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Voltaire (Francois-Marie Arouet) - Der Freimütige L'Ingénu (Das Naturkind)

Eine wahre, den hinterlassenen Papieren des Paters Quesnel entnommene Geschichte

ERSTES KAPITEL

Der Prior Unserer lieben Frau vom Berge und sein Fräulein Schwester begegnen einem Huronen

 

Eines Tages fuhr der heilige Dunstan, Irländer von Geburt und Heiliger von Beruf, von Irland auf einem kleinen Berge ab, der nach der französischen Küste hinüberschaukelte, und gelangte auf diesem Gefährt in die Bucht von Saint-Malo. Als er an Land gestiegen war, erteilte er dem Berge seinen Segen, worauf sich dieser mehrere Male tief vor ihm verneigte und auf demselben Wege, auf dem er gekommen war, nach Irland zurückschwamm. Dunstan gründete in der Gegend ein kleines Kloster und gab ihm den Namen »Abtei vom Berge«, den es bekanntlich noch heute trägt.

Am 15. Juli 1689 lustwandelte abends der Abt von Kerkabon, Prior Unserer lieben Frau vom Berge, mit seiner Schwester, Fräulein von Kerkabon, am Meeresufer, um frische Luft zu schöpfen. Der schon ziemlich bejahrte Prior war ein vortrefflicher Geistlicher, den seine Nachbarn sehr liebten, so wie früher seine Nachbarinnen. Besonderes Ansehen hatte ihm der Umstand verliehen, daß er der einzige Geistliche des Landes war, den man nicht ins Bett bringen mußte, wenn er mit seinen Amtsbrüdern getafelt hatte. Er verstand viel von Theologie, und wenn er es müde geworden war, im heiligen Augustinus zu lesen, vertrieb er sich die Zeit mit Rabelais : So konnte ihm jedermann nur Gutes nachsagen.

Fräulein von Kerkabon, die noch nicht verheiratet war, obwohl sie große Lust dazu verspürte, hatte mit fünfundvierzig Jahren ihre ganze Frische bewahrt. Von Natur war sie gütig und zartfühlend, sie liebte das Vergnügen und war fromm.

Während der Prior auf das Meer hinausblickte, sagte er zu seiner Schwester : »Ach, an dieser Stelle hat sich unser armer Bruder mit seiner Frau, unserer lieben Schwägerin, im Jahre 1669 auf der Fregatte >Schwalbe< eingeschifft, um drüben in Kanada den Dienst aufzunehmen. Wäre er nicht getötet worden, könnten wir noch hoffen, ihn wiederzusehen.«

»Glaubst du«, sagte Fräulein von Kerkabon, »daß unsere Schwägerin wirklich von den Irokesen aufgefressen wurde, wie man uns mitgeteilt hat?« —»Wenn man sie nicht verspeist hätte, wäre sie doch sicher in die Heimat zurückgekehrt. Ich werde sie bis an mein Lebensende beweinen. Sie war eine reizende Frau, und unser Bruder, der ja ein sehr kluger Mann war, hätte sich gewiß ein großes Vermögen erworben.«

Während sie beide diesen Erinnerungen betrübt nachhingen, sahen sie ein kleines Schiff, von der Flut getragen, in die Bucht von Rance einlaufen : Es waren Engländer, die allerlei Erzeugnisse ihres Landes verkaufen wollten. Sie sprangen ans Land, ohne den Herrn Prior und sein Fräulein Schwester zu beachten, und diese fühlte sich durch den Mangel an Aufmerksamkeit ihr gegenüber äußerst verletzt.

Anders benahm sich ein wohlgewachsener junger Mann, welcher mit einem Sprung über die Köpfe seiner Gefährtin von Kerkabon gegenüberstand. Er nickte ihr zu, denn der Brauch, eine Verbeugung zu machen, war ihm nicht bekannt. Sein Aussehen und seine Kleidung erregten die Aufmerksamkeit des Bruders und seiner Schwester: Er war barhäuptig, seine Beine waren nackt, seine Füße steckten in kleinen Sandalen, langes geflochtenes Haar schmückte sein Haupt, ein kleines Wams umschnürte seinen feinen schlanken Körper. Sein Gesichtsausdruck war kriegerisch und sanft zugleich. In der einen Hand hielt er eine kleine Flasche Zitronenlimonade und in der anderen eine Art Beutel, in dem ein Becher und ausgezeichneter Schiffszwieback zu sehen waren. Er sprach ein sehr gut zu verstehendes Französisch und bot zunächst Fräulein von Kerkabon und ihrem Bruder von seiner Limonade an, stieß mit ihnen an und schenkte wieder ein -und das alles tat er so natürlich, daß Bruder und Schwester ganz entzückt waren. Sie boten ihm ihre Hilfe an und fragten ihn, wer er sei und wohin er wolle. Der junge Mann antwortete, er wisse es selber nicht, er sei nur neu-gierig und habe die französische Küste einmal sehen wollen ; deshalb sei er hergekommen und würde nun wieder zurückfahren.

Der Herr Prior merkte an seiner Aussprache, daß er nicht Engländer war, und erlaubte sich, ihn zu fragen, aus welchem Lande er stamme. »Ich bin Hurone«, erwiderte der Jüngling.

Fräulein von Kerkabon war erstaunt und entzückt, einen Huronen zu sehen, der sich ihr gegenüber so höflich benommen hatte, und lud ihn zum Abendessen ein. Er ließ sich nicht zweimal bitten, und sie begaben sich alle drei in die Abtei Unserer lieben Frau vom Berge. Das rundliche kleine Fräulein betrachtete ihn mit ihren Äuglein und sagte ab und zu zum Prior: »Dieser große Junge hat eine Lilien- und Rosenhaut : Wie schön für einen

Huronen !« — »Du hast recht, liebe Schwester«, erwiderte der Prior. Sie richtete Schlag auf Schlag Hunderte von Fragen an ihn, und der Fremde beantwortete sie stets richtig und gut. Schnell verbreitete sich das Gerücht, daß sich in der Abtei ein Hurone aufhalte, und die gute Gesellschaft des Kreises fand sich unverzüglich zum Abendessen ein. Der Abt von Saint-Yves erschien mit seinem Fräulein Schwester, einer hübschen, guterzogenen Niederbretonin. Auch der Amtmann und der Steuerinspektor nahmen mit ihren Frauen an dem Abendessen teil. Man setzte den Fremden zwischen Fräulein von Kerkabon und Fräulein von Saint-Yves. Alle betrachteten ihn voller Bewunderung, alle sprachen zu ihm und fragten ihn zu gleicher Zeit. Der Hurone ließ sich aber nicht stören, er schien den Wahlspruch Lord Boling-brokes: »Nil admirari« zu dem seinen gemacht zu haben. Schließlich wurde er durch so viel Lärm doch aus der Ruhe gebracht und sagte, wenn auch recht sanft, so doch entschieden : »Meine Herren, in meiner Heimat spricht immer einer nach dem anderen; wie sollte ich Ihnen Antwort geben, wenn Sie mich daran hindern, Sie zu verstehen?« Vernunftgründe bringen die Menschen stets für einen Mo-ment zur Selbstbesinnung. Tiefes Schweigen trat ein. Der Herr Amtmann, der immer, wo er auch sein mochte, über die Fremden herfiel und der größte Vielfrager der Provinz war, riß jetzt seinen Mund einen halben Fuß weit auf und fragte: »Wie heißen Sie, mein Herr?« - »Man hat mich stets >Naturkind< genannt«, erwiderte der Hurone, »und auch in England ist dieser Name beibehalten worden, denn ich sage immer ganz unbefangen, was ich denke, und tue immer, was ich will.«

»Wie sind Sie denn, lieber Herr, als Hurone nach England gekommen?« - »Ich wurde hingebracht. Die Engländer haben mich, nachdem ich mich in einem Kampf wacker verteidigt hatte, gefangengenommen. Und da die Engländer Tapferkeit lieben, weil sie selber tapfer und ebenso höflich sind wie wir, machten sie mir den Vorschlag, entweder zu meinen Eltern zurückzukehren oder nach England mitzukommen. Ich entschloß mich zu dem letzteren, weil ich von Natur aus gern fremde Länder sehe.« »Aber, verehrter Herr«, sagte der Amtmann in imponierendem Ton, »wie konnten Sie denn Vater und Mutter verlassen?« — »Weil ich weder Vater noch Mutter je gekannt habe.« Die ganze Gesellschaft war gerührt, und jeder wiederholte : »Weder Vater noch Mutter !« - »Wir wollen Sie Ihnen ersetzen«, sagte die Hausherrin mit ihrem Bruder, dem Prior. »Der Herr Hurone ist so sehr interessant !« Das Naturkind dankte ihr sehr herzlich, und in edler und stolzer Art gab er ihr zu verstehen, daß er keiner Hilfe bedürfe. »Ich merke, Herr Naturmensch«, sagte der würdige Amtmann, »daß Sie besser französisch sprechen als sonst die Huronen.« — »Ein Franzose, den wir, als ich noch Kind war, im Huronenlande gefangengenommen hatten und mit dem ich in sehr enger Freundschaft verbunden war, hat mir seine Sprache beigebracht. Ich lerne alles sehr schnell, wozu ich Lust habe. Als ich in Plymouth ankam, traf ich einen Ihrer französischen Flüchtlinge, die Sie, ich weiß nicht warum, >Hugenotten< nennen. Mit seiner Hilfe habe ich in Ihrer Sprache weitere Fortschritte gemacht, und sobald ich mich verständlich ausdrücken konnte, bin ich in Ihr Land hergekommen, denn ich mag die Franzosen gern, wenn sie nicht zuviel fragen.«

Trotz dieses kleinen Vorbehaltes fragte ihn der Abt von Saint-Yves, welche der drei Sprachen ihm am besten ge falle: die huronische, die englische oder die französische. »Natürlich die huronische«, antwortete das Naturkind. »Ist das möglich!« rief Fräulein von Kerkabon. »Ich dachte immer, nach dem Niederbretonischen sei Französisch die schönste Sprache.«

Nun erkundigte man sich bei dem Naturkind, wie Tabak auf huronisch heißt, und er antwortete : »taya«, und was man für >essen< sagt, worauf er »essenten« antwortete. Fräulein von Kerkabon wollte durchaus wissen, wie man auf huronisch »der Liebeslust opfern« sagt, er antwortete : »trovander« und behauptete, anscheinend mit gutem Grund, daß all diese Worte die entsprechenden französischen und englischen durchaus aufwögen. »Trovander« fanden alle Gäste sehr nett.

Der Herr Prior hatte in seiner Bibliothek eine huronische Grammatik, ein Geschenk des ehrwürdigen Paters Sagard-Theodat, des berühmten Franziskaner-Missionars. Der Prior verließ für einen Augenblick die Tafel, um darin nachzusehen. Außer Atem vor Freude und Rührung kehrte er dann zurück, denn er erkannte das Naturkind als echten Huronen an. Man diskutierte noch ein wenig über die Mannigfaltigkeit der Sprachen und kam schließlich über-ein, daß ohne das Ereignis des Turmbaues von Babel auf der ganzen Erde Französisch gesprochen würde. Der Vielfrager von Amtmann, der bis dahin dem Huronen gegenüber etwas mißtrauisch gewesen war, empfand nun tiefe Achtung für ihn und behandelte ihn viel höflicher als vorher, was das Naturkind kaum bemerkte. Fräulein von Saint-Yves wollte unbedingt wissen, aufweiche Art im Lande der Huronen der Liebe geopfert würde. »Indem man schöne Handlungen begeht, um Personen Ihresgleichen zu gefallen«, erwiderte er. Alle Gäste klatschten erstaunt Beifall. Fräulein von Saint-Yves errötete und war erfreut. Fräulein von Kerkabon errötete auch, war aber nicht so begeistert. Sie war ein wenig gekränkt, daß das Kompliment nicht sie betraf, aber sie war so herzensgut, daß ihre Zuneigung zu dem Huronen nicht vermindert wurde. Sie fragte ihn sehr freundlich, wieviel Liebchen er im Huronenlande gehabt habe. »Ein einziges nur«, sagte das Naturkind, »es war Fräulein Abacaba, eine gute Freun-din meiner lieben Pflegemutter. Kein Schilf ist so schlank, kein Hermelin so weiß, kein Lamm so sanft, kein Adler so stolz und kein Hirsch so leichtfüßig wie Abacaba. Eines Tages verfolgte sie in unserer Nachbarschaft, ungefähr fünfzig Meilen vor unserer Wohnstätte entfernt, einen Hasen, und ein schlechterzogener Algonkin, der hundert Meilen weiter wohnte, nahm ihr den Hasen fort. Ich erfuhr es, lief hin, streckte den Algonkin mit einem Keulenschlag nieder und schleppte ihn mit gefesselten Händen und Füßen vor meine Geliebte. Abacabas Eltern wollten ihn verspeisen, aber ich habe solchen Gaumengenüssen nie Ge-schmack abgewinnen können. Ich gab ihm seine Freiheit wieder und machte ihn zu meinem Freunde. Abacaba war von meinem Benehmen so gerührt, daß sie mir vor all ihren Liebhabern den Vorzug gab. Wäre sie nicht von einem Bären aufgefressen worden, würde sie mich noch immer lieben. Den Bären habe ich bestraft und habe lange sein Fell getragen, aber das hat mich nicht getröstet.« Bei dieser Erzählung empfand Fräulein von Saint-Yves eine stille Freude, weil sie erfahren hatte, daß das Naturkind nur eine Geliebte hatte und daß Abacaba nicht mehr am Leben sei ; über die Ursache ihrer Freude war sie sich jedoch nicht im klaren. Aller Augen waren auf das Naturkind gerichtet, und man lobte ihn sehr, daß er seine Gefährten verhindert hätte, einen Algonkin aufzuessen.

Der unerbittliche Amtmann, der seine Fragewut nicht zu unterdrücken vermochte, trieb die Neugier schließlich so weit, daß er sich erkundigte, welcher Religion der Herr Hurone angehöre, ob er sich für die anglikanische, die gallikanische oder die hugenottische entschieden habe. »Ich bekenne meine Religion, wie Sie die Ihre«, entgegnete er. »Oh«, rief die gute Kerkabon, »anscheinend haben die un-glücklichen Engländer nicht einmal daran gedacht, ihn zu taufen.« - »O Gott«, sagte Fräulein von Saint-Yves, »wie ist es möglich» daß die Huronen keine Katholiken sind? Haben denn die ehrwürdigen Jesuitenpatres sie nicht alle bekehrt?« Das Naturkind versicherte, daß sich in seiner Heimat niemand bekehren lasse, daß ein echter Hurone noch niemals seine Meinung geändert habe, ja, daß es in seiner Sprache nicht einmal einen Ausdruck für den Begriff »Unbeständigkeit« gäbe. Diese letzten Worte gefielen Fräulein von Saint-Yves über die Maßen.

»Wir werden ihn taufen, ja, wir werden ihn taufen«, sagte die Kerkabonin zu dem Herrn Prior. »Du, mein lieber Bruder, sollst die Ehre haben, und ich will unbedingt seine Patin sein. Der Herr Abt von Saint-Yves soll ihn über das Taufbecken halten. Das wird eine glänzende Feier werden, über die man in der ganzen Niederbretagne sprechen wird, und uns wird unendliche Ehre daraus erwachsen !« Die ganze Gesellschaft stimmte der Dame des Hauses bei, alle Gäste riefen : »Wir werden ihn taufen !« Das Naturkind meinte, in England ließe man die Leute nach ihrem eigenen Geschmack leben. Er gab zu verstehen, daß der Vorschlag ihm keineswegs zusage, daß das göttliche Gesetz der Huronen mindestens ebensoviel wert sei wie das der Niederbretonen, und schließlich äußerte er, er würde schon am nächsten Tage wieder abfahren. Man trank nun seine Flasche Barbado-Schnaps leer, und dann gingen alle zu Bett. Das Naturkind wurde in sein Zimmer gebracht, aber Fräulein von Kerkabon und ihre Freundin, Fräulein von Saint-Yves, konnten nicht umhin, durch das ziemlich große Schlüsselloch zu schauen, um zu sehen, wie ein Hurone schläft. Sie sahen, daß er die Bettdecke auf dem Boden ausgebreitet hatte und in der schönsten Stellung der Welt sich darauf zur Ruhe legte.

 

ZWEITES KAPITEL

 

Der Hurone, genannt Naturkind, wird von seinen Verwandten erkannt

 

Seiner Gewohnheit gemäß erwachte das Naturkind mit der Sonne beim ersten Krähen des Hahnes, den man in England und im Lande der Huronen die »Trompete des Tages« nennt. Das Naturkind gehörte nicht zu den Leuten der guten Gesellschaft, die auf ihrem müßigen Lager dahindämmern, bis die Sonne die Hälfte ihres Laufes zurück-gelegt hat, und die weder schlafen noch aufstehen und in diesem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod so ihre kostbarsten Stunden verlieren und sich dann noch über das kurze Leben beklagen.

Er hatte bereits zwei oder drei Meilen zurückgelegt, etwa dreißig Stück Wild mit der Kugel niedergestreckt, und als er zurückkehrte, traf er den Herrn Prior Unserer lieben Frau vom Berge und seine keusche Schwester m Nachtmützen lustwandelnd in ihrem kleinen Garten an. Er übergab ihnen seine ganze Jagdbeute und zog aus seinem Hemd eine Art kleinen Talisman, den er stets bei sich trug, und bat sie, ihn zum Zeichen seiner Dankbarkeit für ihre freund-liche Aufnahme anzunehmen. »Es ist mein kostbarster Be-sitz«, sagte er; »man hat mir versichert, ich würde stets glücklich sein, solange ich dieses kleine Ding bei mir trüge, und ich möchte es Ihnen geben, damit Sie stets glücklich sind.« Der Prior und Fräulein von Kerkabon lächelten gerührt über die Naivität des Naturkindes. Das Geschenk bestand aus zwei kleinen, wenig schönen Bildnissen, die mit einem sehr fettigen Lederriemen zusammengebunden waren.

Fräulein von Kerkabon fragte ihn, ob es im Huronenlande Maler gebe. »Nein«, antwortete er, »dieses seltene Ding habe ich von meiner Amme bekommen. Ihr Mann hatte es sich erobert, als er in Kanada einige Franzosen ausplünderte, die mit uns Krieg führten. Das ist alles, was ich davon

weiß.«

Der Prior betrachtete aufmerksam die beiden Bilder. Plötzlich wechselte die Farbe seines Antlitzes, er war ergriffen, und seine Hände zitterten. »Bei Unserer lieben Frau vom Berge«, rief er, »ich glaube, es ist das Bild meines Bruders, des Hauptmannes, und seiner Frau !« Fräulein von Kerkabon betrachtete sie ebenso bewegt und war der gleichen Meinung. Beide waren von Verwunderung, Schmerz und Freude erfüllt; beide überkam Rührung, und sie vergossen Tränen. Ausrufe drängten sich über ihre Lippen, sie nahmen sich gegenseitig die Bilder aus den Händen, jeder nahm sie an sich und gab sie zwanzigmal in der Sekunde dem anderen ; sie verschlangen die Bilder und auch den Huronen mit ihren Blicken. Sie fragten ihn nacheinander und dann wieder beide auf einmal, an welchem Orte, zu welcher Zeit und auf welche Weise diese kleinen Bilder in die Hände der Amme gekommen seien. Sie verglichen und berechneten die Zeit seit der Abreise des Hauptmannes und erinnerten sich, Nachricht bekommen zu haben, daß er bis zum Lande der Huronen vorgedrungen sei, und seitdem hatten sie nie wieder etwas von ihm gehört.

Das Naturkind hatte ihnen gesagt, daß er weder Vater noch Mutter gekannt habe. Der Prior, ein scharfsinniger Mann, bemerkte, daß das Naturkind einen Anflug von Bart bekam, er wußte aber, daß die Huronen bartlos waren. »Sein Kinn ist beflaumt, er ist also der Sohn eines Europäers ! Mein Bruder und meine Schwägerin sind seit dem Streifzug gegen die Huronen im Jahre 1669 verschollen, mein Neffe muß damals noch ein Säugling gewesen sein. Die huronische Amme hat ihm das Leben gerettet und die Mutter ersetzt.« Nach hundert Fragen und Antworten folgerten der Prior und seine Schwester schließlich, daß der Hurone ihr leiblicher Neffe sei. Unter Tränen umarmten sie ihn, und das Naturkind lachte, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Hurone der Neffe eines niederbretonischen Priors sei.

Inzwischen war die ganze Gesellschaft herunter gekommen. Herr von Saint-Yves, der ein großer Physiognomiker war, verglich die beiden Bilder mit dem Naturkind und stellte fest, daß er die Augen von der Mutter, Stirn und Nase von dem verstorbenen Herrn Hauptmann von Kerkabon und die Backen von beiden habe.

Fräulein von Saint-Yves, die weder den Vater noch die Mutter je gesehen hatte, versicherte, daß das Naturkind ihnen aufs Haar gliche. Alle bewunderten darauf die Vor-sehung und die Verkettung der Ereignisse auf dieser Welt. Schließlich war man so überzeugt von der Abstammung des Naturkindes, daß er selbst einwilligte, der Neffe des Herrn Priors zu sein. Er sagte dazu, er wolle ihn gerade so gern zum Onkel haben, wie irgend jemand anderen. Man begab sich in die Kirche Unserer lieben Frau vom Berge, um Gott Dank zu sagen ; der Hurone blieb jedoch mit gleichgültiger Miene im Hause zurück, um einen Schluck zu trinken.

Die Engländer, die ihn hergebracht hatten und nun segelbereit waren, meldeten ihm, daß es Zeit zur Abreise sei. »Anscheinend habt ihr hier keinen Onkel und keine Tante wiedergefunden«, sagte er zu ihnen, »ich bleibe nun hier, kehrt nach Plymouth zurück. Ich schenke euch alle meine Sachen, ich brauche sie nicht mehr, denn ich bin der Neffe eines Priors geworden.« Die Engländer hißten die Segel und kümmerten sich herzlich wenig darum, ob das Naturkind in der Niederbretagne Verwandte hatte oder nicht. Nachdem der Onkel, die Tante und die ganze Gesellschaft das Tedeum gesungen, der Amtmann das Naturkind mit Fragen überschüttet und alle sich an Verwunderung, Freude

und Zärtlichkeit erschöpft hatten, faßten der Prior vom Berge und der Abt von Saint-Yves den Beschluß, das Natur-kind so schnell wie möglich zu taufen. Aber bei einem zwei-undzwanzigjährigen Huronen war die Sache nicht so leicht wie bei einem neugeborenen Kinde, das man tauft, ohne daß es etwas davon merkt. Das Naturkind mußte unter-richtet werden, und das schien schwierig zu sein, denn der Abt von Saint-Yves vermutete, einem Menschen, der nicht in Frankreich geboren war, fehle gewiß der gesunde Men-schenverstand.

Der Prior wies nun die Gesellschaft darauf hin, daß sein Neffe, das Naturkind, auch wenn er nicht das Glück gehabt habe, in der Niederbretagne geboren zu sein, doch nicht weniger Verstand besäße, was ja aus all seinen Antworten hervorgehe; gewiß habe ihn die Natur sowohl von Seiten des Vaters wie der Mutter sehr begünstigt. Man fragte ihn znnächst, ob er jemals ein Buch gelesen habe, worauf er antwortete, er habe Rabelais in englischer Übersetzung gelesen und einige Stücke von Shakespeare, die er auswendig könne. Diese Bücher habe er bei dem Schiffskapitän gefunden, mit dem er von Amerika nach Plymouth gekommen war, und sie hätten ihm sehr gut gefallen. Der Amtmann verfehlte nicht, ihn über diese Bücher auszufragen. »Ich gestehe offen«, sagte das Naturkind, »einiges glaubte ich zu erraten, alles übrige habe ich aber nicht verstanden.« Bei dieser Antwort dachte der Abt von Saint-Yves daran, daß er selbst ja auch nicht anders lese und daß es den meisten Menschen ebenso ergehe. »Sie haben doch sicher die Bibel gelesen?« fragte er den Huronen. »Gar nicht, Herr Abt, sie war nicht unter den Büchern des Kapitäns, und ich habe auch nie von ihr gehört.« - »So sind diese ruch-losen Engländer«, rief Fräulein von Kerkabon, »sie machen mehr Aufhebens von einem Shakespeareschen Stück, einem Plumpudding oder einer Flasche Rum als von den fünf Büchern Mosis; deshalb haben sie auch niemanden in Amerika bekehrt. Sie sind sicherlich von Gott verflucht, und so werden wir ihnen über kurz oder lang Jamaika und Virginia fortnehmen.«

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls ließ man den besten Schneider von Saint-Malo kommen, um das Naturkind vom Kopf bis zu den Füßen einzukleiden. Die Gesellschaft trennte sich. Der Amtmann ging woanders seine Fragen stellen. Fräulein von Saint-Yves wandte sich beim Abschied mehrmals um, um das Naturkind anzusehen, und er machte vor ihr tiefere Verbeugungen als jemals vor einer Person in seinem Leben.

Ehe der Amtmann sich verabschiedete, stellte er Fräulein von Saint-Yves seinen Tölpel von Sohn vor, der gerade die Schule hinter sich hatte. Sie sah ihn jedoch kaum an, da sie die Höflichkeiten des Huronen zu sehr beschäftigten.

 

DRITTES KAPITEL

 

Der Hurone, Naturkind genannt, wird bekehrt

 

Da der Prior sich bewußt wurde, daß er bereits hoch in den Jahren stand und daß Gott ihm zu seinem Trost einen Neffen gesandt hatte, setzte er sich in den Kopf, er könnte ihm seine Pfründe abtreten, wenn es ihm gelänge, ihn zu taufen und ihn zum Eintritt in den Orden zu bewegen. Das Naturkind hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die festen Organe eines Niederbretonen, noch gekräftigt durch das Klima Kanadas, hatten ihm den Kopf so stark gemacht, daß er es kaum fühlte, wenn man daraufschlug, und daß sich nichts darin verwischte, was sich jemals eingeprägt hatte. Er hatte noch nie etwas vergessen. Seine Aufnahmefähigkeit war um so lebhafter und klarer, da seine Kindheit nicht wie die unsrige mit unnützen Dummheiten beladen gewesen war; alle Dinge drangen frei in sein Gehirn ein. Der Prior beschloß, ihm das Neue Testament zu lesen zu geben. Das Naturkind verschlang es mit großem Vergnügen. Da er aber nicht wußte, in welcher Zeit und in welchem Lande sich alle in diesem Buch beschriebenen Begeben-heiten zugetragen hatten, zweifelte er nicht daran, daß der Schauplatz der Handlung die Niederbretagne war, und er, schwur, daß er dem Kaiphas und dem Pilatus Nase und Ohren abschneiden würde, wenn er diesen Schurken jemals begegnete.

Sein Onkel war über diese trefflichen Veranlagungen entzückt und klärte ihn gleich über die verschiedenen Tatsachen auf. Er lobte seinen Eifer, gab ihm aber zu verstehen, daß dieser Eifer nutzlos sei, da ja diese Menschen seit ungefähr sechzehnhundertneunzig Jahren tot wären. Bald konnte das Naturkind fast das ganze Buch auswendig. Zuweilen stellte er jedoch so schwierige Fragen, die den Prior sehr in die Enge trieben und ihn des öfteren zwangen, den Abt von Saint-Yves zu Rate zu ziehen. Der letztere wußte jedoch auch keine Antwort und mußte einen niederbretonischen Jesuiten kommen lassen, um die Bekehrung des Huronen zu vollenden.

Endlich ward die Gnade wirksam. Das Naturkind versprach, Christ zu werden, und meinte, er müsse zuallererst beschnitten werden. »Denn in dem Buche, das man mir zu lesen gab«, sagte er, »kommt keine Person vor, die nicht beschnitten ist. Ich muß also meine Vorhaut zum Opfer bringen und je eher, desto besser.« Er machte nicht viel Feder-lesens, ließ den Dorfarzt holen und bat ihn, den Schnitt an ihm vorzunehmen. Er war überzeugt, er werde Fräulein von Kerkabon und die ganze Gesellschaft unendlich er-freuen, wenn die Sache erst einmal vollzogen wäre. Der Frater, der solche Operationen noch nie ausgeführt hatte, benachrichtigte die Familie, und diese geriet in große Auf-

regung. Die gute Kerkabon fürchtete, daß ihr Neffe, der entschlossen und voreilig zu sein schien, womöglich auf un-geschickte Weise die Operation selber vornehmen würde, woraus sich traurige Folgen ergeben könnten, für die die Damen aus lauter Herzengüte so viel Interesse haben. Der Prior klärte den Huronen auf und bewies ihm, daß die Beschneidung nicht mehr Mode sei. Die Taufe sei viel harmloser und gesünder, und das Gesetz der Gnade sei nicht ein Gesetz der Härte. Das Naturkind, das viel gesunden Verstand und Gradsinn besaß, bestritt das, sah aber dann seinen Irrtum ein, was bei Streitigkeiten in Europa! selten der Fall ist; schließlich versprach er, sich taufen zu lassen, wann man wolle.

Vorher mußte er jedoch beichten, und das war das schwierigste. Das Naturkind trug das Buch, das ihm sein Onkel gegeben, stets in seiner Tasche herum, und er konnte darin nicht finden, daß auch nur ein einziger Apostel gebeichtet hatte, und das machte ihn sehr stutzig. Der Prior schloß ihm den Mund, indem er ihm im Brief des Jakobus des Jün-geren die Worte nachwies, die den Ketzern so viel Mühe bereiten: »Bekennet einer dem andern seine Sünden.« Der Hurone verstummte und beichtete einem Franziskanermönch. Als er fertig war, zog er den Franziskaner aus dem Beichtstuhl, packte den Mann mit festem Griff, setzte sich auf seinen Platz und zwang ihn vor sich auf die Knie. »Los, mein Freund«, rief er, »es heißt ja : Bekenne einer dem anderen seine Sünden. Ich habe dir meine Sünden aufgezählt, und nun sollst du von hier nicht eher fortkommen, bis du mir die deinen gebeichtet hast.« Und während er dieses sagte, stemmte er sein breites Knie gegen die Brust der Gegenpartei. Der Franziskaner schrie, daß die Kirche erdröhnte. Als die Leute auf den Lärm hin herbeieilten, sahen sie, wie der Täufling im Namen St. Jakobus des Jüngeren den Mönch mit seinen Fäusten bearbeitete, aber die Freude

über die Taufe eines niederbretonischen Huronen und Engländers war so groß, daß man diese Absonderlichkeiten hinnahm. Es gab sogar viele Theologen, die meinten, daß die Beichte nicht unbedingt notwendig sei, da ja die Taufe alles ersetze.

Man verabredete einen bestimmten Tag mit dem Bischof von Saint-Malo,der, wie man sich denken kann, sich höchst geschmeichelt fühlte, einen Huronen zu taufen und in pom-pösem Aufzug in Begleitung seiner Geistlichkeit zur Stelle kam. Fräulein von Saint-Yves lobte Gott, zog ihr schönstes Kleid an und ließ aus Saint-Malo eine Friseuse kommen, um bei der Feierlichkeit aufs schönste zu glänzen. Der fragesüchtige Amtmann eilte mit den Einwohnern herbei. Die Kirche war prächtig ausgeschmückt, doch als nun der Hurone geholt werden sollte, um ans Taufbecken geführt zu werden, war er nirgends zu finden. Onkel und Tante suchten ihn überall, man glaubte, er sei wohl seiner Gewohnheit gemäß auf der Jagd, und alle Festteilnehmer liefen die Wälder und Dörfer ab: keine Spur vom Huronen.

Man fürchtete, er wäre nach England zurückgekehrt, denn man entsann sich, daß er gesagt hatte, er liebe dieses Land sehr. Der Herr Prior und seine Schwester waren fest überzeugt, daß dort niemand getauft würde ; sie zitterten um die Seele ihres Neffen. Der bestürzte Bischof war nahe daran, heimzukehren, der Prior und der Abt von Saint-Yves waren verzweifelt. Der Amtmann fragte wie üblich mit Würde alle Passanten aus, Fräulein von Kerkabon weinte, Fräulein von Saint-Yves weinte nicht, aber sie stieß tiefe Seufzer aus, die bewiesen, daß sie an den heiligen Sakramenten Gefallen hatte. Die beiden Damen wandelten traurig an den Weiden und Büschen dahin, die das Rance-Bächlein einrahmten, als sie plötzlich mitten im Wasser eine hohe, ziemlich weiße Gestalt mit über der Brust gekreuzten Händen erblickten. Sie stießen einen gellenden Schrei aus und wandten sich ab. Ihre Neugierde überwog jedoch jede andere Regung, sie schlüpften vorsichtig in das Schilf, und als sie sich vergewissert hatten, daß man sie nicht sah, wollten sie sehen, was im Bache vor sich ging.

 

VIERTES KAPITEL

 

Das Naturkind wird getauft

 

Der Prior und der Abt liefen herbei und fragten das Naturkind, was er dort treibe. »Bei Gott, Ihr Herren, ich warte ja auf die Taufe. Schon seit einer Stunde stecke ich bis an den Hals im Wasser, es ist nicht recht, daß Ihr mich hier vor Kälte umkommen laßt !« - »Mein lieber Neffe«, sagte sanft der Prior zu ihm, »in der Niederbretagne wird nicht so getauft. Zieh deine Kleider wieder an und komm mit uns.« Als Fräulein von Saint-Yves diese Worte hörte, flüsterte sie ihrer Gefährtin zu : »Glauben Sie, Fräulein von Kerkabon, daß er seine Kleider sofort wieder anzieht ?« Der Hurone aber entgegnete dem Prior : »Diesmal wird es Ihnen nicht wie neulich gelingen, mir etwas weiszumachen. Ich habe seither eifrig studiert und weiß genau, daß man so und nicht anders getauft wird. Auch der Eunuche der Königin Kandake wurde in einem Bache getauft. Ich fordere Sie auf, mir in dem Buche, das Sie mir gegeben haben, nachzuweisen, ob jemals auf andere Art getauft wurde. Entweder lasse ich mich überhaupt nicht taufen, oder ich werde im Bache getauft.« Vergeblich bewies man ihm, daß diese Bräuche sich geändert hätten. Das Naturkind war starrköpfig, denn er war Bretone und Hurone zugleich. Immer wieder berief er sich auf den Eunuchen der Königin Kandake, und obgleich sein Fräulein Tante und Fräulein von Saint-Yves, die ihn durchs Gebüsch beobachteten, mit

Recht hätten einwenden können, daß es ihm nicht zustehe, sich auf einen solchen Mann zu berufen, taten sie es dennoch nicht; so groß war ihre Zurückhaltung. Schließlich erschien der Bischof selbst, um ihm zuzureden, was viel heißen will, aber auch dabei kam nichts heraus : Der Hurone stritt sogar mit dem Bischof.

»Weisen Sie mir in dem Buche, das mir mein Onkel gegeben hat, einen einzigen Menschen nach, der nicht im Fluß getauft worden ist, und ich tue alles, was Sie wollen«, sagte er zu ihm.

Die verzweifelte Tante hatte bemerkt, daß die erste Verbeugung, die ihr Neffe vor Fräulein von Saint-Yves gemacht, zugleich auch tiefer gewesen war als alle vor irgend jemand anderem. Nicht einmal den Bischof begrüßte er mit so viel herzlichem Respekt, wie er ihn vor dem schönen Fräulein von Saint-Yves bekundete. In ihrer Bedrängnis beschloß die Tante nun, sich an sie zu wenden. Sie bat sie, ihren Einfluß auf den Huronen geltend zu machen, um ihn zu bewegen, sich wie alle Bretonen taufen zu lassen, denn sie glaubte nicht, ihr Neffe könnte jemals ein Christ werden, wenn er darauf bestände, sich im fließenden Wasser taufen zu lassen. Die heimliche Freude, mit einem so wichtigen Auftrag betraut zu werden, trieb Fräulein von Saint-Yves das Blut in die Wangen. Sie näherte sich bescheiden dem Naturkind, drückte ihm vornehm die Hand und sprach: »Würden Sie auch mir keinen Gefallen tun?«, und während sie diese Worte sprach, senkte und hob sie ihre Augen mit rührender Anmut. »Oh, mein Fräulein«, rief das Naturkind, »für Sie würde ich alles tun, was Sie wollen, alles, was Sie mir befehlen : Wassertaufe, Feuertaufe, Bluttaufe — nichts könnte ich Ihnen abschlagen!« Fräulein von Saint-Yves hatte den Erfolg, mit ein paar Worten das zu erreichen, was weder das Drängen des Priors noch die wiederholten Fragen des Amtsmanns, noch die Darlegung des Herrn Bischofs zustande gebracht hatten. Sie fühlte ihren Triumph, sie war sich aber noch nicht über seinen ganzen Umfang im klaren.

Die Taufe wurde mit großer Sittsamkeit, Pracht und Freude vollzogen und empfangen. Der Onkel und die Tante traten dem Herrn Abt von Saint-Yves und seiner Schwester die Ehre ab, das Naturkind über das Taufbecken zu halten. Fräulein von Saint-Yves strahlte vor Freude über ihre Patenschaft. Sie wußte nicht, was diese hohe Ehre für sie bedeuten würde, sie hatte sie angenommen, ohne ihre verhängnisvollen Folgen zu erkennen. Da noch niemals eine Feierlichkeit ohne ein großes Essen stattgefunden hat, setzte man sich nach Beendigung der Taufe an die Tafel. Die niederbretonischen Witzbolde meinen, seinen Wein dürfe man nicht taufen. Der Herr Prior sagte, der Wein erquicke, nach Salomo, das Herz des Menschen, und der Herr Bischof fügte hinzu, der Erzvater Juda hätte sein Eselsfüllen an einen Weinstock binden und seinen Mantel in das Traubenblut tauchen müssen, und es sei recht traurig, daß man so etwas nicht in der Niederbretagne tun könne, da Gott ihr die Rebe versagt habe. Jeder versuchte, witzige Bemerkungen über die Taufe des Naturkindes zu machen und der Patin ein Kompliment. Der ewig fragende Amtmann erkundigte sich bei dem Huronen, ob er seine Gelübde halten würde. »Wie soll ich sie denn nicht halten«, entgegnete der Hurone, »wenn ich sie in die Hand von Fräulein von Saint-Yves abgelegt habe?« Der Hurone wurde immer animierter und trank viel auf das Wohl seiner Patin. »Wäre ich von ihrer Hand getauft worden, so hätte mich, das fühle ich, das kalte Wasser, das man mir auf den Nacken gegossen hat, verbrannt.« Der Amtmann fand das sehr poetisch, weil er nicht wußte, wie geläufig diese Allegorie in Kanada ist. Die Patin war aber sehr glücklich darüber.

Man hatte dem Täufling den Namen Herkules gegeben, und der Bischof von Saint-Malo fragte fortwährend, wer dieser Schutzpatron sei, von dem er nie gehört hatte. Der Jesuit, der sehr gelehrt war, sagte ihm, er sei ein Heiliger, der zwölf Wunder vollbracht habe. Es gab noch ein drei-zehntes dabei, das die zwölf aufwog, jedoch geziemte es sich nicht für einen Jesuiten, davon zu sprechen, nämlich über das Wunder, daß er in einer einzigen Nacht fünfzig Mädchen in Frauen verwandelt hatte. Ein Spaßvogel in der Gesellschaft hob dieses Wunder besonders hervor, alle Damen senkten ihre Augen und schlössen aus dem Gesichtsausdruck des Naturkindes, daß er des Heiligen, dessen Namen er trug, würdig sei.

 

FÜNFTES KAPITEL

 

Das Naturkind ist verliebt

 

Man muß zugestehen, daß Fräulein von Saint-Yves seit dieser Taufe und diesem Festmahl sich leidenschaftlich wünschte, der Herr Bischof möchte sie mit Herkules dem Naturkind, noch an irgendeiner Zeremonie teilnehmen lassen. Da sie jedoch sehr wohlerzogen und sittsam war, wagte sie nicht, sich selber ihre zärtlichen Empfindungen einzu gestehen. Entschlüpfte ihr aber ein Wort, ein. Blick, eine Gebärde, ein Gedanke, so war alles an den Schleier einer unendlich lieblichen Schamhaftigkeit gehüllt. Sie war zärt-lich, lebhaft und klug.

Sobald der Bischof abgereist war, trafen sich Fräulein von Saint-Yves und das Naturkind, ohne gewahr zu werden, daß sie einander suchten. Sie sprachen miteinander, ohne daß sie sich vorstellten, was sie sagten. Das Naturkind versicherte ihr zunächst, daß er sie von ganzem Herzen liebe und daß die schöne Abacaba, in die er in seiner Heimat

leidenschaftlich verliebt gewesen war, ihr nicht im entferntesten gleichkomme. Das Fräulein erwiderte ihm in ihrer üblichen Bescheidenheit, er solle möglichst bald mit seinem Onkel, dem Herrn Prior, und seinem Fräulein Tante sprechen, und daß sie ihrerseits ihrem Bruder, dem Abt von Saint-Yves, ein paar Worte sagen wolle und auf eine all-gemeine Einwilligung hoffe.

Darauf antwortete der Hurone, er bedürfe keiner Einwilligung, ja, es erscheine ihm höchst lächerlich, die anderen zu fragen, was man zu tun habe. Wenn zwei Parteien einig seien, bedürfe es doch keiner dritten mehr, um sie zusammenzubringen. »Ich befrage niemanden«, rief er, »wenn ich Lust habe, zu essen, zu jagen oder zu schlafen. Ich weiß wohl, daß es in Liebessachen angebracht ist, sich der Einwilligung der Person zu versichern, die man begehrt. Da ich aber weder in meinen Onkel noch in meine Tante ver-liebt bin, brauche ich mich in dieser Angelegenheit nicht an sie zu wenden, und wenn Sie auf mich hören wollen, können Sie auch ohne den Herrn Abt von Saint-Yves fertig werden.«

Man kann sich wohl denken, daß die schöne Bretonin die ganze Geschicklichkeit ihres Verstandes anwandte, um ihren Huronen zu den Gesetzen des Anstandes zurückzu-führen. Sie wurde sogar ein wenig böse, bald jedoch wieder gut. Wer weiß schließlich, wie diese Unterhaltung geendet hätte, wenn der Herr Abt wegen der vorgerückten Stunde seine Schwester nicht in seine Abtei mitgenommen hätte. Das Naturkind ließ seinen Onkel und seine Tante, die von der Feier und dem langen Mahle ein wenig müde waren, ruhig zu Bett gehen. Er selbst verbrachte einen Teil der Nacht damit, zu Ehren seiner Angebeteten Verse in huronischer Sprache zu verfassen, denn man muß wissen, daß es kein Land auf Erden gibt, wo die Leidenschaft die Verliebten nicht zu Dichtern macht.

Am nächsten Morgen wandte sich sein Onkel nach dem Frühstück in Gegenwart des Fräulein von Kerkabon, die ganz gerührt war, an ihn : »Gelobt sei Gott, daß du die Ehre hast, mein lieber Neffe, Christ und Niederbretone zu sein. Aber das genügt nicht. Das Alter drückt schon auf meine Schultern, und mein Bruder hat nur ein kleines Land-gut hinterlassen, das nicht viel wert ist, aber ich habe eine gute Pfründe, und wenn du, wie ich hoffe, mindestens nur Subdiakon werden wolltest, würde ich dir meine Priorei abtreten, und du könntest ein gemächliches Dasein führen, nachdem du der Trost meiner alten Tage gewesen bist.« »Lieber Onkel«, antwortete das Naturkind, »möge es Ihnen immer gut gehen ! Leben Sie, solange Sie nur können. Ich weiß weder, was >Subdiakon< noch was >abtreten< ist, alles soll mir jedoch recht sein, wenn ich nur Fräulein von Saint-Yves bei mir habe.« - »O Gott, lieber Neffe ! Was redest du da. Liebst du denn dieses hübsche Fräulein so wahnsinnig?« - »Gewiß, lieber Onkel.« - »Leider, teurer Neffe, leider ist es unmöglich, daß du sie heiratest.« - »Oh, das ist doch möglich, lieber Onkel, denn sie hat mir beim Fortgehen nicht nur die Hand zärtlich gedrückt, sondern mir auch versprochen, mich zum Manne zu nehmen. Ich werde sie gewiß heiraten.« - »Das ist unmöglich, sagte ich dir doch, sie ist ja deine Patin, und es ist schon eine furchtbare Sünde, wenn eine Patin ihrem Patenkinde zärtlich die Hand drückt. Es ist nicht erlaubt, seine Patin zu heiraten ; die göttlichen und menschlichen Gesetze verbieten das.« — »Sapperlot, Onkel, Sie machen sich über mich lustig. Warum sollte es verboten sein, seine Patin zu heiraten, wenn sie jung und hübsch ist. In dem Buch, das Sie mir gegeben haben, habe ich nichts darüber gefunden, daß es schlecht sei, die Mädchen zu heiraten, die den Leuten zur Taufe verhalfen. Ich merke jeden Tag, daß man hier unendlich viel Dinge begeht, die in Ihrem Buche nicht stehen, und dagegen alles unterläßt, was darinsteht. Ich gestehe Ihnen offen, das wundert und ärgert mich. Wenn man mir die schöne Saint-Yves unter dem Vorwand der Taufe vorenthalten will, so sage ich Ihnen im voraus, ich entführe sie und lasse mich enttaufen.«

Der Prior war entsetzt, seine Schwester weinte. »Lieber Bruder«, sagte sie, »unser Neffe darf diese Sünde nicht auf sich laden. Unser Heiliger Vater, der Papst, kann ihm Dispens erteilen, und dann kann er auf christliche Art mit seiner Liebe glücklich werden.« Das Naturkind umarmte seine Tante. »Wer ist denn der nette Mensch«, fragte er, »der mit so viel Güte den Jungen und Mädeln in ihrer Liebe beisteht? Ich will sofort mit ihm sprechen.« Man setzte ihm auseinander, wer der Papst ist, und das Naturkind war noch verwunderter als vorher. »Von all dem steht ja kein Wort in Ihrem Buche, mein lieber Onkel. Ich habe Reisen gemacht, ich kenne das Meer. Wir sind hier an der Küste des Ozeans, und da soll ich Fräulein von Saint-Yves verlassen und die Erlaubnis, sie zu lieben, von einem Menschen erbitten, der am Mittelmeer, vierhundert Meilen von hier entfernt, lebt, von einem Manne, dessen Sprache ich nicht einmal verstehe ! Das ist ebenso unverständlich wie lächerlich. Ich gehe auf der Stelle zu Herrn Abt von Saint-Yves,der bloß eine Meile von hier entfernt wohnt, und ich bürge Ihnen, daß ich meine Geliebte heute noch heiraten werde.«

Während er so sprach, trat der Amtmann ein und fragte ihn wie gewöhnlich, wohin er gehe. »Mich verheiraten«, antwortete das Naturkind im Davonlaufen. Eine Viertelstunde später war er bereits bei seiner lieben und schönen Niederbretonin, die noch schlief. »Oh, lieber Bruder«, sagte Fräulein von Kerkabon zum Prior, »niemals wird es dir gelingen, aus unserem Neffen einen Subdiakon zu machen !«

Den Amtmann störte dieser Vorgang sehr, denn er hatte sich in den Kopf gesetzt, sein Sohn solle die Saint-Yves heiraten, aber dieser Sohn war noch dümmer und unerträglicher wie sein Vater.

 

SECHSTES KAPITEL

 

Das Naturkind eilt zu seiner Geliebten und wird wütend

 

Als das Naturkind angelangt war und eine alte Dienerin gefragt hatte, wo das Zimmer seiner Geliebten sei, stieß er mit Gewalt eine schlechtverschlossene Tür auf und stürzte sich auf das Bett. Fräulein von Saint-Yves fuhr aus dem Schlafe auf und rief: »Wie ! Sie sind es ! Ha, Sie? Halt, was tun Sie denn?« - »Ich heirate Sie«, erwiderte er und hätte sie in der Tat unversehens geheiratet, wenn sie sich nicht mit der ganzen Ehrsamkeit einer wohlerzogenen Person zur Wehr gesetzt hätte.

Das Naturkind verstand keinen Spaß. Er fand all dieses Getue höchst ungehörig. »So hat sich meine erste Geliebte, Fräulein Abacaba, nicht angestellt! Ihr kennt keine Red-lichkeit. Sie haben mir die Heirat versprochen und widersetzen sich der Heirat : das spottet den einfachsten Gesetzen der Ehre. Ich will Sie lehren, Wort zu halten, ich werde Sie schon auf den Weg der Tugend zurückbringen!« Das Naturkind besaß die Tugenden der Männlichkeit und der Unerschrockenheit — wahrhaft würdig seines Schutzpatrons Herkules, dessen Namen man ihm in der Taufe gegeben hatte. Er schickte sich an, seine Tugenden vollauf spielen zu lassen, als auf die durchdringenden Schreie des noch sittsameren Fräuleins der weise Abt von Saint-Yves mit seiner Haushälterin, einem alten treuen Diener und einem Priester des Kirchspiels herbeigeeilt kam. Ihr An-blick mäßigte den Mut des Stürmers. »O Gott, lieber Nachbar«, rief ihm der Abt zu, »was tun Sie da ?« -»Meine Pflicht«, entgegnete der junge Mann, »ich erfülle mein Versprechen, das heilig ist !« Fräulein von Saint-Yves brachte sich errötend in Ordnung, und der Hurone wurde in ein anderes Zimmer geführt. Der Abt brachte ihm die Ungeheuerlichkeit seines Benehmens zum Bewußtsein, woraufhin sich das Naturkind auf das Naturrecht berief, das er trefflich beherrschte. Der Abt versuchte, ihm zu beweisen, daß das geschriebene Ge-setz vorangehe und daß ohne getroffene Vereinbarungen unter den Menschen das Naturrecht zu einem natürlichen Raubwesen herabsinken würde. »Man braucht also«, sagte er, »Notare, Priester, Zeugen, Kontrakte und Dispense.« Das Naturkind antwortete ihm mit dem Einwand, den die Wilden immer machen: »Ihr seid wohl recht unehrliche Leute, wenn ihr so viel Vorsichtsmaßregeln braucht.« Es kostete dem Abt viel Mühe, diesen Vorwurf zurückzuweisen. »Ich gebe zu«, sagte er, »daß es unter uns viel Un-zuverlässige und viel Spitzbuben gibt; bei den Huronen wäre es ebenso, wenn sie in großen Städten wohnten. Es gibt aber auch bei uns Weise, Rechtschaffene und einsich-tige Personen, und gerade sie haben die Gesetze geschaffen. Je wohlgesinnter ein Mensch ist, desto mehr muß er sich den Gesetzen fügen ; so gibt er den Lasterhaften ein gutes Beispiel, und diese fühlen Respekt vor einem Zügel, den sich die Tugend selbst anlegt.«

Diese Antwort verblüffte das Naturkind. Es wurde bereits bemerkt, daß er einen guten Verstand besaß. Nun besänftigte man ihn durch freundliche Worte und machte ihm Hoffnungen : Das sind die beiden Fallen, in die die Menschen beider Welten stets gehen. Man brachte sogar Fräulein von Saint-Yves zu ihm, nachdem sie ihre Toilette beendet hatte. All das ging sehr schicklich vor sich, aber trotz aller Zurückhaltung funkelten die Augen des Naturkindes Herkules dermaßen, daß seine Geliebte immer die Augen senkte und die übrigen Anwesenden zitterten.

Es kostete ungeheure Mühe, ihn zu seinen Verwandten zurückzuschicken. Man mußte sogar noch einmal den Einfluß der schönen Saint-Yves zu Hilfe rufen, und je mehr sie sich ihrer Macht über ihn bewußt wurde, desto herzlicher liebte sie ihn. Sie schickte ihn fort, worüber sie selbst sehr betrübt war. Als er endlich gegangen war, faßte der Abt, der der ältere Bruder und auch der Vormund des Fräulein von Saint-Yves war, den Entschluß, sein Mündel den Leidenschaften dieses gefährlichen Liebhabers zu entziehen. Er beriet sich mit dem Amtmann, der die Schwester des Abtes für seinen Sohn bestimmt hatte und nun vorschlug, das arme Mädchen in ein Kloster zu bringen. Das war ein furchtbarer Schlag. Sogar ein gefühlloses Wesen würde, wenn man es hinter Klostermauern brächte, zum Himmel schreien, und wieviel mehr eine Liebende und noch dazu eine so vernünftige und zärtlich Liebende ! Das würde sie zur Verzweiflung bringen.

Beim Prior erzählte das Naturkind alles in seiner üblichen Naivität, und ihm wurden dieselben Vorwürfe gemacht, die zwar Eindruck auf seinen Verstand, aber nicht im ge-ringsten auf seine Sinne ausübten. Als er jedoch am nächsten Morgen zu seiner schönen Geliebten gehen wollte, um sich mit ihr über das Naturgesetz und das von den Menschen geschaffene Gesetz zu unterhalten, teilte ihm der Amtmann voller Schadenfreude mit, daß sie in einem Kloster sei. »Nun wohl«, sagte er, »so werden wir im Kloster miteinander sprechen.« — »Das geht nicht«, entgegnete der Amtmann und setzte ihm lang und breit auseinander, was ein Kloster und ein Konvent sei, das letzte Wort stamme vom lateinischen conventus und bedeute >Zusammenkunft<. Der Hurone konnte nicht begreifen, warum man ihm diese Zusammenkunft nicht zuließ. Als man ihm jedoch erklärt hatte, daß dieses Kloster eine Art Gefängnis sei, in dem man die Mädchen eingesperrt hielte - eine entsetzliche Einrichtung, die es bei den Huronen und Engländern nicht gab - wurde er so wütend wie einst sein Schutzpatron Herkules, als ihm Eurytus, der König von Öchalia, in ebenso grausamer Art wie der Abt von Saint-Yves seine reizende Tochter Jole abschlug, die ebenso schön war wie die Schwester des Abtes. Er wollte das Kloster in Brand stecken, seine Geliebte entführen oder sich mit ihr zusammen verbren-nen. Das entsetzte Fräulein von Kerkabon ließ mehr denn je alle Hoffnung fahren, ihren Neffen einmal als Subdiakon zu sehen, und weinend rief sie, seit seiner Taufe habe er den Teufel im Leibe.,

 

SIEBENTES KAPITEL

 

Das Naturkind schlägt die Engländer zurück

 

In abgrundtiefe Melancholie versunken, ging das Naturkind, seine Doppelflinte auf der Schulter, seinen großen Hirschfänger an der Seite, am Meeresufer entlang. Ab und zu schoß er nach Vögeln und war oft versucht, auf sich selbst zu schießen, doch er liebte das Leben noch um des Fräulein von Saint-Yves willen. Einmal verfluchte er seinen Onkel, seine Tante, die ganze Niederbretagne und seine Taufe, dann aber segnete er sie, weil er durch sie die kennengelernt hatte, die er liebte. Er verbiß sich in seinen Entschluß, das Kloster in Brand zu stecken, hielt dann aber inne aus Furcht, seine Geliebte mit zu verbrennen. Die Wogen des Ärmelkanals werden von den Ost- und Westwinden nicht stärker bewegt als sein Herz von all diesen widerstrebenden Gefühlen.

Mit großen Schritten wanderte er ziellos weiter, als er plötzlich den Klang einer Trommel vernahm. Er sah in der Ferne eine Volksmenge, von der die eine Hälfte ans Ufer lief, während die andere floh. Von allen Seiten drang ein tausendfältiges Geschrei zu ihm,

und voller Neugier und Mut stürzte er im Nu nach der Stelle, von der die Klagerufe kamen ; mit vier großen Sätzen war er dort. Der Hauptmann der Miliz, der mit ihm zusammen bei dem Prior gespeist hatte, erkannte ihn sofort und lief mit offenen Armen auf ihn zu : »Ach ! Das ist ja unser Naturkind ! Er wird für uns kämpfen.« Und die Bür-gersoldaten, die vor Angst fast vergingen, faßten sich wieder und riefen ebenfalls : »Das Naturkind ist da ! Das Naturkind ist da !«

»Meine Herren«, fragte er, »was ist denn passiert ? Warum sind Sie so aufgeregt? Hat man Ihre Bräute in Klöster gesteckt?« Hundert verwirrte Stimmen riefen ihm entgegen : »Sehen Sie denn nicht, daß die Engländer anlegen?« - »O ja«, erwiderte der Hurone, »das sind wackere Leute. Sie haben mir niemals vorgeschlagen, Subdiakon zu werden, und haben mir auch nicht mein Liebchen entführt.« Der Hauptmann erklärte ihm, daß die Engländer die Abtei vom Berge ausplündern, den Wein seines Onkels austrinken und womöglich auch Fräulein von Saint-Yves entführen wollten. Das kleine Schiff, mit dem er nach der Bretagne gekommen war, hätte man nur ausgesandt, um die Küste aus-zukundschaften. Die Engländer eröffneten Feindseligkeiten, ohne dem König von Frankreich den Krieg erklärt zu haben, und die ganze Provinz sei verloren. »Hm, wenn die Dinge so stehen, dann handeln sie wider das Naturgesetz. Lassen Sie mich jedoch machen. Ich habe lange bei ihnen gelebt, beherrsche ihre Sprache und will mit ihnen sprechen. Ich glaube nicht, daß sie so schlechte Absichten haben.«

Während dieses Gespräches näherte sich das englische Geschwader der Küste. Der Hurone stürzte davon, warf sich in ein kleines Boot, ruderte hinüber, stieg auf das Admiralsschiff und fragte, ob es wahr sei, daß sie das Land ohne eine ordnungsgemäße Kriegserklärung verwüsten wollten. Der Admiral und die ganze Besatzung brachen in lautes Gelächter aus, gaben ihm Punsch zu trinken und schickten ihn zurück. Der gekränkte Hurone dachte nur noch daran, sich tapfer für seine Landsleute und den Herrn Prior gegen seine früheren Freunde zu schlagen. Von allen Seiten eilten die Edelleute aus der Umgebung herbei und schlössen sich ihm an. Man hatte ein paar Kanonen, er lud sie, zielte und schoß eine nach der anderen ab. Als die Engländer ans Land sprangen, warf er sich ihnen entgegen, streckte drei auf einen Schlag nieder und verwundete den Admiral, der sich über ihn lustig gemacht hatte. Seine Tapferkeit feuerte den Mut der ganzen Miliz an, die Engländer flohen auf ihre Schiffe, und die ganze Küste erdröhnte von Siegesrufen: »Es lebe der König! Es lebe das Naturkind !« Alle umarmten ihn, jeder drängte sich heran und suchte das Blut seiner leichten Verwundungen zu stillen. »Ach«, rief er, »wenn Fräulein von Saint-Yves hier wäre, würde sie mir einen Umschlag machen.« Der Amtmann, der sich während des Kampfes in seinem Keller versteckt hatte, eilte herbei, um ihn wie die anderen zu beglückwünschen. Er war jedoch überrascht, als er Herkules, den Unbefangenen, zu einem Dutzend junger tatenlustiger Männer, die um ihn standen, sagen hörte : »Meine Freunde, es ist nichts Besonderes, daß die Abtei vom Berge frei ist ; es gilt, ein Mädchen zu befreien !« Die ganze erregte Jugend fing Feuer, und eine große Menge lief mit ihm zum Kloster. Hätte der Amtmann nicht auf der Stelle den Haupt-mann benachrichtigt, wäre mancher fröhlichen Kämpferschar nicht nachgestürzt, so wäre es um das Kloster geschehen. Das Naturkind brachte man zu seinem Onkel und seiner Tante zurück, und sie badeten ihn in Tränen der Liebe. »Ich sehe ein, daß du niemals Subdiakon oder Prior wirst«, sagte sein Onkel zu ihm, »du wirst ein tapferer Offizier werden, noch tapferer als mein Bruder, der Hauptmann, und wahrscheinlich noch bettelärmer als er.«

Fräulein von Kerkabon umarmte ihn immer wieder unter Tränen und sagte : »Er wird sich töten lassen wie mein Bruder, oh, wenn er doch lieber Subdiakon werden wollte !« Während des Kampfes hatte das Naturkind eine große mit Guineen gefüllte Börse aufgehoben, die wahrscheinlich der Admiral verloren hatte. Er war überzeugt, daß er mit dem Inhalt dieser Börse die ganze Niederbretagne kaufen und vor allem Fräulein von Saint-Yves zu einer großen Dame machen könnte. Jedermann riet ihm, nach Versailles zu fahren, um dort den Lohn für seine Dienste zu empfangen. Der Hauptmann und die höheren Offiziere überhäuften ihn mit Empfehlungsschreiben, und auch der Onkel und die Tante billigten diese Reise ihres Neffen. Er würde sicherlich ohne Schwierigkeiten dem König vorgestellt werden, und das allein mußte ihm zu einem ungeheuren Ansehen in der Provinz verhelfen. Die beiden guten Leutchen fügten zum Inhalt der englischen Börse ein beträchtliches Geschenk aus ihren Ersparnissen hinzu. »Wenn ich den König sehe«, sagte sich das Naturkind, »will ich von ihm Fräulein von Saint-Yves zur Frau erbitten, und er wird sicherlich nicht nein sagen.« Unter Beifallszurufen der gesamten Be-völkerung der Provinz, fast erstickt von Umarmungen, benetzt von den Tränen seiner Tante und von seinem Onkel gesegnet, reiste er ab und empfahl sich der schönen Saint-Yves.

 

ACHTES KAPITEL

 

Das Naturkind begibt sich an den Hof, unterwegs speist es mit Hugenotten

 

Das Naturkind reiste über Saumur mit der Landkutsche, denn damals gab es keine andere Fahrgelegenheit. Als er in Saumur ankam, war er erstaunt, daß die Stadt fast verödet dalag und viele Familien im Aufbruch waren. Man erzählte ihm, sechs Jahre vorher habe Saumur mehr als fünfzehn-tausend Bewohner gehabt, jetzt wären es höchstens noch sechstausend. Beim Abendessen in seinem Gasthof brachte er die Rede darauf. Mit ihm saßen mehrere Protestanten am Tisch: Die einen beklagten sich bitter, die anderen zit-terten vor Wut, und wieder andere sagten weinend : »Nos dulcia linquimus arva, nos patriam fugimus.« Das Naturkind, das Latein nicht verstand, ließ sich diese Worte über-setzen: »Wir fliehen der Heimat holde Gebreite, fliehen das Heimatland.«

»Und warum fliehen Sie aus Ihrem Heimatland, meine Herren?« - »Weil wir den Papst anerkennen sollen.« - »Und warum wollen Sie ihn nicht anerkennen? Haben Sie denn keine Patinnen, die Sie heiraten möchten? Man sagte mir, daß nur er dazu die Erlaubnis geben kann.« - »Ach, mein Herr, dieser Papst behauptet, Herr über die Länder aller •Könige zu sein !« — »Welchen Beruf betreiben Sie denn, meine Herren?« - »Wir sind zum größten Teil Tuchweber und Fabrikanten.« - »Wollte Ihr Papst behaupten, Herr über Ihr Tuch und Ihre Fabriken zu sein, so täten Sie recht daran, ihn nicht anzuerkennen. Was aber die Könige betrifft, so ist das doch deren Sache, warum mischen Sie sich also ein?« Darauf ergriff ein kleiner schwarzgekleideter Mann das Wort und schilderte sehr gelehrt die Nöte der Gefährten. Er sprach mit so viel Nachdruck von der Aufhebung des Ediktes von Nantes und betrauerte mit so viel Pathos das Geschick von fünfzigtausend Flüchtlingsfamilien und fünfzigtausend anderen durch die Dragoner bekehrten Familien, daß das Naturkind nun seinerseits in Tränen zerfloß. »Woher kommt es nur, daß ein so großer König, dessen Ruhm bis zu den Huronen reicht, sich so vieler Herzen, die ihn lieben, und so vieler Arme, die ihm gedient hätten, beraubt !« »Weil man ihn ebenso wie alle anderen großen Könige getäuscht hat«, antwortete der schwarzgekleidete Mann, »man hat ihm eingeredet, er brauche nur ein Wort zu sagen, und alle Welt würde so denken wie er, und so könnte er auch uns unsere Religion wechseln lassen, wie sein Musiker Lully im Nu die Kulissen seiner Opern auswechseln läßt. Der König hat dadurch nicht nur fünf- bis sechstausend sehr nützliche Untertanen eingebüßt, sondern er hat sich daraus sogar Feinde geschaffen. Der König Wilhelm, der gegenwärtig Herrscher von England ist, hat schon mehrere Regimenter aus ebendiesen Franzosen zusammengestellt, die sonst für ihren Fürsten kämpfen würden.« »Ein solches Unheil ist um so erstaunlicher, da der regierende Papst, dem Ludwig XIV. einen Teil des Volkes opfert, sein erklärter Feind ist. Schon seit neun Jahren liegen sie miteinander in heftigem Streit, der so weit gegangen ist, daß Frankreich hoffen durfte, von dem Joch, dem es seit Jahrhunderten von diesem Fremden unterworfen war, endlich befreit zu werden, und vor allem, daß man aufhören würde, ihm Geld zu geben, was bei diesen Geschäften die Hauptsache ist. Zweifellos hat man den großen König sowohl über seine Vorteile wie über den Bereich seiner Macht getäuscht und hat den Edelmut seines Herzens mißbraucht.« Unser Naturkind war immer ergriffener und fragte, wer denn die Franzosen seien, die einen selbst den Huronen teuren Fürsten dermaßen hintergingen. »Die Jesuiten sind es«, antwortete man ihm, »und vor allem der Pater de La Chaise, der Beichtvater Seiner Majestät. Wir wollen hoffen, daß Gott sie eines Tages bestraft und daß sie davongejagt werden, so wie sie es heute mit uns tun. Kann man ein Unglück mit dem unseren vergleichen? Von allen Seiten hetzt Herr von Louvois Jesuiten und Dragoner auf uns.« »Hören Sie«, rief das Naturkind, das nicht mehr an sich halten konnte, »ich fahre nach Versailles, um die Belohnung für meine Verdienste in Empfang zu nehmen. Ich werde

mit Herrn von Louvois sprechen. Man sagte mir, daß er und sein Kabinett über Krieg und Frieden zu bestimmen haben. Ich werde auch den König sehen und will ihm die Wahrheit sagen. Es ist unmöglich, sich ihr weiter zu verschließen, wenn man sie einmal erkannt hat. Ich komme bald zurück, um Fräulein von Saint-Yves zu heiraten, und ich lade Sie alle zu meiner Hochzeit ein !« Die guten Leute hielten ihn nun für einen hohen Herrn, der inkognito mit der Landkutsche reiste; manche hielten ihn jedoch für den Hofnarren des Königs.

Bei Tisch hatte sich auch ein verkappter Jesuit befunden, der dem hochwürdigen Pater de La Chaise als Spion diente. Er erstattete ihm über alles Bericht, und Pater de La Chaise verständigte Herrn von Louvois. Das Naturkind und der Brief des Spions kamen fast gleichzeitig in Versailles an.

 

NEUNTES KAPITEL

 

Ankunft des Naturkindes in Versailles

Sein Empfang bei Hofe

 

Das Naturkind entstieg dem Nachttopf — dem Wagen von Paris nach Versailles - im Küchenhof und fragte die Sänftenträger, wann der König zu sprechen sei. Die Träger lachten ihm ebenso ins Gesicht, wie der englische Admiral es getan hatte, und er behandelte sie ebenso wie jenen : er verprügelte sie. Sie wollten es ihm zurückzahlen, und der Auftritt hätte wohl blutig geendet, wenn nicht ein bretonischer Edelmann von der Leibgarde hinzugekommen wäre, der das Pack auseinandertrieb. »Mein Herr«, redete ihn der Reisende an, »Sie scheinen ein wackerer Mann zu sein. Ich bin der Neffe des Herrn Prior Unserer lieben Frau vom Berge. Ich habe die Engländer getötet und bin hier, um den König zu sprechen. Bitte führen Sie mich in sein Zimmer.«

Per Gardist war entzückt, einen Landsmann vor sich zu sehen. Der schien sich aber in den Sitten des Hofes nicht auszukennen, und so erklärte er ihm, daß man den König nicht ohne weiteres sprechen könne, sondern von Seiner Exzellenz, dem Herrn von Louvois, vorgestellt werden müsse. »Nun, so führen Sie mich zu diesem Herrn von Louvois, der mich wohl dem König vorstellen wird.« - »Es ist noch weit schwieriger, Herrn von Louvois zu sprechen als Seine Majestät«, erklärte ihm der Gardist, »aber ich will Sie zu Herrn Alexander, dem obersten Beamten im Kriegsministerium, bringen, das ist so gut, als ob Sie den Minister selbst sprechen.« Sie begaben sich also zu dem Herrn Alexander, wurden aber nicht vorgelassen, da er gerade mit einer Hofdame Geschäftliches erledigen wollte und angeordnet hatte, niemanden zu empfangen. »Bah«, sagte der Gardist, »dadurch ist noch nichts verloren. Wir gehen zum Obersekretär des Herrn Alexander; das ist so gut, als ob Sie mit Herrn Alexander selbst sprächen.«

Der Hurone folgte ihm, außer sich vor Verwunderung. Eine halbe Stunde lang mußten sie dann in einem kleinen Vorzimmer warten. »Was soll das alles?« fragte das Naturkind. »Ist denn in diesem Lande niemand anzutreffen? Es ist leichter, sich in der Niederbretagne mit den Engländern zu schlagen, als in Versailles die Personen zu treffen, mit denen man zu tun hat.« Um die Langeweile zu vertreiben, erzählte er seinem Landsmann seine Liebesgeschichte. Aber dann schlug die Uhr und rief den Gardisten auf seinen Posten. Sie verabredeten, sich am nächsten Tage wiederzutreffen, und das Naturkind blieb noch eine halbe Stunde lang im Vorzimmer sitzen und sann über Fräulein von Saint-Yves und über die Schwierigkeiten nach, die es gab, wenn man Könige oder Obersekretäre sprechen wollte. Endlich erschien der Beamte. »Mein Herr«, redete ihn das Naturkind an, »wenn ich mir so viel Zeit genommen hätte, um die Engländer zurückzuschlagen, wie Sie mich hier haben warten lassen, so hätten die Feinde jetzt nach Herzenslust die Niederbretagne dem Boden gleichgemacht.« Diese Worte verblüfften den Beamten. »Was wollen Sie?« fragte er den Bretonen. »Belohnung«, erwiderte dieser, »hier sind meine Papiere«, und er breitete vor ihm alle Bescheinigungen aus. Der Beamte las sie durch und sagte, man würde ihm wahrscheinlich die Erlaubnis erteilen, eine Leutnantsstelle zu kaufen. »Was? Ich soll noch Geld zahlen dafür, daß ich die Engländer zurückgeschlagen habe? Ich soll für das Recht zahlen, mich für Euch töten zu lassen, während Ihr hier in aller Gemütsruhe Audienzen erteilt? Ich glaube, Sie wollen sich über mich lustig machen. Ich will umsonst ein Kavallerieregiment haben. Ich möchte ferner, daß der König Fräulein von Saint-Yves aus dem Kloster befreit und sie mir zur Frau gibt. Und dann will ich mit dem König über fünfzigtausend Familien sprechen, die ich ihm wiederzugeben beabsichtige. Kurzum, ich will mich nützlich machen; man soll sich meiner bedienen und mich befördern.«

»Wie heißen Sie denn, mein Herr, der Sie so großartig reden?« — »Oho«, rief das Naturkind, »Sie haben also meine Unterlagen nicht durchgelesen? Verfährt man hier so? Ich heiße Herkules von Kerkabon, bin getauft worden und wohne im Gasthof >Zum blauen Zifferblatt«. Ich werde mich über Sie beim König beschweren.« Wie die Leute in Saumur, so schloß auch der Beamte, er habe es mit einem Menschen zu tun, der nicht ganz klar im Kopf sei, und er achtete nicht weiter auf ihn.

Am selben Tage hatte der hochwürdige Pater de La Chaise, der Beichtvater Ludwigs XIV., einen Brief von seinem Spion erhalten, in dem er den Bretonen Kerkabon beschul-digte, die Hugenotten zu unterstützen und das Vorgehen der Jesuiten zu verdammen. Andererseits hatte Herr von Louvois einen Brief von dem fragesüchtigen Amtmann be-kommen, der das Naturkind als einen Taugenichts hinstellte, der Klöster in Brand stecken und Mädchen entführen wollte.

Nachdem das Naturkind, das sich in Versailles langweilte, in den Gärten spazierengegangen war und nachdem er als Hurone und Niederbretone zu Abend gegessen hatte, legte er sich in der süßen Hoffnung zu Bett, am nächsten Morgen den König zu sprechen, Fräulein von Saint-Yves zur Frau zu bekommen, mindestens eine Reiterschwadron zu erhalten und den Hugenottenverfolgungen ein Ende zu machen. Er wiegte sich in diesen schmeichelhaften Gedanken, als plötzlich Gendarmen sein Zimmer betraten und sich zunächst seiner Doppelflinte und seines großen Säbels bemächtigten. Sein bares Geld wurde gezählt, und man brachte ihn in das Schloß, das König Karl V., der Sohn Johanns IL, neben der Rue Saint-Antonie am Tournellentor erbaut hatte.

Wie groß die Verwunderung des Naturkindes unterwegs war, mag sich jeder selbst ausmalen. Anfangs glaubte er zu träumen und war wie betäubt, aber dann überkam ihn plötzlich eine Wut, die seine Kraft verdoppelte. Er packte zwei der Wächter, die mit ihm im Wagen saßen, bei der Gurgel, warf sie zur Wagentür hinaus, sprang ihnen nach und riß den dritten, der ihn festhalten wollte, mit sich. Die Wucht seines Sprunges schleuderte ihn zu Boden, man überwältigte ihn, fesselte ihn und setzte ihn wieder in den Wagen. »Das hat man davon«, rief er, »daß man die Engländer aus der Niederbretagne vertrieben hat ! Was würdest du sagen, du schöne Saint-Yves, wenn du mich in diesem Zustande sehen könntest !«

Schließlich waren sie angekommen, wo man ihn unterbringen wollte. Man trug ihn schweigend in den Raum, in dem er eingesperrt werden sollte, so wie man einen Toten auf den Friedhof trägt. In diesem Raum saß bereits ein alter Einsiedler von Port-Royal namens Gordon, der dort schon zwei Jahre lang schmachtete. »Hallo«, rief ihm der Ober-scherge zu, »hier bringe ich Euch Gesellschaft«, und sofort wurden die ungeheuren Riegel wieder vor die schwere, mit dicken Eisenstangen beschlagene Tür geschoben, wodurch die beiden Gefangenen von der ganzen Welt getrennt waren.

 

ZEHNTES KAPITEL

 

Das Naturkind ist mit einem Jansenisten

in der Bastille eingekerkert

 

Herr Gordon war ein lebhafter, munterer Greis, der sich auf zwei große Dinge verstand: Mißgeschick zu ertragen und Unglückliche zu trösten. Freimütig und voller Mitgefühl trat er auf seinen Gefährten zu, umarmte ihn und sagte : »Wer Sie auch sein mögen, der da kommt, um mein Grab mit mir zu teilen, seien Sie sicher, daß ich mich stets hintenansetzen werde, um Ihre Qualen in diesem Höllengrund, in den man uns geworfen hat, zu lindern. Wir wollen die Vorsehung anbeten, die uns hierher verschlagen hat, wir wollen ergeben leiden und hoffen.« Diese Worte übten auf die Seele des Naturkindes die Wirkung jener »englischen Tropfen« aus, die einen Sterbenden ins Leben zurückrufen und ihn erstaunt die Augen aufschlagen lassen. Gleich nach der ersten Begrüßung erweckte Gordon in dem Naturkind — ohne daß er ihn drängte und allein durch seine sanften Worte und die Teilnahme, die zwei Un-glückliche füreinander haben —den Wunsch, ihm sein Herz zu öffnen und die Ursache seines Unglücks zu erzählen. Der Grund seines Mißgeschicks war ihm aber völlig unklar ; es schien ihm ganz und gar unbegründet zu sein, und der gute Gordon war ebenso erstaunt wie er selbst.

»Gott muß mit Ihnen große Dinge vorhaben«, meinte der Fansenist, »da er Sie vom Ontariosee nach England und Frankreich schickte, Sie in der Niederbretagne taufen ließ und zu Ihrem Seelenheil hierhergebracht hat.« - »Weiß Gott«, erwiderte das Naturkind. »Ich glaube, an meinem Schicksal hat allein der Teufel die Hand im Spiel. Meine amerikanischen Landsleute hätten mich niemals so barbarisch behandelt, wie ich es hier erlitten habe; so etwas können sie sich nicht vorstellen. Man nennt sie zwar Wilde, aber sie sind rechtschaffene, einfache Menschen, während die Leute hierzulande raffinierte Halunken sind. Ich wundere mich, offen gestanden, sehr darüber, daß ich aus einem anderen Weltteil herübergekommen bin, um hier mit einem Priester hinter Schloß und Riegel zu sitzen. Wenn ich aber an die ungeheure Zahl der Menschen denke, die die eine Halbkugel auf der Erde verlassen, um auf der anderen ihr Leben zu verlieren oder auf der Überfahrt Schiffbruch zu erleiden und von Fischen gefressen zu werden, so kann ich an all diesen Menschen die gnadenreichen Absichten Gottes nicht erkennen.«

Durch ein Türfenster schob man ihnen das Mittagessen hinein. Die Unterhaltung drehte sich um die Vorsehung, die geheimen Haftbefehle und um die Kunst, dem Mißgeschick zu entgehen, dem jeder einzelne in dieser Welt ausgesetzt ist. »Ich bin schon seit zwei Jahren hier«, sagte der Greis, »und habe keinen anderen Trost als mich selber und meine Bücher, und doch war ich nicht einen Augenblick mißmutig.«

»Oh, Herr Gordon«, rief das Naturkind, »dann lieben Sie Ihre Patin nicht ! Wenn Sie Fräulein von Saint-Yves so wie ich kennen würden, wären Sie verzweifelt.« Bei diesen Worten konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten und fühlte sich dann etwas erleichtert. »Wie kommt es, daß uns Tränen erleichtern?« fragte er. »Ich finde, sie müßten

eher eine entgegengesetzte Wirkung haben.« - »Alles an uns ist rein körperlich, mein Sohn«, erklärte ihm der gute Alte, »jede Ausscheidung tut dem Körper wohl, und alles, was ihn erleichtert, erleichtert auch die Seele : Wir sind Werkzeuge der Vorsehung.«

Das Naturkind, das, wie wir wiederholt bemerkt haben, große Geistesgaben besaß, stellte über diesen Gedanken, der im Keime stets in ihm geruht zu haben schien, tiefe Be-trachtungen an und fragte dann seinen Gefährten, warum sein Werkzeug seit zwei Jahren hinter Schloß und Riegel säße. »Dank der wirkenden Gnade Gottes«, erwiderte Gordon, »ich gelte als Jansenist und habe Arnauld und Nicole gekannt; wir werden von den Jesuiten verfolgt. Unserer Meinung nach ist der Papst genauso ein Geistlicher wie jeder andere, und deshalb hat der Pater de La Chaise vom König, seinem Beichtkind, die Erlaubnis erhalten, mich ohne jede gerichtliche Formalität des kostbarsten Gutes der Menschen, nämlich der Freiheit, zu berauben.« - »Wie merkwürdig«, rief das Naturkind, »alle Unglücklichen, denen ich bisher begegnet bin, waren unglücklich durch die Schuld des Papstes !«

»Was jedoch Ihre wirkende Gnade betrifft, so muß ich zugeben, daß ich nichts davon verstehe, doch ich halte es für eine große Gnade, daß Gott mich in meinem Unglück einen Menschen wie Sie hat finden lassen, der meiner Seele einen Trost gibt, für den ich kein Gefühl zu haben glaubte.«

Mit jedem Tag wurde ihre Unterhaltung interessanter und lehrreicher. Die Seelen der beiden Gefangenen schlössen sich eng aneinander an. Der Greis wußte viel, und der junge Mann wollte viel lernen. Nach Verlauf eines Monats studierte er bereits Geometrie, er verschlang sie geradezu. Gordon gab ihm das Physikbuch von Rohault zu lesen, das damals sehr geschätzt war, aber der Hurone hatte so viel gesunden Menschenverstand, daß er darin nur Un-wahrscheinliches fand.

Darauf las er den ersten Band von Malebranches »Suche nach der Wahrheit«, und diese neue Erkenntnis erleuchtete ihn. »Wie«, rief er, »unsere Einbildungskraft und unsere Sinne täuschen uns dermaßen ! Was ! Die Gegenstände formen unsere Vorstellungen, und wir können sie nicht selbst erwecken !« Als er den zweiten Band gelesen hatte, war er nicht mehr so befriedigt, und er schloß daraus, daß es leichter sei, zu zerstören, als aufzubauen. Sein Gefährte war erstaunt, daß ein junger Nichtswisser derartige Überlegungen anzustellen vermochte, deren sonst nur erfahrene Leute fähig waren. Er bekam eine hohe Meinung von seinem Verstand und schloß sich ihm noch enger an.

»Es kommt mir so vor«, sagte eines Tages das Naturkind zu ihm, »als ob Ihr Malebranche die eine Hälfte seines Buches1 mit seinem Verstand geschrieben hätte und die andere mit seiner Phantasie und seinen Vorurteilen !« Einige Tage darauf fragte ihn Gordon : »Was denken Sie wohl von unserer Seele, von der Art und Weise, wie wir, unsere Vorstellungen empfangen, von unserem Willen, von der Gnade und dem freien Handeln?« -»Nichts«, erwiderte ihm das Naturkind. »Würde ich darüber nachdenken, so wäre ich der Meinung, daß wir ebenso wie die Gestirne und die Elemente der Macht des höchsten Wesens unterstehen, daß es alles in uns bewirkt, daß wir die kleinen Räder an der großen Maschine sind, deren Seele es ist, und daß es nach allgemeinen Gesetzen und nicht aus besonderen Veranlassungen handelt. Das allein scheint mir verständlich, alles übrige ist für mich ein Abgrund der Finsternis.«

»Aber, mein Sohn, das hieße ja Gott zum Urheber der Sünde machen !« - »Und Ihre wirkende Gnade, mein Vater, macht sie nicht auch Gott zum Urheber der Sünde, denn sicherlich müssen alle diejenigen, denen diese Gnade versagt wird, sündigen. Und wer uns dem Bösen ausliefert, ist er nicht auch der Urheber des Bösen?« Diese Naivität trieb den guten Mann sehr in die Enge. Er fühlte, daß er vergebliche Anstrengungen machte, um sich aus der Klemme zu ziehen, und er häufte so viele Worte aufeinander, die Sinn zu haben schienen, in Wirklichkeit jedoch keinen hatten (etwa in der Art der »physischen Willensbestimmung«), worauf das Naturkind Mitleid mit ihm hatte. Die Frage hing offenbar mit dem Ursprung von Gut und Böse zusammen, und so mußte der arme Gordon nacheinander die Büchse der Pandora, das von Ahriman durchbohrte Ei des Ormuzd, die Feindschaft zwischen Typhon und Osiris und schließlich noch die Erbsünde vorbringen; und dann tappten sie beide in dieser nächtlichen Finsternis umher, ohne sich zu finden. Aber schließlich lenkte dieser Seelenroman ihre Aufmerksamkeit von der Betrachtung ihres eigenen Elends ab, und durch einen seltsamen Zauber minderte die Fülle der über das Weltall aus-gebreiteten Plagen das Gefühl ihrer eigenen Not: Wo alles litt, wagten sie nicht, sich zu beklagen. In der Stille der Nacht jedoch verwischte das Bild der schönen Saint-Yves im Geiste ihres Anbeters alle metaphysischen und moralischen Gedanken. In Tränen gebadet, wachte er auf, und der alte Jansenist vergaß seine wirkende Gnade, den Abt von Saint-Cyran und Jansenius, um einen jungen Menschen zu trösten, den er in eine Todsünde verstrickt wähnte. Außer ihrer Lektüre und ihren Betrachtungen sprachen sie noch von ihren Erlebnissen, und nachdem sie das ohne jeden Nutzen getan hatten, lasen sie wieder einzeln oder zusammen. Der Geist des jungen Mannes stärkte sich immer mehr. Hätte ihn Fräulein von Saint-Yves nicht abgelenkt, wäre er vor allem in der Mathematik sehr weit gekommen.

Er las auch Geschichte, aber sie stimmte ihn traurig; die Welt erschien ihm zu böse und zu elend. Die Geschichte ist in der Tat nichts anderes als ein Spiegel der Verbrechen und des Unglücks. Die unschuldige und friedfertige Menge verschwindet auf diesem riesigen Schauplatz stets, die handelnden Personen sind immer nur entartete Ehrgeizlinge- Es hat den Anschein, daß man an der Geschichte nur wie an einem Trauerspiel Gefallen finden kann, das aber langweilt, sobald es nicht von Leidenschaften, Missetaten und großen Verhängnissen belebt ist. Klio muß ebenso wie Melpomene mit dem Dolch bewaffnet sein.

Obwohl die Geschichte Frankreichs ebenso wie alle anderen von Greueln überhäuft ist, erschien sie ihm in ihren Anfängen so widerwärtig, in den mittleren Teilen so trocken und schließlich so unbedeutend, selbst zur Zeit Heinrichs IV., ferner aller großen Denkmäler bar und vollkommen unbeteiligt an den schönen Entdeckungen, die anderen Völkern zur Zierde gereichten. Er mußte gegen die Langeweile ankämpfen, um alle Einzelheiten der schweren, in einem Winkel der Welt zusammengedrängten Nöte zu Ende zu lesen.

Gordon dachte wie er. Die beiden lachten mitleidig, als von Herrschern von Fezensac, Fezensaguet und Astarac die Rede war. Diese Studien hätten allenfalls ihren Erben etwas nützen können, wenn welche dagewesen wären. Die schönen Jahrhunderte der römischen Republik stimmten ihn für eine Weile gleichgültig gegen den übrigen Teil der Erde. Das Schauspiel des siegreichen Roms, das für die Völker Gesetze schuf, ließ sein ganzes Herz schwellen. Er glühte, wenn er an dieses Volk dachte, das siebenhundert Jahre lang von der Begeisterung für Freiheit und Ruhm geleitet war. So vergingen Tage, Wochen und Monate; und hätte er nicht geliebt, so würde er sich an der Stätte der Verzweiflung glücklich gefühlt haben.

Sein gutes Herz litt auch bei dem Gedanken an den Prior Unserer lieben Frau vom Berge und die liebevolle Kerkabon. »Was werden sie nur denken«, wiederholte er oft, »wenn sie keine Nachricht von mir bekommen? Sie werden mich für undankbar halten !« Dieser Gedanke quälte ihn, und er beklagte die, die ihn liebten, weit mehr als sich selbst.

 

ELFTES KAPITEL

 

Wie sich der Geist des Naturkindes entfaltet

 

Lektüre stärkt die Seele, und ein weiser Freund ist ein Trost für sie. Unser Gefangener erfreute sich dieser beiden Vorteile, von denen er früher nichts geahnt hatte. »Ich fühle mich versucht, an eine Metamorphose zu glauben«, sagte er, »denn ich habe mich aus einem Tier zu einem Menschen verwandelt.« Von einem Teil seines Geldes, über das er verfügendurfte, legte er sich eine auserlesene Bibliothek an. Sein Freund ermutigte ihn, seine Betrachtungen niederzuschreiben, und er schrieb folgendes über die Geschichte der Antike : »Ich stelle mir vor, daß die Völker lange so gewesen sind wie ich, daß sie sich erst spät gebildet und sich jahrhundertelang nur mit dem gegenwärtigen flüchtigen Augenblick, sehr wenig mit der Vergangenheit und niemals mit der Zukunft beschäftigt haben. Ich habe fünf- oder sechs-hundert Meilen in Kanada durchstreift und habe nicht ein einziges Denkmal gesehen. Niemand weiß etwas von dem, was sein Urgroßvater getrieben hat. Sollte dies nicht der natürliche Zustand des Menschen sein? Die Menschen-gattung dieses Erdteils hier scheint jeder anderen überlegen zu sein. Seit mehreren Jahrhunderten hat sie ihr Wesen durch Künste und Wissenschaften entwickelt. Sollte der

Grund darin liegen, daß ihr ein Bart um das Kinn wächst und Gott den Amerikanern diesen Bart versagt hat? Ich glaube es nicht, denn ich sehe, daß es in China fast keine Barte gibt und die Chinesen dennoch seit mehr als fünf-tausend Jahren die Künste pflegen. Wenn ihre Geschichte wirklich mehr als viertausend Jahre urkundlich zurück-reicht, so müssen sie wohl vor mehr als fünfzig Jahrhunderten eine einheitliche und blühende Nation gewesen sein. Vor allem fallt mir eins in der alten Geschichte Chinas auf, nämlich, daß fast alles glaubwürdig und natürlich ist; ich bewundere sie, weil nichts Wunderbares darin vorkommt. Warum haben sich alle anderen Völker einen fabelhaften Ursprung zugeschrieben? Die alten Chronisten der Geschichte Frankreichs, die übrigens nicht sehr alt sind, lassen die Franzosen von Frankus, einem Sohn Hektars, abstammen. Die Römer leiten sich von einem Phrygier ab, obgleich es in ihrer Sprache nicht ein einziges Wort gibt, das die geringste Verbindung mit der phrygischen Sprache aufweist. Die Götter sollen zehntausend Jahre in Ägypten gewohnt haben und die Teufel in Skythien, und dort haben diese die Hunnen gezeugt. Vor Thukydides finde ich nichts als Romane, die an >Amadis< erinnern, aber viel weniger amüsant sind. Überall bestimmen Geistererscheinungen, Orakel, Wunder, Zaubereien, Verwandlungen und gedeutete Träume das Geschick der größten Reiche und der kleinsten Staaten : Hier finden wir sprechende Tiere, dort angebetete Tiere, in Menschen verwandelte Götter und in Götter verwandelte Menschen! Ja, wenn es uns schon nach Märchen verlangt, so sollten diese Märchen mindestens ein Sinnbild der Wahrheit sein. Ich liebe die Märchen der Philosophen, ich lache über die der Kinder, aber ich hasse die der Heuchler.«

Eines Tages fiel ihm die Geschichte des Kaisers Justinian in die Hände. Darin war zu lesen, daß die »gelehrten Brüder« von Konstantinopel in schlechtem Griechisch ein Edikt gegen den größten Feldherrn des Jahrhunderts erlassen hatten, weil dieser Held in der Hitze eines Gespräches die folgenden Worte gesprochen hatte : »Die Wahrheit erstrahlt in ihrem eigenen Glanz, und man kann die Geister nicht durch die Flammen der Scheiterhaufen erleuchten.« Die Fanatiker behaupteten, dieser Satz sei Ketzerei und der entgegengesetzte Grundsatz sei katholisch, allgemein gültig und griechisch. Nur durch die Flamme der Scheiterhaufen werden die Geister erleuchtet, und die Wahrheit kann niemals in ihrem eigenen Glänze erstrahlen. So verurteilten diese Linnenträger verschiedene Reden des Feldherrn und erließen ein Edikt gegen ihn. »Wie«, rief das Naturkind, »diese Leute da erließen Edikte!« — »Das waren keine Edikte, es waren Gegen-Edikte, über die sich jedermann in Konstantinopel und allen voran der Kaiser lustig machte. Er war ein weiser Fürst, der die linnentragenden Ignoranten so in ihre Schranken zu weisen verstand, daß sie nur noch Gutes tun konnten, denn er wußte, daß diese Herren und noch einige andere Pfaffen bei weit ernsteren Angelegenheiten die Geduld der Kaiser, seiner Vorgänger, hart auf die Probe gestellt hatten!« —»Er hat gut daran getan«, meinte das Naturkind, »man muß die Pfaffen stützen und stutzen.«

Er legte noch viele andere Betrachtungen schriftlich nieder, die den alten Gordon verblüfften. »Wie?« sagte er zu sich selber. »Ich habe fünfzig Jahre gebraucht, um mich zu bilden, und doch fürchte ich, daß ich den gesunden Sinn dieses Menschen, der fast ein wildes Kind ist, nicht erreiche! Ich zittre bei dem Gedanken, daß ich mit allem Fleiß Vor-urteile in mir gefestigt habe, er dagegen hört allein auf die schlichte Natur!«

Der gute Mann besaß einige von den kritischen Büchern, den periodischen Broschüren, in denen Menschen, die unfähig sind, etwas hervorzubringen, die Werke anderer ver-unglimpfen, in denen ein Visé einen Racine und ein Faydit einen Fénelon beschimpft. Das Naturkind sah sich einige dieser Bücher an. »Sie kommen mir wie ein Fliegenge-schmeiß vor«, sagte er, »das seine Eier in den Hintern der schönsten Pferde legt, was diese jedoch nicht am Laufen hindert!« Die beiden Philosophen würdigten diese Exkre-mente der Literatur kaum eines Blickes. Darauf lasen sie zusammen die Grundlagen der Astronomie. Das Naturkind ließ eine Himmelskugel herbeischaffen, und dieses große Schauspiel entzückte ihn. »Wie hart ist es«, sagte er, »daß ich erst jetzt den Himmel kennenlerne, da man mich des Rechtes beraubt hat, ihn zu betrachten ! Jupiter und Saturn rollen durch diesen ungeheuren Raum, Millionen von Sonnen erleuchten Milliarden von Welten, und in einem Winkel der Erde, auf der ich geboren bin, finden sich Wesen, die mich, ein denkendes und sehendes Geschöpf, all dieser Welten, die mein Blick erreichen könnte, und dieser Erde, auf der mich Gott entstehen ließ, grausam berauben ! Das Licht, das für das ganze Universum geschaffen wurde, ist für mich verloren ! Unter dem südlichen Himmel, unter dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe, hat man es mir nicht entdeckt ! Ohne Sie, mein lieber Gordon, wäre ich hier zu einem Nichts geworden.«

 

ZWÖLFTES KAPITEL

 

Was das Naturkind über Theaterstücke denkt

 

Das junge Naturkind glich einem jener starken Bäume, die einem unfruchtbaren Boden entsprießen und in kurzer Zeit ihre Wurzeln und Zweige ausbreiten, sobald sie auf einen

günstigen Boden verpflanzt werden; und es war recht un-gewöhnlich, daß nun ein Gefängnis diesen Boden abgab. Unter den Büchern, die die Muße der beiden Gefangenen ausfüllte, befanden sich Dichtungen, Übersetzungen griechischer Tragödien und verschiedene französische Theaterstücke. Die Verse, die von Liebe handelten, erfüllten die Seele des Naturkindes mit Freude und Schmerz zugleich, denn alle sprachen ihm von seiner treuen Saint-Yves. Die Fabel von den beiden Tauben zerriß ihm das Herz : Er war weit davon entfernt, in seinen Taubenschlag zurückzukehren. Molière entzückte ihn. Durch ihn lernte er die Sitten der Pariser und des Menschengeschlechtes kennen. »Welches seiner Lustspiele haben Sie am liebsten ?«-»Den >Tartüff< natürlich.«-»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Gordon, »ein Tartüff hat mich in diesen Kerker gestoßen, und vielleicht sind auch an Ihrem Unglück nur die Tartüffs schuld.« »Wie finden Sie diese griechischen Tragödien?«-»Gut für Griechen«, erwiderte das Naturkind. Als er jedoch die moderne >Iphigenie<, >Phädra<, >Andromache< und >Athalia< las, geriet er in helle Begeisterung. Er seufzte, vergoß Tränen und konnte sie bald auswendig, ohne daß er beabsichtigt hätte, sie zu lernen.

»Lesen Sie doch >Rhodogune<«, sagte Gordon zu ihm, »man hält es für das Meisterwerk der Bühne, und im Vergleich damit sind alle anderen Theaterstücke, die Ihnen so viel Freude gemacht haben, nicht viel wert.« Schon nach der ersten Seite sagte der junge Mann : »Das ist nicht von demselben Verfasser !« — »Woran merken Sie das?« - »Ich kann es noch nicht sagen, aber diese Verse hier sprechen weder zu meinem Herzen noch zu meinen Ohren.« -»Oh, die Verse haben nichts zu sagen!« entgegnete Gordon. »Warum denn aber welche machen ?« erwiderte ihm das Naturkind. Nachdem er das Stück nur in der Absicht, sich zu ergötzen, aufmerksam zu Ende gelesen hatte, blickte er seinen Freund mit verwunderten, trockenen Augen an und wußte nicht, was er sagen sollte. Als er dann aber gedrängt wurde, über seine Eindrücke zu berichten, antwortete er schließlich: »Den Anfang habe ich kaum verstanden, die Mitte des Stückes hat mich abgestoßen, nur die letzte Szene hat mich sehr ergriffen, obwohl sie mir recht unwahrscheinlich vorkommt. Keine der Personen hat mein Interesse geweckt, und nicht einmal ein Dutzend Verse kann ich hersagen, obwohl ich doch sonst alle behalte, die mir gefallen.« »Trotzdem gilt dieses Stück für das beste, was wir haben.« -»Wenn dem so ist«, erwiderte das Naturkind, »so steht es vielleicht darum wie um viele Leute, die ihre Stellung nicht verdienen. Schließlich ist das ja aber eine Frage des Geschmackes. Mein Geschmack ist vielleicht noch nicht aus-gereift, ich mag mich irren. Sie wissen doch, daß ich gewohnt bin, z u sagen, was ich denke, oder vielmehr, was ich fühle. Ich vermute, daß in den Urteilen der Menschen nur zu oft Täuschung, Mode und Laune mitsprechen. Ich aber habe der Natur gemäß gesprochen. Es kann sein, daß bei mir die Natur noch recht unvollkommen ist, es kann aber auch sein, daß die meisten Menschen die Natur nur allzu wenig befragen.« Darauf trug er Verse aus der >Iphigenie< vor, von denen er sehr viel wußte, und obwohl er sie nicht gut vortrug, legte er so viel Natürlichkeit und Inbrunst hinein, daß er den alten Jansenisten zu Tränen rührte. Darauf las er >Cinna<. Er weinte nicht dabei, aber er war voller Bewunderung.

 

DREIZEHNTES KAPITEL

 

Die schöne Saint-Yves begibt sich nach Versailles

 

Während unser Unglücksmensch mehr Erleuchtung als Trost genoß und sein so lange unterdrückter Geist sich mit so viel Hast und Kraft entfaltete, während die Natur, die

sich in ihm vervollkommnete, ihn an den Unbilden des Schicksals rächte - was geschah inzwischen mit dem Herrn Prior, seiner guten Schwester und der schönen Klausnerin Saint-Yves? Im ersten Monat waren sie beunruhigt und im dritten in heller Verzweiflung: Falsche Vermutungen, schlechtbegründete Gerüchte erweckten Angst und Besorgnis, und nach Verlauf von sechs Monaten hielt man ihn für tot. Endlich erfuhren Herr und Fräulein von Kerkabon in einem veralteten Briefe, den ein königlicher Leibgardist in die Bretagne geschickt hatte, daß ein junger Mann, der dem Naturkind glich, eines Abends in Versailles angekommen, in derselben Nacht aber noch verhaftet worden war und daß man seitdem von ihm nichts mehr gehört hätte. »O weh !« rief Fräulein von Kerkabon. »Unser Neffe hat sicher eine Dummheit begangen und hat sich dadurch Unannehmlichkeiten aufgebürdet. Er ist jung und ein Niederbretone, er weiß nicht, wie man sich bei Hofe zu benehmen hat. Lieber Bruder, ich bin noch niemals in Versailles oder in Paris gewesen, und jetzt bietet sich dafür eine gute Gelegenheit! Vielleicht würden wir dann unseren armen Neffen wiederfinden. Er ist ja der Sohn unseres Bruders, also ist es unsere Pflicht, ihm beizustehen. Wer weiß, ob wir ihn nicht doch noch zum Subdiakon machen können, wenn seine jugendliche Tollheit verrauscht ist! Er hatte doch so viel Begabung für die Wissenschaften. Erinnerst du dich noch, wie er über das Alte und das Neue Testament philosophierte? Wir sind für seine Seele verantwortlich, wir haben ihn ja getauft. Seine liebe Braut, die Saint-Yves, weint vom Morgen bis zum Abend. Wir müssen wirklich nach Paris fahren, und wenn er in einem der verruchten Freudenhäuser steckt, von denen man uns so viel erzählt hat, werden wir ihn dort herausholen !« Der Prior war von den Worten seiner Schwester gerührt. Er suchte den Bischof von Saint-Malo auf, der den Huronen getauft hatte, und er bat ihn um Unterstützung und Ratschläge. Der Prälat billigte die Reise und gab dem Prior Empfehlungsschreiben an den Pater de La Chaise, den Beichtvater des Königs, der das höchste Ansehen im Reiche genoß, und ferner an Harlay, den Erzbischof von Paris, und an Bossuet, den Bischof von Meaux.

Schließlich reisten Bruder und Schwester ab. Als sie jedoch in Paris angekommen waren, fühlten sie sich wie verirrt in einem ungeheuren Labyrinth, wo es weder Leitfaden noch Ausgang gab. Ihre Mittel waren beschränkt, und doch mußten sie für ihre Entdeckungsreisen täglich einen Wagen nehmen, aber sie entdeckten nichts ! Der Prior begab sich zu dem hochwürdigen Pater de La Chaise, aber dieser war gerade mit Fräulein von Tron zusammen und konnte daher keinen Prior empfangen. Darauf klopfte er an die Tür des Erzbischofs. Der Kirchenfürst hatte sich gerade, um über Kirchenangelegenheiten zu verhandeln, mit der schönen Frau von Lesdiguières zusammen eingeschlossen. Der Prior eilte nun in das Landhaus des Bischofs von Meaux, aber dieser untersuchte eben mit Fräulein von Mauléon die »Mystische Liebe« der Madame Guyon. Schließlich gelang es ihm doch, sich bei diesen beiden Kirchenfürsten Gehör zu verschaffen, aber beide ver-sicherten ihm, sie könnten sich mit den Angelegenheiten seines Neffen nicht befassen, wenn er nicht Subdiakon sei. Endlich bekam er auch den Jesuiten zu Gesicht. Dieser empfing ihn mit offenen Armen, versicherte ihm, er habe stets eine ganz besondere Hochachtung für ihn gehegt, obwohl er ihn persönlich gar nicht gekannt hatte. Er be-teuerte, die Gesellschaft Jesu sei den Niederbretonen stets besonders gewogen gewesen. »Aber«, fügte er hinzu, »sollte Ihr Neffe nicht das Unglück haben, Hugenotte zu sein?« -»Nein, gewiß nicht, hochwürdiger Vater.«—»Ist er vielleicht Jansenist?« - »Ich kann Eurer Hochwürden versichern, daß er noch kaum ein Christ ist, wir haben ihn erst vor un-gefähr elf Monaten getauft.« - »Ausgezeichnet, ausgezeichnet, wir wollen uns seiner annehmen. Ist Ihre Pfründe groß?« - »Nein, durchaus nicht, und unser Neffe kostet uns viel.« - »Gibt es denn unter Ihren Nachbarn Jansenisten? Nehmen Sie sich nur in acht, mein lieber Herr Prior, die sind noch viel gefährlicher als die Hugenotten und die Atheisten.« - »Hochwürdiger Vater, bei uns gibt es gar keine. In Unserer lieben Frau vom Berge weiß man nicht einmal, was Jansenismus ist!« -»Um so besser! Seien Sie jedenfalls versichert, daß ich alles für Sie tun werde.« Er verabschiedete den Prior aufs herzlichste und dachte an die ganze Sache nicht weiter.

Die Zeit verstrich, und der Prior und seine gute Schwester verzweifelten.

Unterdessen drängte der vermaledeite Amtmann zur Heirat seines großen Tölpels von Sohn mit der schönen Saint-Yves, die man eigens dazu aus dem Kloster geholt hatte. Sie liebte ihr teures Patenkind immer noch so sehr, wie sie den Mann, den man ihr aufdrängen wollte, verabscheute. Der Schimpf, daß man sie in ein Kloster gesteckt hatte, steigerte ihre Leidenschaft, und der Befehl, den Sohn eines Amtmanns zu heiraten, ließ das Maß überlaufen : Reue, Zärtlichkeit und Angst zerwühlten ihre Seele. Die Liebe eines jungen Mädchens ist bekanntlich weit erfinderischer und kühner als die Zuneigung eines alten Priors und einer Tante von über fünfundvierzig Jahren. Außerdem hatte sich Fräulein von Saint-Yves durch die Romane, die sie in ihrem Kloster heimlich gelesen hatte, weitergebildet. Die schöne Saint-Yves erinnerte sich des Briefes, den ein Leibgardist in die Niederbretagne geschrieben hatte und von dem in der ganzen Provinz gesprochen wurde. Sie beschloß, in Versailles persönlich Erkundigungen einzuziehen, sich den Ministern zu Füßen zu werfen, falls ihr Bräutigam wirklich, wie man sagte, im Gefängnis war, um für ihn Gerechtigkeit zu erwirken. Ich weiß nicht, was sie im geheimen ahnen ließ, daß man bei Hofe einem hübschen Mädchen nichts verweigert, aber sie ahnte nicht, um welchen Preis es geschah.

Sobald sie ihren Entschluß gefaßt hatte, war sie getröstet und ganz ruhig, und sie wies ihren tölpelhaften Werber nicht mehr zurück. Sie empfing den abscheulichen Schwie-gervater, umschmeichelte ihren Bruder und verbreitete im ganzen Hause Fröhlichkeit. Dann aber ging sie an dem für die Trauung bestimmten Tage um vier Uhr früh heimlich auf und davon mit all den kleinen Hochzeitsgeschenken und allem, was sie sonst noch hatte zusammenbringen können. Sie hatte ihre Maßnahmen so gut getroffen, daß sie schon mehr als zehn Meilen entfernt war, als man gegen Mittag ihr Zimmer betrat. Die Überraschung und Bestürzung war groß. Der fragesüchtige Amtmann stellte an diesem Tage mehr Fragen als sonst in einer ganzen Woche, und der Bräutigam machte ein noch dümmeres Gesicht als sonst. Der Abt von Saint-Yves faßte zornig den Entschluß, seiner Schwester nachzufahren, und der Amtmann und sein Sohn wollten ihn durchaus begleiten. So führte das Schicksal fast den ganzen Bezirk der Niederbretagne nach Paris. Die schöne Saint-Yves ahnte wohl, daß man sie verfolgen würde. Sie war zu Pferde und fragte unterwegs geschickt die Eilboten aus, ob sie auf dem Wege nach Paris nicht einen dicken Abt, einen Riesenkerl von Amtmann und einen jungen Lümmel getroffen hätten. Als sie am dritten Tage erfuhr, daß diese drei nicht mehr weit hinter ihr zurück seien, schlug sie einen anderen Weg ein und hatte genug Geschick und Glück, nach Versailles zu gelangen, während man sie vergebens in Paris suchte. Was sollte sie jedoch, jung, schön, ohne Schutz und ohne Schirm, unbekannt und jeder Gefahr ausgesetzt, in

 

Versailles anfangen? Wie sollte sie es wagen, dort nach einem Leibgardisten zu suchen? Sie kam auf den Gedanken, sich an irgendeinen Jesuiten niederen Ranges zu wenden, denn es gab welche für alle Lebensverhältnisse, so wie Gott, wie sie sagten, den verschiedenen Tiergattungen verschiedene Nahrung gegeben hatte. Er hatte auch dem König seinen Beichtvater verliehen, den alle Pfründenaspiranten »das Haupt der gallikanischen Kirche« nannten, darauf folgten die Beichtväter der Prinzessinnen; die Minister hatten keine, so dumm waren sie nicht. Es gab noch Jesuiten für den Hofstaat und besonders für die Kammerzofen, durch die man die Geheimnisse der Mätressen erfuhr, und das ist ja kein kleines Amt. Die schöne Saint-Yves wandte sich an einen dieser Jesuiten, den Pater Tout-à-tous. Sie beichtete ihm, erzählte ihm ihre Erlebnisse, ihre Lage, die Gefahr, in der sie schwebte, und beschwor ihn, sie bei irgendeiner guten frommen Frau unterzubringen, wo sie vor allen Verführungen geschützt sei. Pater Tout-à-tous brachte sie zu der Frau eines Offiziers am Proviantamt, einem seiner vertrautesten Beichtkinder. Sobald sie dort war, bemühte sie sich, das Vertrauen und die Freundschaft dieser Frau zu gewinnen. Sie erkundigte sich nach dem bretonischen Gardisten und ließ ihn zu sich bitten. Als sie von ihm erfuhr, daß ihr Geliebter verhaftet worden war, nachdem er mit einem höheren Beamten gesprochen hatte, eilte sie zu diesem hin. Der Anblick einer schönen Frau stimmte ihn milde, denn man muß zugeben, daß Gott die Frauen einzig und allein dazu geschaffen hat, die Männer zu zähmen. Der gerührte Federfuchser gestand ihr alles. »Ihr Geliebter sitzt seit fast einem Jahr in der Bastille, und ohne Sie würde er vielleicht sein ganzes Leben dort bleiben.« Die zarte Saint-Yves fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen war, sagte der Federfuchser zu ihr: »Es steht nicht in meiner Macht, Gutes zu vollbringen, alles, was ich vermag, ist, hier und da Böses zu tun. Vertrauen Sie mir jedoch und gehen Sie zu Herrn de Saint-Pouange, dem Vetter und Günstling des Herrn de Louvois : der kann Gutes und Böses tun. Dieser Minister hat zwei Seelen : Herr de Saint-Pouange ist die eine und Frau du Fresnoi die andere; sie ist aber jetzt nicht in Versailles, und es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig, als die Gunst des Mannes, den ich Ihnen angegeben habe, zu gewinnen.« Während die schöne Saint-Yves zwischen leiser Freude und heftigem Schmerz hin und her schwankte, zwischen geringen Hoffnungen und traurigen Befürchtungen, während ihr Bruder sie verfolgte und sie ihren Geliebten anbetete, ihre Tränen trocknete und immer wieder neu vergoß, eilte sie, zitternd, geschwächt und neuen Mut schöpfend, zu Herrn de Saint-Pouange.

 

VIERZEHNTES KAPITEL

 

Geistige Fortschritte des Naturkindes

 

Das Naturkind machte schnelle Fortschritte in den Wissenschaften, vor allem in der Anthropologie. Der Grund dieser schnellen geistigen Entwickling war fast ebensosehr in seiner Wilden-Erziehung wie im Wesen seiner Seele zu suchen, denn da er in seiner Kindheit nichts gelernt hatte, faßte er auch keinerlei Vorurteile. Sein Auffassungsver-mögen, das nicht durch Irrtum zu leiden hatte, war in seiner ganzen Geradheit geblieben. Er sah die Dinge, wie sie sind, während die Vorstellungen, die man uns in unserer Kindheit einprägt, uns zwingen, sie unser Leben lang so zu sehen, wie sie nicht sind. »Ihre Verfolger sind abscheulich«, sagte er zu seinem Freunde Gordon, »ich bedaure Sie, weil Sie verfolgt werden, aber auch darum, daß Sie Jansenist sind. Jede Sekte erscheint mir als Tummelplatz von Irrtümern. Sagen Sie mir doch, ob es in der Geometrie Sekten gibt ?« -»Nein, mein liebes Kind«, antwortete ihm seufzend der gute Gordon, »über erwiesene Wahrheiten sind sich alle Menschen einig, aber über düstere Wahrheiten sind die Meinungen geteilt.« - »Sagen Sie lieber : düstere Falschheiten. Wenn es in ihrem Haufen von Argumenten, die man seit so vielen Jahrhunderten zusammenträgt, eine einzige Wahrheit gegeben hätte, würde man sie zweifellos entdeckt haben, und die Welt wäre sich wenigstens über diesen einen Punkt einig. Wäre diese Wahrheit so notwendig, wie es die Sonne für die Erde ist, so wäre sie ebenso leuchtend wie sie. Es ist eine Absurdität, eine Beleidigung des menschlichen Ge-schlechtes, ein frevelhafter Angriff gegen das höchste und ewige Wesen, wenn man sagt: >Es gibt eine für den Menschen notwendige Wahrheit, die Gott verborgen hat.<« Alles, was dieser junge, allein durch die Natur unterrichtete Ignorant vorbrachte, machte auf den Geist des greisen, un-glücklichen Gelehrten einen tiefen Eindruck. »Sollte es am Ende wahr sein«, rief er, »daß ich mich um der Hirngespinste willen ins Unglück gestürzt habe? Ich bin von meinem Unglück weit mehr überzeugt als von der wirksamen Gnade. Ich habe meine Tage damit vertan, daß ich über die Freiheit Gottes und des Menschengeschlechtes philosophierte, und dadurch habe ich meine eigene ein-gebüßt. Weder der heilige Augustinus noch der heilige Prosper werden mich aus dem Abgrunde erretten, in den ich gefallen bin.«

Seiner Wesensart entsprechend äußerte sich schließlich das Naturkind : »Darf ich Ihnen in kühner Offenheit meine Meinung sagen? Alle, die sich wegen dieser unnützen Strei-tigkeiten irgendwelchen Verfolgungen aussetzen, halte ich für nicht besonders weise ; aber die, die uns verfolgen, halte ich für Ungeheuer.« Die beiden Eingekerkerten waren über die Ungerechtigkeit ihrer Gefangenschaft ganz der gleichen Meinung. »Ich bin hundertmal mehr zu bedauern als Sie«, sagte das Naturkind, »ich bin frei geboren wie die Luft. Ich hatte zweierlei im Leben ; die Freiheit und meine Geliebte, und man nahm sie mir. Wir beide sind nun eingekerkert, ohne den Grund davon zu wissen und ohne uns danach erkundigen zu können. Ich habe zwanzig Jahre als Hurone gelebt. Man be-hauptet, dies seien Barbaren, weil sie sich an ihren Feinden rächen ; niemals unterdrücken sie jedoch ihre Freunde. Als ich meinen Fuß auf Frankreichs Boden gesetzt hatte, op-ferte ich gleich für dieses Land mein Blut. Vielleicht habe ich eine ganze Provinz gerettet, und zur Belohnung sperrt man mich in diesen Sarg der Lebenden ein, in dem ich ohne Sie vor Wut vergangen wäre. Gibt es denn in diesem Lande keine Gesetze? Man verurteilt die Menschen, ohne sie auch nur anzuhören ? In England ist es anders. Ach, ich hätte nie-mals gegen Engländer kämpfen sollen.« So vermochte seine keimende Philosophie die in ihrem elementarsten Recht vergewaltigte Natur nicht zu bändigen und ließ seinem ge-rechten Zorn freien Lauf.

Sein Gefährte widersprach ihm nicht. Trennung steigert unbefriedigte Liebe stets, und die Philosophie kann sie nicht vermindern. Er sprach ebensooft von seiner lieben Saint-Yves wie über Moral und Metaphysik. Je mehr seine Gefühle sich läuterten, desto mehr liebte er. Er las verschiedene neue Romane, fand aber wenige darunter, die ihm den Zustand seiner eigenen Seele geschildert hätten. Er fühlte, daß sein Herz stets weit über das Gelesene hinausflog. »Ach«, rief er, »alle diese Verfasser verfügen nur über Geist und Kunst.« Schließlich wurde der gute Jansenistenpriester un-merklich der Vertraute seiner Liebesangelegenheiten. Gordon hatte bis dahin die Liebe nur als Sünde gekannt, deren man sich in der Beichte beschuldigt. Nun lernte er sie als ein edles, zartes Gefühl kennen, das die Seele erheben und erniedrigen kann und zuweilen sogar Tugenden in ihr er-weckt. Das größte Wunder war schließlich: ein Hurone bekehrte einen Jansenisten.

 

FÜNFZEHNTES KAPITEL

 

Die schöne Saint-Yves widersteht bedenklichen Anträgen

 

Die schöne Saint-Yves, die noch zärtlicher war als ihr Geliebter, begab sich in Begleitung ihrer Freundin, bei der sie wohnte, zu Herrn von Saint-Pouange. Beide Frauen hatten sich den Kopf verhüllt. Der erste, den Fräulein von Saint-Yves an der Tür erblickte, war ihr Bruder, der Abt von Saint-Yves, der aus dem Zimmer herauskam. Sie bekam einen Schreck, aber die fromme Freundin beruhigte sie: »Gerade, weil man gegen Sie gesprochen hat, ist es nötig, daß auch Sie jetzt sprechen. Glauben Sie mir, hierzulande haben die Ankläger stets recht, wenn man sich nicht beeilt, ihnen entgegenzutreten. Außerdem müßte ich mich sehr irren, wenn Ihre Gegenwart nicht eine weit größere Wir-kung hätte als die Worte Ihres Bruders.« Sobald man eine leidenschaftlich Verliebte nur ein wenig ermutigt, wird sie wagelustig. Fräulein von Saint-Yves bat um Einlaß. Ihre Jugend, ihre Reize, ihre zärtlichen, von Tränen verschleierten Augen zogen aller Blicke an. Jeder Speichellecker des Unterministers vergaß für einen Augenblick den Götzen Macht, um die Göttin Schönheit zu betrachten. Saint-Pouange ließ sie in sein Zimmer führen. Sie sprach voller Ergriffenheit und Anmut, Saint-Pouange fühlte sich gerührt. Sie zitterte, und er beruhigte sie. »Kommen Sie heute abend wieder«, sagte er zu ihr, »Ihre Angelegenheit muß mit Überlegung und in Ruhe besprochen werden. Jetzt sind zu viel Leute hier, und die Audienzen müssen zu rasch erledigt werden. Ich muß aber alles, was

 

 

 

 

 

BEDENKLICHE ANTRÄGE 58

Sie betrifft, gründlich mit Ihnen sprechen.« Dann machte er ihr Komplimente über ihre Schönheit und ihre Gefühle und bat sie, um sieben Uhr abends wiederzukommen. Sie kam pünktlich. Die fromme Freundin begleitete sie wieder, aber sie blieb im Salon und las den >Christlichen Erzieher< während Saint-Pouange und die schöne Saint-Yves sich in einem Hinterzimmer aufhielten. »Würden Sie es mir glauben, mein Fräulein«, sagte er zunächst, »daß Ihr Bruder bei mir war, um gegen Sie einen geheimen Haftbefehl zu erwirken? Allerdings würde ich wohl weit eher einen Befehl erlassen, ihn in die Niederbretagne zurückzuschicken.« - »Ach, mein Herr, in Ihren Kanzleien scheint man mit Haftbefehlen sehr freigebig zu sein, denn man kommt aus den entlegensten Winkeln des Reiches, um sich darum wie um eine Pension zu bewerben. Ich denke gar nicht daran, einen Haftbefehl gegen meinen Bruder anzufordern. Ich könnte mich sehr über ihn beschweren, aber ich respektiere die Freiheit der Menschen, und so erbitte ich die Freilassung eines Mannes, den ich heiraten will, eines Mannes, dem der König die Erhaltung einer Provinz zu danken hat, eines Mannes, der ihm sehr nützlich dienen könnte und der überdies der Sohn eines im Dienst gefallenen Offiziers ist. Welche Anklage wird gegen ihn erhoben? Und wie konnte man ihn so grausam behandeln, ohne ihn anzuhören?«

Daraufhin zeigte ihr der Unterminister den Brief des Jesuiten-Spions und auch das Schreiben des hinterlistigen Amtmannes. »Wie ! Solche Ungeheuer gibt es auf Erden ! Und auf diese Art will man mich zwingen, den lächerlichen Sohn eines lächerlichen und boshaften Menschen zu heiraten? Und auf solche Nachrichten hin wird hier über das Schicksal der Bürger entschieden?« Sie warf sich auf die Knie und bat schluchzend um die Freilassung des braven Mannes, den sie liebte. Ihre Reize offenbarten sich in die-

sem Zustand am verführerischsten. Sie war so schön, daß Saint-Pouange, der alle Scham verlor, ihr erklärte, er würde ihre Bitte erfüllen, wenn sie vorher die erste Blüte dessen, was sie für ihren Geliebten bewahrte, ihm schenkte. Die schöne Saint-Yves war entsetzt und verwirrt und tat lange so, als ob sie ihn nicht verstände. Er mußte sich also deut-licher ausdrücken. Den anfangs zurückhaltend vorgebrachten Worten folgten deutlichere und diesen noch weit eindeutigere. Der Unterminister stellte nicht nur die Aufhebung des Haftbefehls in Aussicht, sondern auch Belohnung, Geld, Ehre und Versorgung, und je mehr er versprach, desto mehr steigerte sich bei ihm der Wunsch, nicht abgewiesen zu werden.

Die schöne Saint-Yves, die halb auf dem Sofa lag, weinte und erstickte beinahe an ihren Tränen. Sie traute kaum ihren Augen und Ohren. Nun warf sich Saint-Pouange vor ihr auf die Knie. Er war nicht ohne Reiz und hätte wohl ein weniger voreingenommenes Herz nicht abgeschreckt, aber Fräulein von Saint-Yves betete ihren Geliebten an und hielt es für ein entsetzliches Verbrechen, ihn zu verraten, um ihm zu nützen. Saint-Pouange verdoppelte seine Bitten und seine Versprechen, schließlich verlor er dermaßen den Kopf, daß er ihr erklärte, dies sei das einzige Mittel für sie, den Mann, an dem sie so zärtlich und ungestüm hing, aus dem Gefängnis zu befreien. Die sonderbare Unterhaltung zog sich immer mehr in die Länge. Die fromme Dame, die im Vorzimmer noch immer an ihrem >Christlichen Erzieher< las, sagte zu sich selbst : »Mein Gott, was mögen sie nur seit zwei Stunden tun? Noch niemals hat Herr von Saint-Pouange eine so lange Audienz erteilt. Er hat wohl diesem armen Mädchen alles abgeschlagen, und sie bittet ihn immer noch.« Endlich kam ihre Gefährtin aus dem Hinterzimmer. Sie war ganz verwirrt, brachte kein Wort hervor und war in tiefe Gedanken versunken über den Charakter der Großen und Halbgroßen, die so leichtfertig die Freiheit der Männer und die Ehre der Frauen opfern. Auf dem ganzen Wege sprach sie kein Wort. Als sie jedoch im Hause der Freundin waren, ging sie aus sich heraus und erzählte ihr alles. Die fromme Dame bekreuzigte sich mehrmals und sagte : »Liebe Freundin, Sie müssen morgen sofort den Pater Tout-à-tous, unseren Beichtvater, um Rat fragen. Er hat großen Einfluß auf Herrn von Saint-Pouange, denn er nimmt mehreren seiner Hausangestellten die Beichte ab. Er ist ein gottesfürchtiger und gefälliger Mann, der auch vielen Damen der Gesellschaft mit Rat zur Seite steht. Über-lassen Sie sich ihm ganz, ich tue es auch und bin noch immer gut dabei gefahren. Wir armen Frauen bedürfen stets der Führung eines Mannes.« — »Das ist mir recht, meine liebe Freundin, ich will morgen den Pater Tout-à-tous auf-suchen.«

 

SECHZEHNTES KAPITEL

 

Fräulein von Saint-Yves befragt einen Jesuiten um Rat

 

Als die schöne und verzweifelte Saint-Yves bei ihrem guten Beichtvater war, vertraute sie ihm an, daß ein machtvoller und wollüstiger Mann ihr versprochen habe, denjenigen, dem sie gesetzlich angetraut werden sollte, aus dem Gefängnis zu befreien, aber er habe für diesen Dienst einen großen Preis gefordert. Gegen eine solche Untreue hege sie eine entsetzliche Abscheu und würde, wenn es sich um ihr eigenes Leben handelte, es lieber opfern, als einer solchen Versuchung zu unterliegen.

»Was ist das für ein fürchterlicher Sünder !« rief der Pater Tout-à-tous. Sie müssen mir auf jeden Fall den Namen dieses schändlichen Menschen nennen. Sicherlich ist es ein Jansenist, und ich werde ihn bei Seiner Hochwürden, dem Pater de La Chaise, anzeigen, und der wird ihn in den Kerker werfen, indem jetzt Ihr zukünftiger Ehegatte schmach-tet.«

Nach langer Verwirrung und großer Verlegenheit nannte ihm das arme Mädchen schließlich Saint-Pouange. »Seine Gnaden, der Herr von Saint-Pouange!« rief der Jesuit. »Oh, mein Kind, das ist etwas ganz anderes. Er ist der Vetter des größten Ministers, den wir je gehabt haben. Ein wohlmeinender Mann, der Beschützer jeder guten Sache, ein guter Christ. Eine solche Absicht kann er nicht haben, Sie haben ihn sicher falsch verstanden.« - »Aber, mein Vater, ich habe ihn nur zu gut verstanden. Was ich auch immer tue, ich bin verloren. Mir bleibt nur die Wahl zwischen Unglück und Schande. Mein Geliebter muß entweder lebendig begraben bleiben, oder ich werde des Lebens unwürdig. Ich kann ihn nicht zugrunde gehen lassen und kann ihn nicht retten !«

Der Pater Tout-à-tous versuchte, sie durch sanfte Worte zu beschwichtigen :

»Erstens, meine Tochter, sagen Sie niemals mein beliebten; es liegt etwas Weltliches darin, das Gott beleidigen könnte. Sagen Sie lieber >mein Gatte<; er ist es zwar noch nicht, aber Sie betrachten ihn als Ihren Gatten, und das ist durchaus ehrenwert.

Zweitens ist er doch nur in Gedanken Ihr Gatte, in der Hoffnung, aber noch nicht in Wirklichkeit. So würden Sie also auch keinen Ehebruch begehen, was ja eine ungeheuer-liche Sünde ist, die man stets soviel wie möglich vermeiden soll.

Drittens sind Handlungen, deren Beweggründe rein sind, keine Sünde; und nichts ist reiner als Ihr Wunsch, Ihren Gatten zu befreien.

Viertens haben Sie im frommen Altertum Beispiele, die Ihrem Handeln wunderbar als Richtschnur dienen können. Der heilige Augustinus berichtet, daß unter dem Prokon-

stilat des Septimius Acyndinus, im Jahre des Heils 340, ein armer Mann lebte, der dem Kaiser nicht geben konnte, was des Kaisers war, und der, ganz mit Recht, zum Tode ver-urteilt wurde trotz des Grundsatzes : > Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren !< Es handelte sich um ein Pfund Gold. Der Verurteilte hatte aber eine Frau, der Gott Schönheit und Klugheit verliehen hatte. Ein alter, reicher Kauz versprach der Dame ein Pfund Gold und sogar mehr, falls sie mit ihm die unreine Sünde begehen würde. Die Dame glaubte nichts Böses zu tun, wenn sie ihrem Mann das Leben rettete. Der heilige Augustinus billigte ihre großmütige Selbstüberwindung sehr. Freilich hat sie der alte, reiche Kauz betrogen, und vielleicht ist ihr Gatte nichtsdestoweniger gehängt worden, aber sie hatte alles, was in ihrer Macht stand, getan, um ihm das Leben zu retten. Sie können sicher sein, meine Tochter, daß, wenn ein Jesuit Ihnen den heiligen Augustinus anführt, dieser Heilige dann auch vollkommen recht haben muß. Ich rate Ihnen zu nichts. Sie sind selbst verständig genug, und es ist anzunehmen, daß Sie Ihrem Gemahl nützen werden. Seine Gnaden, der Herr von Saint-Pouange, ist ein Ehrenmann, er wird Sie nicht täuschen. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Ich werde für Sie zu Gott beten und hoffe, daß alles zu seinem größten Ruhm ausfallen wird.« Die schöne Saint-Yves, die über die Worte des Jesuiten nicht weniger entsetzt war als über die Anerbietungen des Unterministers, kehrte ganz verstört zu ihrer Freundin zurück. Sie fühlte sich versucht, durch den Tod dem entsetzlichen Schicksal zu entgehen, ihren angebeteten Geliebten in schmählicher Gefangenschaft zu lassen, und auch der Schande, ihn um den Preis dessen zu befreien, was sie an Kostbarstem besaß und das ihrem Unglücklichen allein gehören sollte.

 

SIEBZEHNTES KAPITEL

 

Die schöne Saint-Yves unterliegt aus Tugend

 

Sie bat ihre Freundin, sie zu töten, aber diese Frau, die ebenso nachsichtig war wie der Jesuit, sprach noch deutlicher zu ihr. »Leider«, sagte sie, »wickeln sich an diesem be-rühmten Hof, an dem Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit herrschen, die Angelegenheiten nun einmal so ab. Sehr oft werden Stellungen, die kleinsten sowohl wie die bedeutendsten, nur um den Preis vergeben, den man von Ihnen fordert. Hören Sie, Sie haben meine Freundschaft und mein Vertrauen erweckt. Ich will Ihnen offen gestehen, daß, wenn ich mich ebenso wie Sie angestellt hätte, mein Mann den kleinen Posten, von dem er lebt, gewiß nicht bekommen hätte. Er weiß es, aber er ist weit davon entfernt, darüber zu zürnen; er sieht in mir seine Wohltäterin und betrachtet sich selber als mein Werk. Glauben Sie denn, daß alle, die an der Spitze von Provinzen oder gar von Armeen gestanden haben, Ehre und Vermögen allein ihren Verdiensten zu danken haben? Gar manche sind darunter, die ihren Frauen dafür verpflichtet sind. Die Kriegswürden werden durch die Liebe erworben, und die höchste Stellung erhält der Mann der schönsten Frau. Sie befinden sich ja in einer noch viel interessanteren Lage : Es handelt sich darum, Ihren Geliebten dem Tageslicht wieder zurückzugeben und ihn zu heiraten. Das ist eine heilige Pflicht, die Sie erfüllen müssen. Niemand hat die schönen und großen Damen, von denen ich Ihnen erzählt habe, getadelt. Man wird Sie bewundern, man wird sagen, daß Sie sich nur aus Übermaß an Tugend eine Schwäche erlaubt haben.« - »Oh, diese Tugend !« rief die schöne Saint-Yves. »Das ist ein Labyrinth von Freveln ! Was ist das hier für ein Land ! Wie lerne ich die Menschen kennen ! Ein Pater de La Chaise und ein lächerlicher Amtmann bringen meinen Geliebten ins Gefängnis, meine Familie verfolgt mich, und man reicht mir in meinem Unglück nur die Hand, um mich zu entehren. Der eine Jesuit hat einen redlichen Menschen ins Verderben gestürzt, ein anderer will mich zugrunde richten. Ich sehe rings um mich nichts als Fallstricke, ich stehe dicht vor dem erbärmlichen Sturz ins Elend. Entweder muß ich mich töten, oder ich muß mit dem König sprechen. Ich werde mich ihm zu Füßen werfen, wenn er zur Messe oder ins Theater geht.« »Man wird sie nicht in seine Nähe lassen«, entgegnete ihr ihre gute Freundin, »und sollten Sie wirklich das Unglück haben, ihn zu sprechen, so könnten Herr von Louvois und der hochwürdige Pater de La Chaise Sie für den Rest Ihrer Tage tief in einem Kloster vergraben.« Während die brave Frau auf diese Art die Drangsale einer verzweifelten Seele steigerte und ihr den Dolch ins Herz stieß, kam ein Bote von Herrn Saint-Pouange mit einem Brief und zwei schönen Ohrringen. Fräulein von Saint-Yves wies alles unter Tränen zurück, aber die Freundin nahm es an sich. Als der Bote fort war, las die Vertraute den Brief, in dem die beiden Freundinnen für den Abend zu einem kleinen Souper eingeladen wurden. Fräulein von Saint-Yves schwur, daß sie nicht hingehen würde. Die fromme Dame wollte ihr die Diamantohrringe anlegen, aber Fräulein von Saint-Yves ließ es nicht zu. Den ganzen Tag über kämpfte sie mit sich, aber endlich ließ sie sich, indem sie nur an ihren Geliebten dachte, nach all dem Drängen überreden. Ohne zu wissen, wohin man sie brachte, ließ sie sich zu dem verhängnisvollen Souper führen. Nichts hatte sie aber bestimmen können, sich mit den Ohrringen zu schmücken; ihre Vertraute nahm sie jedoch mit und legte sie ihr gegen ihren Willen an, bevor sie sich zu Tisch setzten. Fräulein von Saint-Yves war so verwirrt, so entsetzt, daß sie sich die Quälerei gefallen ließ, und der Herr des Hauses nahm es als ein günstiges Vorzeichen an. Gegen Ende der Mahlzeit zog sich die Vertraute diskret zurück. Der Herr des Hauses zeigte ihr dann die Widerrufung des Haftbefehls, die Verfügung einer beträchtlichen Belohnung, das Patent eines Kompaniechefs und sparte auch nicht mit weiteren Versprechungen. »Ach«, sagte Fräulein von Saint-Yves zu ihm, »wie würde ich Sie lieben, wenn Sie nicht so geliebt werden wollten !«

Nach langem Widerstreben, nach Schluchzen, Schreien und Tränen mußte sie sich, vom Kampfe geschwächt, verwirrt und ermattet, endlich ergeben. Ihr blieb kein anderer Ausweg, als daß sie sich vornahm, nur an das Naturkind zu denken, während sich der Grausame unbarmherzig die Notlage, in die sie versetzt war, zunutze machte.

 

ACHTZEHNTES KAPITEL

 

Die schöne Saint-Yves befreit ihren Geliebten

und einen Jansenisten

 

Beim Tagesanbruch eilte sie, versehen mit der Verfügung des Ministers, nach Paris. Es läßt sich schwer schildern, was während dieser Reise in ihrem Herzen vorging. Man stelle sich eine tugendhafte, edle Seele vor, die von ihrer Schmach gedemütigt ist, von Zärtlichkeit erfüllt, zerrissen von Gewissenbissen, weil sie ihren Geliebten verraten hatte, und doch voller Glückseligkeit, ihren Angebeteten befreien zu können. Ihre Qualen, ihre Kämpfe und ihr Erfolg beschäftigten ihre Gedanken. Sie war nun nicht mehr ein schlicht erzogenes Provinzmädchen mit engem Gesichtskreis; die Liebe und das Unglück hatten sie gebildet. Das Gefühl hatte in ihr ebensoviel Fortschritte gemacht wie die Vernunft im Geiste ihres unglücklichen Geliebten.

 

 

 

BEFREIUNG DER EINGEKERKERTEN 66

pie Mädchen lernen leichter fühlen, als die Männer denken. Ihr Erlebnis war für sie lehrreicher als vier Jahre Klosteraufenthalt. Ihre Kleidung war außerordentlich schlicht, und nur mit Entsetzen konnte sie an den Schmuck denken, mit dem sie vor ihrem verhängnisvollen Wohltäter erschienen war. Die Diamantohrringe hatte sie ihrer Freundin überlassen, ohne sie auch nur anzusehen. Sie war verwirrt und zugleich entzückt, sie vergötterte ihr Naturkind und haßte sich selber, und endlich gelangte sie an das Tor des Gebäudes, von dem in der »Henriade« gesagt wird :

»Palast des Schreckens, Schloß der Rachewut, du schließt die Schuld ein und das Unschuldsblut.«

Beim Aussteigen aus dem Wagen versagten ihr die Kräfte; man stützte sie, und mit klopfendem Herzen, feuchten Augen und gebeugtem Haupt trat sie ein. Sie wurde zum Gouverneur geführt, sie wollte mit ihm sprechen, aber ihre Stimme erstickte. Sie wies nur ihre Anordnung vor und konnte kaum einige Worte stammeln. Der Gouverneur hatte seinen Häftling gern und freute sich über seine Freilassung. Sein Herz war nicht so verhärtet wie die einiger ehrenwerter Kerkermeister, seiner Genossen, die nur auf die Einnahmen aus der Bewachung ihrer Gefangenen bedacht sind und so ihr Einkommen auf ihre Opfer gründen, vom Unglück anderer leben und sich noch im geheimen an den Tränen der Unglücklichen schändlich ergötzen. Der Gouverneur ließ den Gefangenen in sein Zimmer führen. Als die beiden Liebenden sich sahen, fielen sie in Ohnmacht. Die schöne Saint-Yves blieb lange regungslos und leblos liegen, das Naturkind war jedoch bald wieder zu sich gekommen und von Mut erfüllt. »Das ist wohl Ihre Frau Gemahlin«, sagte der Gouverneur zu ihm. »Sie haben mir gar nicht gesagt, daß Sie verheiratet sind. Hier wird mir mit-geteilt, daß Sie Ihre Befreiung allein den hochherzigen Be-

mühungen Ihrer Frau zu verdanken haben.« - »Ach, ich bin nicht würdig, seine Frau zu sein«, sagte die schöne Saint-Yves mit zitternder Stimme und sank aufs neue in Ohn-macht.

Als sie wieder zur Besinnung gekommen war, wies sie immer noch zitternd die Verfügung über die Belohnung und das Patent für eine Kompanie vor. Das Naturkind war verwundert und gerührt, ihm war es, als erwachte er aus einem Traum, um in einen anderen zu sinken. »Warum bin ich denn hier eingekerkert worden? Wie ist es Ihnen gelungen, mich zu befreien? Wo sind die Ungeheuer, die mich hierhergebracht haben? Sie sind eine Gottheit, die vom Himmel herabgestiegen ist, um mir zu helfen.« Die schöne Saint-Yves schlug die Augen nieder, blickte dann ihren Geliebten an, errötete und wandte gleich ihre tränenbenetzten Augen ab. Dann erzählte sie ihm alles, was sie in Erfahrung gebracht und was sie erlitten hatte, aus-genommen das, was sie vor sich selber für ewig hätte verbergen mögen und was jeder andere Mann, der die Welt und die Hofsitten besser kannte als das Naturkind, mit Leichtigkeit erraten hätte.

»Wie ist es nur möglich, daß ein so elender Wicht wie dieser Amtmann mich der Freiheit berauben konnte ! Ja, ich sehe wohl ein, daß es Menschen gibt, die den scheußlichsten Tieren gleich sind, und alle können schaden. Aber wie ist es möglich, daß ein Mönch, ein Jesuit und Beichtvater des Königs zu meinem Unglück ebensoviel beigetragen hat wie der Amtmann, ohne daß ich mir vorstellen könnte, unter welchem Vorwand dieser abscheuliche Schurke mich verfolgt hat. Hat er mich als Jansenisten ausgegeben? Und dann, wie haben Sie sich meiner erinnert? Ich habe es gar nicht verdient, denn ich war damals nur ein Wilder. Ohne Rat, ohne Beistand haben Sie diese Reise nach Versailles unternommen, und kaum sind Sie dort erschienen, so hat man meine Fesseln gelöst ! In der Schönheit und der Tugend liegt wohl ein unbesiegbarer Reiz, der eiserne Türen sprengt und Herzen aus Bronze erweicht!« Bei dem Worte »Tugend« entrang sich der schönen Saint-Yves ein Schluchzen, sie ahnte nicht, wie tugendhaft sie das Verbrechen, das sie sich vorwarf, begangen hatte. »Engel, der Sie meine Fesseln gelöst haben«, fuhr ihr Geliebter fort, »wenn Sie Macht genug hatten (was ich noch nicht fassen kann), um mir Gerechtigkeit zu verschaffen, so erwirken Sie es auch für einen Greis, der mich als erster denken gelehrt hat, wie Sie mich lieben lehrten. Das Unglück hat uns vereint, ich liebe ihn wie einen Vater, und ich kann weder ohne Sie noch ohne ihn leben.« — »Ich soll denselben Mann noch einmal bitten, der ... !« - »Ja, ich will Ihnen, nur Ihnen allein alles zu danken haben. Schreiben Sie an diesen mächtigen Mann, überschütten Sie mich mit Ihren Wohltaten, vollenden Sie das, was Sie begonnen haben, vollenden Sie Ihre Wunder.« Sie fühlte, daß sie alles tun mußte, was ihr Geliebter verlangte. Sie wollte schreiben, ihre Hand gehorchte ihr nicht. Dreimal begann sie den Brief von neuem, dreimal zerriß sie ihn. Endlich war der Brief geschrieben, die beiden Liebenden umarmten den Märtyrer der wirksamen Gnade Gottes und gingen. Fräulein von Saint-Yves, die glücklich und verzweifelt war, wußte, in welchem Hause ihr Bruder wohnte; sie begab sich dorthin, und ihr Geliebter mietete sich ein Zimmer in demselben Hause.

Gerade als sie angelangt waren, schickte ihr ihr Beschützer den Freilassungsbefehl für den guten Gordon und bat sie um ein Rendezvous für den nächsten Tag. So erkaufte sie jede edle und großmütige Tat, die sie beging, mit dem Preis der Unehre. Mit großem Abscheu erkannte sie diesen Brauch, Glück und Unglück der Menschen zu verkaufen. Sie übergab den Freilassungsbefehl ihrem Geliebten, verweigerte aber das Rendezvous dem Wohltäter, denn sie wäre, wenn sie ihn wiedergesehen hätte, vor Schmerz und Schande vergangen. Das Naturkind trennte sich lediglich von ihr, um seinen Freund zu befreien. Er flog zu ihm hin, und während er diese Pflicht erfüllte, sann er gedankenvoll über die seltsamen Geschehnisse dieser Welt nach und bewunderte die mutvolle Tugend eines jungen Mädchens, dem zwei Unglückliche mehr als ihr Leben verdankten.

 

NEUNZEHNTES KAPITEL

 

Das Naturkind, die schöne Saint-Yfes und ihre Verwandten sind vereint

 

Die großmütige und verehrungswürdige Treulose war nun mit ihrem Bruder, dem Abt von Saint-Yves, dem guten Prior Unserer lieben Frau vom Berge und dem Fräulein von Kerkabon zusammen. Einer war ebenso verwundert wie der andere, aber ihre Lage und ihre Gefühle waren sehr verschieden. Der Abt von Saint-Yves bereute weinend zu Füßen seiner Schwester sein Unrecht, und sie verzieh ihm. Der Prior und seine liebevolle Schwester weinten ebenfalls, aber vor Freude. Der widerliche Amtmann und sein unerträglicher Sohn störten diese rührende Szene nicht. Beim ersten Gerücht über die Freilassung ihres Feindes waren sie abgereist und wollten schleunigst ihre Dummheit und ihre Furcht in ihrer Provinz vergraben. Von ganz verschiedenen Regungen bewegt, warteten die vier Personen auf den jungen Menschen und seinen Freund, den er befreien sollte. Der Abt von Saint-Yves wagte nicht, vor seiner Schwester die Augen zu erheben. »Ich werde also meinen Neffen wiedersehen!« rief die gute Kerkabon. »Ja, Sie werden ihn wiedersehen«, sagte die reizende Saint-Yves, »aber er ist nicht mehr derselbe Mensch; seine Haltung, ein Ton, seine Gedanken, sein Geist - alles hat sich verändert. Er ist jetzt ebenso achtbar geworden, wie er früher naiv und weltfremd war. Er wird die Ehre und der Trost Ihrer Familie sein. Ach, könnte ich doch auch das Glück der meinen sein !« — »Sie sind auch nicht mehr dieselbe«, sagte der Prior. »Was ist Ihnen denn widerfahren, das eine so große Veränderung in Ihnen hervorgerufen hat?« Mitten in diesem Gespräch erschien das Naturkind Hand in Hand mit dem Jansenisten. Die Szene wurde noch sonderbarer und interessanter; mit zärtlichen Umarmungen des Onkels und der Tante nahm sie ihren Anfang. Der Abt von Saint-Yves warf sich fast auf die Knie vor dem Naturkind, das kein Naturkind mehr war. Die beiden Liebenden sprachen mit ihren Blicken zueinander, die alle Gefühle ausdrückten, von denen sie durchdrungen waren. Auf dem Antlitz des einen sah man Befriedigung und Dankbarkeit leuchten; die zärtlichen und etwas unsicheren Blicke der anderen drückten Verlegenheit aus. Man war sehr erstaunt, daß sich Schmerz mit so viel Freude mischte. In wenigen Augenblicken wurde der alte Gordon der ganzen Familie lieb. Er hatte mit dem jungen Gefangenen das Unglück geteilt, und das war eine Ehre. Seine Befreiung hatte er den beiden Liebenden zu verdanken, und das allein söhnte ihn mit der Liebe aus. Die Unerbittlichkeit seiner früheren Anschauungen war aus seinem Herzen gewichen, er war ebenso wie der Hurone in einen Menschen verwandelt worden. Bevor man zu Tisch ging, erzählte jeder seine Erlebnisse. Die beiden Geistlichen und die Tante lauschten wie Kinder, die Gespenstergeschichten anhören, und wie Menschen, die an so viel Unglück teilnehmen. »Ach«, rief Gordon, »augenblicklich schmachten vielleicht mehr als fünfhundert Personen in solchen Fesseln, wie Fräulein von Saint-Yves sie gebrochen hat: ihr Unglück ist nicht bekannt. Es finden sich genug Hände, die auf die Menge der Unglücklichen schlagen, selten aber findet sich eine, die hilfreich ist !« Diese richtige Überlegung steigerte noch seine dankbaren Gefühle. Alles erhöhte den Triumph der schönen Saint-Yves, und man bewunderte ihre Seelengröße und ihre Energie. Diese Bewunderung war mit einer Achtung gemischt, die man unwillkürlich einer bei Hofe angesehenen Person schuldig zu sein glaubte. »Wie hat meine Schwester es nur verstanden, so schnell diesen Einfluß zu gewinnen?« fragte der Abt von Saint-Yves immer wieder. Sie setzten sich alle sehr frühzeitig zu Tisch, und nun erschien plötzlich die gute Freundin aus Versailles, die von allem, was inzwischen vorgefallen war, noch nichts wußte. Sie kam in einer sechsspännigen Kutsche vorgefahren, und man kann sich denken, wem diese gehörte. Sie betrat das Haus mit der gewichtigen Miene einer Persönlichkeit vom Hofe, die große Angelegenheiten zu erledigen hat. Sie grüßte die ganze Gesellschaft sehr flüchtig und zog die schöne Saint-Yves beiseite.»Warum lassen Sie solange auf sich warten? Kommen Sie gleich mit mir. Hier sind übrigens Ihre Diamanten, die Sie vergessen haben.« Sie konnte nicht so leise sprechen, und das Naturkind verstand ihre Worte; er sah auch die Diamanten. Der Bruder war bestürzt, der Onkel und die Tante waren nur verwundert wie Leute, die noch nie eine solche Pracht gesehen haben. Der junge Mann, der sich durch ein Jahr voller Nachdenken entwickelt hatte, machte sich unwillkürlich Gedanken und war einen Augenblick entsetzt. Seine Geliebte bemerkte es. Totenblässe breitete sich auf ihrem schönen Antlitz aus, ein Schauer überflog sie, und sie hielt sich kaum aufrecht. »Ach, gnädige Frau«, rief sie ihrer verhängnisvollen Freundin zu, »Sie haben mich zugrunde gerichtet ! Sie treiben mich in den Tod !« Diese Worte durchbohrten dem Naturkind das Herz, aber er hatte schon gelernt, sich zu beherrschen, und er hörte nicht weiter darauf, aus Furcht, seine Freundin vor ihrem Bruder in Verlegenheit zu setzen; aber er erbleichte wie sie. Fräulein von Saint-Yves war ganz bestürzt über die Veränderung, die sie auf dem Gesicht ihres Geliebten wahrnahm. Sie zog die Dame aus dem Zimmer in einen kleinen Flur, warf ihr dort die Diamanten vor die Füße und sagte : »Sie wissen ja, diese Steine haben mich nicht verführt, aber der Mann,der sie mir geschenkt hat, wird mich nie wiedersehen.« Die Freundin hob sie auf, und Fräulein von Saint-Yves fuhr fort: »Mag er sie zurücknehmen oder Ihnen schenken. Gehen Sie, erhöhen Sie nicht die Scham, die ich vor mir selber empfinde.« Die Abgesandte ging schließlich fort, ohne die Gewissensbisse begreifen zu können, deren Zeugin sie geworden war.

Die schöne, bedrängte Saint-Yves empfand einen körperlichen Aufruhr, an dem sie erstickte, und sie mußte zu Bett gehen. Aber um niemanden zu beunruhigen, verschwieg sie ihr Leiden. Müdigkeit vorschützend, bat sie nur um die Erlaubnis, sich etwas ausruhen zu dürfen, aber auch das nur, nachdem sie die Gesellschaft mit tröstenden und freund-lichen Worten beruhigt und ihrem Geliebten Blicke zugeworfen hatte, die seine Seele in Flammen setzten. Das Abendessen, das nicht mehr durch ihre Anwesenheit belebt wurde, verlief anfangs traurig, doch es war eine interessante Trauer, die zu jenen fesselnden und nützlichen Unterhaltungen anregt, die soviel mehr wert sind als die leichtfertige Heiterkeit, die immer angestrebt wird, aber gewöhnlich nichts als ein lästiger Lärm ist. Gordon erzählte in kurzen Worten die Geschichte des Jansenismus, des Molinismus und der Verfolgungen, denen die eine Partei durch die andere ausgesetzt wurde, und von der Hartnäckigkeit beider Parteien. Das Naturkind kritisierte sie und bedauerte die Menschen, die sich nicht mit den vielen Streitigkeiten, die ihren Interessen entspringen, begnügen und sich neue Leiden um eingebildeter Interessen und unsinniger Hirngespinste willen schaffen. Gordon erzählte, der andere urteilte, die Anwesenden lauschten bewegt und wurden von neuer Einsicht erleuchtet. Man sprach davon, wie lange unsere Leiden dauern und wie kurz das Leben ist. Man stellte fest, daß jeder Beruf gewisse ihm verbundene Laster und Gefahren habe und daß alles — vom Fürsten bis zum ärmsten Bettler — an der Natur etwas auszusetzen habe. Und woher kommt es, daß sich so viele Menschen um so geringen Lohn zu Verfolgern, Schergen und Henkern anderer Menschen hergeben? Mit welch unmenschlicher Gleichgültigkeit unterzeichnet ein Mann in hoher Stellung das Verderben einer ganzen Familie, und mit welcher noch barbarischeren Freude führen Söldlinge es aus.

»Als ich jung war, kannte ich einen Verwandten des Marschalls von Marillac«, sagte der gute Gordon. »Weil er wegen der Angelegenheit jenes berühmten Unglücklichen in seiner Provinz verfolgt wurde, hielt er sich unter einem angenommenen Namen in Paris verborgen. Er war ein Greis von zweiundsiebzig Jahren, und seine Gattin, die ihn begleitete, war ungefähr im gleichen Alter. Sie hatten einen liederlichen Sohn, der mit vierzehn Jahren aus dem Elternhaus geflohen war, dann Soldat und schließlich fah-nenflüchtig geworden war, alle Grade der Ausschweifungen und des Elends kennengelernt hatte und endlich unter falschem Namen in die Garde des Kardinals von Richelieu eintrat, denn dieser Geistliche hatte ebenso wie Mazarin eine Leibgarde. In dieser Schergenkompanie hatte der Abenteurer die Stellung eines Polizeioffiziers erhalten und wurde nun beauftragt, seinen greisen Vater und dessen Gattin zu verhaften. Er entledigte sich dieses Auftrages mit der ganzen Roheit eines Menschen, der seinem Vorgesetzten gefallen will. Als er sie ins Gefängnis führte, hörte er, wie die beiden Opfer sich über die lange Kette ihres Unglücks beklagten, das sie von der Wiege an verfolgte. Als den härtesten Schicksalsschlag, der sie getroffen, bezeichneten Vater und Mutter die Ausschweifungen und den Verlust ihres Sohnes. Er erkannte seine Eltern, brachte sie aber dennoch ins Gefängnis und versicherte ihnen, daß der Dienst Seiner Eminenz allem anderen vorangehen müsse. Seine Eminenz belohnte seinen Eifer! Ich habe erlebt, wie ein Spion des Paters de La Chaise seinen eigenen Bruder verriet, in der Hoffnung auf eine kleine Pfründe, die er aber nicht bekommen hat. Ich habe ihn sterben sehen, aber nicht etwa an Gewissensbissen, sondern vor Wut, weil ihn die Jesuiten betrogen hatten. Das Amt eines Beichtvaters, das ich lange ausgeübt habe, gewährte mir einen Einblick in das Familienleben. Ich habe kaum eine Familie gesehen, in der es keinen Kummer und keine Plagen gab, während sie nach außen hin mit der Maske des Glückes in lauter Freude zu leben schienen. Stets habe ich bemerkt, daß die größten Kümmernisse eine Frucht unserer zügellosen Begierden sind.« »Ich glaube aber doch«, sagte das Naturkind, »daß ein edles, dankbares und gefühlvolles Wesen ein glückliches Leben führen kann, und ich hoffe, mit der schönen und hochherzigen Saint-Yves eine ungetrübte Glückseligkeit zu genießen, denn ich nehme doch an«, fügte er, sich mit freundlichem Lächeln an ihren Bruder wendend, hinzu, »daß Sie mich nicht mehr, wie im vorigen Jahr, abweisen werden und daß ich mich diesmal auch mit mehr Anstand benehme.« Der Abt erging sich in Entschuldigungen über das Geschehnis und in Beteuerungen ewiger Anhänglichkeit. Der Onkel Kerkabon nannte diesen Tag den schönsten seines Lebens. Die gute Tante, die in Freudentränen zerfloß, rief außer sich vor Begeisterung : »Habe ich nicht schon immer gesagt, daß aus dir niemals ein Subdiakon werden wird ! Aber das Sakrament der Ehe geht doch über alles !

Wollte Gott, daß ich damit beehrt worden wäre ! Doch nun will ich euch eine Mutter sein.« Und dann konnten sich alle des Lobes über die zärtliche Saint-Yves nicht genugtun.

Das Herz ihres Geliebten war zu sehr angefüllt von dem, was sie für ihn getan hatte, und er liebte sie zu sehr, als daß der Vorfall mit den Diamanten sein Herz tief beeindruckt hatte. Aber die Worte : »Sie treiben mich in den Tod«, die er nur zu gut gehört hatte, beunruhigten ihn noch immer und verdarben seine ganze Freude, während die Lobprei-sungen seiner schönen Freundin seine Liebe noch weiter steigerten. Schließlich waren alle nur noch mit ihr beschäftigt, sie sprachen nur noch von dem Glück, das diese beiden verdienten. Man machte Vorschläge für ein Zusammenleben in Paris und schmiedete Pläne auf Reichtum und Vorwärtskommen. Man gab sich all den Hoffnungen hin, die der leiseste Schimmer von Glück so leicht erweckt. In seinem tiefsten Innern empfand das Naturkind aber etwas, das sich gegen diese Illusionen sträubte. Er las noch einmal die von Saint-Pouange unterzeichneten Versprechungen und das von Louvois unterzeichnete Patent durch. Er ließ sich diese beiden Männer schildern, wie sie wirklich waren, und so, wie man sie ansah. Jeder sprach von den Ministern und dem Ministerium mit jener Ungeniertheit, die in Frankreich für die allerkostbarste Freiheit gehalten wird, die man auf Erden genießen kann. »Wäre ich König von Frankreich«, sagte das Naturkind, »so müßte der von mir erwählte Kriegsminister ein Mann von höchstem Adel sein, und zwar aus dem Grunde, weil er dem Adel Befehle zu erteilen hat. Er müßte ferner selbst Offizier sein und alle Rangstufen durchlaufen haben, ja er müßte mindestens Generalleutnant sein und würdig, Marschall von Frankreich zu werden, denn um die Einzelheiten des Dienstes gut zu kennen, wäre es doch notwendig, daß er selbst gedient hätte. Und würden die Offiziere nicht hundertmal lieber einem Kriegsmann gehorchender so wie sie selber Mut bewiesen hat, als dem Mitglied eines Kabinetts, einem Stubenmenschen, der bei all seinem Verstand die Operationen eines Feldzuges bestenfalls nur erraten kann. Ich hätte auch nichts gegen die Freigebigkeit meines Ministers einzuwenden, würde auch mein Schatzmeister dadurch ab und zu in Verlegenheit gebracht. Die Arbeit müßte ihm leicht von der Hand gehen, und er selbst müßte sich durch geistige Heiterkeit auszeichnen, die einem bedeutenden Menschen in wichtigen Angelegenheiten stets eigen ist, dem Volke so überaus gefällt und auch alle Pflichten weniger schwer macht.« Diese Charakterzüge sollte ein Minister haben, weil das Naturkind stets festgestellt hatte, daß ein heiteres Gemüt mit Grausamkeit unvereinbar ist.

Herr von Louvois wäre wohl kaum mit den Wünschen des Naturkindes einverstanden gewesen, denn er hielt auf ganz andere Verdienste.

Während sie alle bei Tische saßen, verschlimmerte sich die Krankheit des unglücklichen Mädchens immer mehr, ihr Blut glühte, und ein zehrendes Fieber hatte sich eingestellt. Sie litt, aber sie klagte nicht und war ängstlich bemüht, die Freude der Gäste nicht zu stören.

Als ihr Bruder bemerkte, daß sie nicht schlief, ging er zu ihr ans Bett und erschrak über ihren Zustand. Nun kamen alle herbeigeeilt. Ihr Geliebter, der hinter ihrem Bruder stand, war sicherlich am erregtesten und betroffensten von allen, aber er hatte gelernt, all die glücklichen Gaben, die ihm die Natur geschenkt hatte, mit Zurückhaltung zu verbinden, und seine Selbstbeherrschung fing an, in ihm die Oberhand zu gewinnen.

Man ließ sofort einen in der Nähe wohnenden Arzt holen, der zu denen gehörte, die ihre Patienten im Nu untersuchen und die Krankheiten, die sie kurz vorher sahen, mit denen verwechseln, die sie jetzt vor Augen haben. Sie wenden ein blindes Verfahren an in einer Wissenschaft, der man selbst bei reifer und gesunder Überlegung nicht ihre Unsicherheit und ihre Gefahren nehmen kann. Er verschlimmerte das Übel durch seine Hast, mit der er ein Modearzneimittel verschrieb. Sogar in der Medizin herrscht Mode! Diese Manie war in Paris nur allzu üblich. Die Bekümmernis des Fräulein von Saint-Yves trug noch mehr als ihr Arzt dazu bei, ihre Krankheit gefährlich zu machen : ihre Seele tötete ihren Körper. Der Schwärm der Gedanken, die sie bewegten, flößte ihren Adern ein weit gefährlicheres Gift ein als das des hitzigen Fiebers.

 

ZWANZIGSTES KAPITEL

 

Die schöne Saint-Yves stirbt, und was darauf geschieht

 

Man zog einen anderen Arzt zu Rate. Anstatt die Natur zu unterstützen und sie in einem jungen Körper, in dem alle Organe nach Leben strebten, frei wirken zu lassen, war dieser Arzt nur beflissen, seinem Kollegen entgegenzuarbeiten. In zwei Tagen wurde die Krankheit lebensgefährlich. Das Gehirn, das man für den Sitz des Verstandes hält, wurde ebenso stark angegriffen wie das Herz, das, wie man sagt, der Sitz der Leidenschaft ist.

Welche unbegreifliche Mechanik hat die Organe dem Gefühl und dem Denken unterworfen? Wie kommt es, daß eine einzige schmerzliche Vorstellung den Blutkreislauf stört? Und wie kann das Blut von sich aus seine Störungen auf den menschlichen Verstand übertragen? Was ist das für ein unbekanntes, doch bestimmt vorhandenes Fluidum, das noch schneller und wirksamer als das Licht im Nu durch alle Lebenskanäle fliegt, die Gefühle, Erinnerungen, Trauer und Freude, Vernunft und Taumel erzeugt, mit Entsetzen gerade das festhält, was man vergessen möchte, und aus einem denkenden Wesen einen Gegenstand der Bewunderung oder des Mitleids und der Tränen macht? Diese Fragen legte sich der gute Gordon vor, und seine ganz natürlichen Überlegungen, die aber die Menschen selten genug anstellen, minderten keineswegs seine herzliche Teilnahme, denn er gehörte nicht zu den unglücklichen Philosophen, die bestrebt sind, gefühllos zu sein. Das Schicksal des jungen Mädchens erschütterte ihn wie einen Vater, der sein geliebtes Kind langsam dahinsterben sieht. Der Abt von Saint-Yves war verzweifelt, der Prior und seine Schwester vergossen ganze Ströme von Tränen. Wer ist jedoch in der Lage, den Zustand ihres Geliebten zu schildern? In keiner Sprache der Welt findet man die Ausdrücke für solch ein Übermaß an Schmerz. Die Tante, die selbst halbtot war, hielt den Kopf der Sterbenden in ihren schwachen Händen, ihr Bruder kniete am Fußende des Bettes, ihr Geliebter drückte ihre Hand, die er mit Tränen benetzte, und schluchzte herzzerreißend. Er nannte sie seine Wohltäterin, seine Hoffnung, sein Leben, sein halbes Ich, seine Herrin, seine Gattin. Bei dem Worte »Gattin« seufzte sie und blickte ihn mit unsagbarer Zärtlichkeit an. Plötzlich stieß sie einen Entsetzensschrei aus und rief dann in einer der Pausen, in denen die Erschöpfung und Betäubung der Sinne sowie die unterbrochenen Leiden der Seele ihre Kraft wiedergaben : »Ich, Ihre Gattin ! Oh ! Teurer Geliebter, dieses Wort, dieses Glück, dieser Preis sind nicht mehr für mich, ich sterbe und verdiene auch den Tod. O gerechter Gott ! O Tugend, die ich den höllischen Dämonen geopfert habe - es ist geschehen, ich bin gestraft. Lebewohl!« Diese liebevollen, schrecklichen Worte konnten nicht verstanden werden, aber sie erweckten in allen Herzen Furcht und Rührung. Sie hatte den Mut, sich näher zu erklären. Jedes Wort ließ alle Anwesenden vor Erstaunen, Schmerz und Mitleid erzittern. Alle vereinten sich im Gefühl der Verachtung gegenüber dem mächtigen Mann, der eine schreiende Ungerechtigkeit durch ein Verbrechen wieder gutgemacht und die verehrungswürdigste Unschuldige gezwungen hatte, seine Mitschuldige zu werden.

»Wer? Sie sollen schuldig sein?« sprach ihr Freund zu ihr. »Nein, Sie sind es nicht. Die Schuld entspringt stets dem Herzen, aber Ihr Herz gehört der Tugend und mir.« Er bekräftigte diesen Gefühlsausbruch mit Worten, die die schöne Saint-Yves dem Leben wiederzugeben schienen. Sie fühlte sich getröstet und war erstaunt, daß man sie noch liebte. Der alte Gordon hätte sie in der Zeit, als er noch Jansenist war, schuldig gesprochen, da er aber nun weise geworden war, achtete er sie und weinte. Während sie alle Tränen vergossen und besorgt waren, und die Gefahr, in der das allen so liebe Mädchen schwebte, alle Herzen erfüllte und die Anwesenden kopflos machte, wurde ein Bote vom Hofe gemeldet. Ein Bote ! Von wem? Und zu welchem Zweck? Er kam von dem Beichtvater des Königs und war an den Prior Unserer lieben Frau vom Berge gerichtet. Der Paterde La Chaise schrieb jedoch nicht selber, sondern der Frater Vadbled, sein Kammerdiener, ein damals sehr einflußreicher Mann, denn er übermittelte den Erzbischöfen die Verfügungen des hochwürdigen Vaters, erteilte Audienzen, versprach Pfründen und erließ auch bisweilen geheime Haftbefehle. Er schrieb dem Abt vom Berge, daß seine Hochwürden von den Erlebnissen seines Neffen unterrichtet worden wäre, daß seine Gefängnisstrafe nur ein Irrtum gewesen sei, daß solche kleinen peinlichen Vorfälle öfter vorkämen und daß man sie nicht allzu ernst nehmen dürfe. Und schließlich sei es genehmigt, daß. wenn der Prior ihm morgen seinen Neffen vorführe, er auch den braven Gordon mitbringe. Der Frater Vadbled würde sie selber bei Seiner Hochwürden einführen und auch bei Herrn von Louvois, der wohl in seinem Vorzimmer ein paar Worte an sie zu richten hätte. Er fügte noch hinzu, daß die Geschichte des Naturkindes und sein Kampf gegen die Engländer dem König berichtet worden sei und daß der König ihm beim Durchschreiten der Galerie sicherlich mit einem Blick oder vielleicht gar mit einem Kopfnicken beehren werde. Der Brief endete damit, daß der schmeichelhaften Hoffnung Ausdruck gegeben werde, alle Damen des Hofes würden es sich angelegen sein lassen, seinen Neffen bei ihrer Toilette zu empfangen, und manche von ihnen würden ihm »Guten Tag, Herr Naturmensch« zurufen! Sicherlich würde von ihm auch bei der Abendtafel des Königs gesprochen werden. Der Brief war unterzeichnet: »Ihr wohlgeneigter Jesuitenbruder Vadbled.«

Der Prior hatte den Brief laut vorgelesen, sein wütender Neffe zügelte zuerst seinen Zorn und sagte nichts zu dem Überbringer des Schreibens, aber er wandte sich an den Gefährten seines Unglücks und fragte ihn, was er von diesem Stil halte. »Man behandelt die Menschen ja wie die Affen«, erwiderte ihm Gordon. »Man prügelt sie und läßt sie hinterher tanzen.« Das Naturkind fiel in seinen wahren Charakter zurück, der sich stets bei den großen Regungen unserer Seele entblößt. Er zerriß den Brief in tausend Stücke und warf sie dem Boten ins Gesicht. »Das ist meine Antwort.« Sein entsetzter Onkel glaubte, den Blitz und zwanzig Haftbefehle auf ihn niederfahren zu sehen. Er machte sich schnell daran, einen Brief zu schreiben, und so gut er konnte, das zu entschuldigen, was er für das Ungestüm eines jungen Menschen hielt, das in Wirklichkeit aber der Ausbruch einer edlen Seele war.

Doch weit schmerzvollere Sorgen bemächtigten sich der Herzen aller. Die schöne unglückliche Saint-Yves fühlte ihr Ende bereits nahen. Sie war ruhig, aber es war jene furchtbare Ruhe der geschwächten Natur, die keine Kraft mehr zum Kämpfen hat. »Oh, mein teurer Geliebter !« flüsterte sie mit versiegender Stimme. »Der Tod straft mich für meine Schwäche, aber ich scheide mit dem Trost, dich frei zu wissen. Ich habe dich geliebt, auch als ich dich verriet, und ich bete dich an, während ich dir das letzte Lebewohl sage.«

Sie schmückte sich nicht mit eitler Festigkeit, sie strebte nicht nach dem erbärmlichen Ruhm, ein paar Nachbarn zu den Worten zu zwingen: »Sie ist mutig gestorben.« Wer vermag mit zwanzig Jahren seinen Geliebten, sein Leben und das, was man Ehre nennt, zu verlieren, ohne Bedauern und Verzweiflung zu äußern? Sie empfand ihren schreck-lichen Zustand und verriet es durch jene Worte und sterbenden Blicke, die mit so viel Macht sprechen. Und schließlich weinte sie wie die anderen in den Augenblicken, in denen sie Kraft dazu hatte.

Mögen andere das pathetische Sterben jener zu preisen suchen, die empfindungslos in das Nichts hinübergehen: das ist das Los aller Tiere. Gleichgültig wie sie sterben wir nur, wenn Alter oder Krankheit uns durch die Stumpfheit unserer Organe ihnen ähnlich gemacht hat. Wer aber einen großen Verlust erleidet, äußert auch seinen großen Schmerz, wenn er ihn aber unterdrückt, so heißt es nur, daß er sogar in den Armen des Todes seine Eitelkeit noch aufrechterhält.

Als der verhängnisvolle Augenblick gekommen war, brachen alle Anwesenden in Wehgeschrei aus. Das Naturkind verlor die Besinnung. Starke Seelen haben in ihrer Liebe weit ungestümere Empfindungen als andere. Der alte Gordon kannte das Naturkind genug, um zu befürchten, er könnte, wenn er wieder zur Besinnung gekommen wäre, sich etwas antun. Alle Waffen wurden versteckt, der un-glückliche junge Mann bemerkte es jedoch und sagte zu seinen Verwandten und zu Gordon, ohne zu weinen, zu stöhnen und sich aufzuregen : »Glaubt ihr denn, daß irgendein Mensch auf Erden das Recht und die Macht hat, mich zu hindern, meinem Leben ein Ende zu machen?« Gordon hütete sich wohl, vor ihm die langweiligen Gründe auszukramen, mit denen man zu beweisen sucht, daß es nicht erlaubt ist, seine Freiheit dazu zu benutzen, um das »Sein« auszulöschen, wenn man mit dieser Existenz fürchterlich schlecht daran ist ; daß man sein Haus nicht verlassen dürfe, wenn man es nicht mehr bewohnen kann, daß der Mensch auf Erden gleich einem Soldaten auf Posten sei ; ob dem Höchsten aller Wesen daran liegen kann, daß die Verbindung einiger Teilchen Materie gerade an diesem oder jenem Ort zustande käme - lauter wertlose Gründe, die eine tiefe und besonnene Verzweiflung verschmäht und die Cato nur mit einem Dolchstoß beantwortet hat. Das düstere, furchtbare Schweigen des Naturkindes, seine finsteren Blicke, seine bebenden Lippen und sein Zucken am ganzen Körper erweckten in den Herzen aller, die ihn anblickten, ein Gemisch von Mitleid und Entsetzen, das alle Seelenkräfte lähmt, jede Erörterung verbietet und sich nur in abgerissenen Worten Luft macht. Die Hausfrau und ihre Familie waren hereingekommen. Alle zitterten angesichts seiner Verzweiflung, man ließ ihn nicht aus den Augen, und jeder verfolgte seine Bewegungen. Den erkalteten Körper der schönen Saint-Yves hatte man inzwischen in einen im unteren Stock gelegenen Saal getragen; sie war fern von den Augen ihres Geliebten, aber er schien sie immer noch zu suchen, obwohl er nichts mehr sehen konnte. Während dieses Schauspiel des Todes ablief, während der Leichnam an der Tür aufgestellt war und zwei Geistliche zu beiden Seiten eines Weihwasserbeckens mit zerstreuter Miene Gebete hersagten, Passanten aus Langeweile ein paar Tropfen Weihwasser auf den Sarg sprengten oder auch gleichgültig vorbeigingen, während die Verwandten weinten und ein Liebender nahe daran war, sich das Leben zu nehmen, langte Saint-Pouange mit der Freundin aus Versailles an.

Seine flüchtige Neigung, die nicht mehr als einmal befriedigt worden war, hatte sich in Liebe verwandelt. Die Zurückweisung seiner Wohltaten hatte ihn verletzt. Der Pater de La Chaise wäre nie auf den Gedanken gekommen, dieses Haus aufzusuchen, aber Saint-Pouange sah täglich das Bild der schönen Saint-Yves vor seinen Augen und brannte dar-auf, eine Leidenschaft zu stillen, die durch eine einmalige Befriedigung den Stachel des Verlangens tief in sein Herz gebohrt hatte. Und so zögerte er nicht, sie selbst aufzu-suchen, die er vielleicht, wenn sie selbst gekommen wäre, nicht einmal hätte wiedersehen mögen. Er stieg aus dem Wagen. Das erste, was sich seinem Blick darbot, war ein Sarg. Er wendete die Augen ab mit dem einfachen Widerwillen eines in Freuden aufgewachsenen Menschen, der glaubt, jeder Anblick, der ihn zur Betrachtung des menschlichen Elends anregen könnte, müßte ihm erspart bleiben. Er wollte hinaufgehen. Die Dame aus Versailles dagegen fragte neugierig, wen man begraben wolle, und man sprach den Namen des Fräulein von Saint-Yves aus. Als sie das hörte, erblaßte sie und stieß einen furchtbaren Schrei aus. Saint-Pouange wandte sich um, Überraschung und Schmerz erfüllten seine Seele. Mit tränenerfüllten Augen stand auch der gute Gordon da, und er unterbrach seine traurigen Gebete, um dem Höfling von dieser furchtbaren Katastrophe zu berichten. Er sprach zu ihm mit jener Macht, die uns Schmerz und Tugend verleihen. Saint-Pouange war von Natur nicht schlecht, doch der Wirbel der Geschäfte und Lustbarkeiten hatten seine Seele, die sich noch nicht selbst erkannt hatte, fortgerissen. Er hatte noch nicht das Greisenalter erreicht, das gewöhnlich die Herzen der Minister verhärtet. Er hörte Gordon mit niedergeschlagenen Augen an und wischte ein paar Tränen fort, über die er selbst erstaunt war: er hatte die Reue kennengelernt! »Ich möchte unbedingt den außergewöhnlichen Mann sehen, von dem Sie gesprochen haben«, sagte Saint-Pouange, »er rührt mich fast ebenso wie das unglückliche Opfer, dessen Tod ich verschuldet habe.« Gordon führte ihn in das Zimmer, in dem der Prior, die gute Kerkabon, der Abt von Saint-Yves und einige Nachbarn sich bemühten, den jungen Mann, der wieder ohnmächtig geworden war, ins Leben zurückzurufen.

»Ich habe Ihr Unglück verschuldet«, sagte der Unterminister zu dem Naturkind, »ich will mein Leben dafür einsetzen, es wieder gutzumachen.« Der erste Gedanke, der dem Naturkind in den Kopf kam, war, den Minister zu töten und dann sich selber. Nichts war angebrachter als das, aber er hatte keine Waffe und wurde sorglich überwacht. Saint-Pouange ließ sich nicht durch die abschlägigen Antworten abschrecken, die man ihm mit zahllosen Vorwürfen, voller Verachtung und Abscheu entgegenbrachte. Die Zeit mildert alles. Seiner Hochwürden, dem Herrn von Louvois, gelang es schließlich, aus dem Naturkind einen ausgezeichneten Offizier zu machen, der unter einem anderen Namen in Paris und in der Armee den Beifall aller ehrenwerten Leute genoß; er war ein Kriegsmann und zu-gleich ein unerschrockener Philosoph. Er seufzte immer tief, wenn er von seinem Erlebnis sprach, und doch war es ein Trost für ihn, davon zu reden, denn das Andenken an die liebreizende Saint-Yves blieb ihm bis an sein Lebensende heilig. Der Abt von Saint-Yves und der Prior erhielten jeder eine schöne Pfründe ; der guten Kerkabon war es lieber, ihren Neffen unter militärischen Ehren zu sehen als im Besitz eines Subdiakonats.Die fromme Dame aus Versailles behielt die Diamantohrringe und bekam noch ein schönes Geschenk. Der Pater Tout-à-tous erhielt Schachteln mit Schokolade, Kaffee, Kandiszucker und gezuckerten Zitronen sowie die »Betrachtungen des hoch-würdigen Pastors Croiset« und »Die Blume der Heiligen« in Saffian gebunden. Der gute Gordon lebte bis zu seinem Tode mit dem Naturkind in innigster Freundschaft; auch er bekam eine Pfründe und vergaß für immer die »wirkende Gnade« und das »mitwirkende Ereignis«. Zu seinem Wahlspruch erhob er : »Unglück ist stets zu etwas gut.« Aber wie-viel ehrenhafte Menschen haben auf dieser Welt Veranlassung zu sagen : »Unglück ist zu nichts gut !«

ENDE

Ein herzlicher Dank an Volker für die Übersendung der *.txt Datei.

Wer war Jeanne d'Arc und wer war die Jungfrau von Orleans ???

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