Verdienst haben, als daß sie bei den Männern wohnen, so fangen sie an, sich zu putzen, und hierauf alle ihre Hoffnungen zu setzen. Es wäre nun wohl der Mühe werth, sie merken zu lassen, daß man sie nur dann ehren wolle, wenn sie sich bescheiden und sittsam aufführen. Der Unedle. XLI. Es ist das Merkmal einer gemeinen Natur, wenn Einer bei körperlichen Dingen lange verweilt, z.B. lange turnt, lange ißt, lange trinkt, lange abseits geht, lange beim Weibe bleibt. Solches sollte man vielmehr nur nebenher thun; auf den Geist dagegen verwende man seine ganze Sorgfalt. Wer hat den Schaden? XLII. Wenn dich jemand schlimm behandelt, oder Schlimmes von dir redet, so bedenke, daß er es thut oder redet in der Meinung, er sei im Recht. Es ist nun nicht möglich, daß er dem folge, was du für richtig hältst, sondern dem, was er dafür hält. Wenn nun seine Meinung falsch ist, so hat er den Schaden, sofern er sich in einer Täuschung befindet. Denn wenn einer eine richtige Satzverbindung für falsch hält, so schadet dies der Satzverbindung nichts, sondern dem, welcher sich geirrt hat. Davon ausgehend wirst du dich gegen den Lästerer sanftmüthig betragen. Denke nur jedesmal: er war der Meinung u.s.w. Zweierlei Handhaben. XLIII. Jedes Ding hat zwei Handhaben, eine zum Anfassen, die andere nicht zum Anfassen. Wenn nun dein Bruder Unrecht (an dir) thut, so nimm die Sache nicht von der Seite, daß er Unrecht thut; denn das ist nicht ihre anfaßbare Handhabe, vielmehr von der, daß er dein Bruder ist, daß er mit dir auferzogen worden ist. Das heißt die Sache da nehmen, wo sie anfaßbar ist. Schlechte Logik – schlechte Moral. XLIV. Folgende Schlüsse sind nicht richtig: »Ich bin reicher, als du, somit besser, als du«; – »ich bin beredter, als du, somit besser, als du«. – Richtiger sind die folgenden: »Ich bin reicher, als du, somit ist mein Besitz mehr werth, als der deinige«; »ich bin beredter, als du, somit ist meine Ausdrucksweise besser, als die deinige«. Du selbst aber bist weder Besitz, noch Ausdrucksweise. Urtheile nicht vorschnell. XLV. Es badet einer zu frühe; sage nicht: er thut unrecht, sondern: er badet zu frühe. Es trinkt einer viel[48] Wein; sage nicht: er thut Unrecht, sondern: er trinkt viel. Denn ehe du die Absicht kennst, woher weißt du, ob er Unrecht thut? Anspruchslosigkeit. XLVI, 1. Niemals nenne dich selbst einen Philosophen. Auch sprich unter Laien nicht viel von den Lehrsätzen der Wissenschaft, sondern handle nach denselben. So sprich z.B. bei der Mahlzeit nicht davon, wie man essen soll, sondern iß, wie man essen soll. Werke sind besser als Worte. XLVI, 2. Wenn man unter Laien auf einen Satz aus der Wissenschaft zu sprechen kommt, so schweige in der Regel. Denn die Gefahr ist groß, daß du sofort wieder ausspeiest, was du noch nicht verdaut hast. Und wenn jemand zu dir sagt, du wissest nichts, und es beißt dich nicht, so wisse, daß du bereits einen Anfang in der Sache gemacht hast. Denn auch die Schafe tragen nicht das Gras her, um den Hirten zu zeigen, wie viel sie fressen, sondern verdauen das Futter in wendig; auswendig aber geben sie Wolle und Milch. So stelle auch du nicht deine Wissenschaft vor den Laien zur Schau, sondern, wenn du sie verdaut hast, die Werke. Wahre und falsche Ascese. XLVII. Wenn du hinsichtlich deines Körpers an Einfachheit gewöhnt bist, so bilde dir darauf nichts ein. Auch sprich nicht, wenn du Wasser trinkst, bei jeder Gelegenheit: ich trinke Wasser. Und willst du dich einmal üben in anstrengender Arbeit, so thu' es für dich, und nicht vor Fremden. Umarme nicht die Bildsäulen, sondern wenn dich einmal heftig dürstet, so nimm frisches Wasser in den Mund, und speie es wieder aus, und sage es niemand. Ein ächter Jünger der Weisheit. XLVIII, 1. Der Standpunkt und das Kennzeichen eines gewöhnlichen Menschen ist dies: er erwartet niemals von sich selbst Nutzen oder Schaden, sondern von äußerlichen Dingen; der Standpunkt und das Kennzeichen eines Philosophen: er erwartet allen Nutzen und Schaden von sich selbst.
Seid Thäter des Worts! XLIX. Wenn sich einer groß macht, daß er die Schriften des Chrysippus verstehe und auslegen könne, so sprich du bei dir selbst: Hätte Chrysippus nicht unklar geschrieben, so hätte dieser nichts, womit er sich groß machen könnte. Ich aber, was will ich? Die Natur kennen lernen, und ihr[51] folgen. Ich frage nun, wer legt sie mir aus? und wenn ich höre: Chrysippus, so gehe ich zu ihm. Aber ich verstehe seine Schriften nicht. Ich suche also einen Ausleger, und bis dahin ist gar nichts Großes an der Sache. Wenn ich aber den Ausleger gefunden habe, so bleibt noch übrig die Anwendung der Gebote im Leben. Diese letztere allein ist etwas Großes. Bewundere ich aber das Auslegen an sich, was bin ich zuletzt anders, als ein Grammatiker, anstatt ein Philosoph? – Mit dem Unterschied jedoch, daß ich statt des Homer den Chrysipp auslegen kann! – Um so mehr werde ich also erröthen müssen, wenn jemand zu mir sagt: lies mir den Chrysippus vor, und ich bin nicht im Stand, den Worten ähnliche und entsprechende Thaten aufzuweisen.
Die Stimme der Weisheit ist Gottes Stimme. L. Alles Vorgetragene beobachte wie Gesetze, und als begiengest du eine Gottlosigkeit, wenn du es überträtest. Was man aber auch über dich sagen möge, kehre dich nicht daran; denn dies ist nicht mehr deine Sache. Wann wirst du weise werden? LI, 1. Wie lange willst du es noch aufschieben, dich der besten Güterwerth zu achten, und in nichts den Aussprüchen der Vernunft zuwider zu handeln? Du hast die Lehrsätze vernommen, nach welchen du dich richten solltest, und hast du dich darnach gerichtet? Auf welchen Lehrmeister wartest du denn noch, um ihm das Werk deiner[52] Besserung zu übertragen? Du bist kein Knabe mehr, sondern bereits ein Mann in reifem Alter. Wenn du auch jetzt noch fahrläßig und leichtsinnig bist, immer einen Aufschub um den andern machst, und immer wieder neue Tage festsetzest, nach deren Verfluß du für dich selbst Sorge tragen willst, so wirst du, ohne es zu merken, dahintenbleiben, und bis an's Ende ein Laie bleiben – im Leben und im Sterben. Theorie und Praxis. LII, 1. Das erste und nothwendigste Kapitel in der Philosophie ist das von der Anwendung der Lehrsätze im Leben, wie z.B. daß man nicht lügen soll. Erst das zweite ist das von den Beweisen, z.B. aus welchem Grunde man nicht lügen soll. Das dritte dient zur Begründung und Erklärung des vorigen, z.B. aus welchem Grunde dieses ein Beweis ist. Denn was ist ein Beweis? Was eine Folge? Was ein Widerspruch? Was ist wahr, was falsch? Die Summe der Weisheit. LIII. In allen Fällen müssen wir folgende Sätze in Bereitschaft halten:
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