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goethe

Johann Wolfgang von Goethe - Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

Inhalt:

Bassompierres Geschichte von der schönen Krämerin
Ferdinands Schuld und Wandlung
Der Prokurator

 

Bassompierres Geschichte von der schönen Krämerin

Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

(1795)

 

"Der Marschall von Bassompierre", sagte er, "erzählt sie in seinen
Memoiren; es sei mir erlaubt, in seinem Namen zu reden:

Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, so oft ich über die
kleine Brücke ging--denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht
erbauet--, daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit
zwei Engeln kenntlich war, sich tief und wiederholt vor mir neigte und
mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf,
ich sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich
von Fontainebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke
heraufkam, trat sie an ihre Ladentüre und sagte zu mir, indem ich
vorbeiritt: "Mein Herr, Ihre Dienerin!" Ich erwiderte ihren Gruß, und
indem ich mich von Zeit zu Zeit umsah, hatte sie sich weiter
vorgelehnt, um mir so weit als möglich nachzusehen.

Ein Bedienter nebst einem Postillon folgten mir, die ich noch diesen
Abend mit Briefen an einige Damen nach Fontainebleau zurückschicken
wollte. Auf meinen Befehl stieg der Bediente ab und ging zu der
jungen Frau, ihr in meinem Namen zu sagen, daß ich ihre Neigung, mich
zu sehen und zu grüßen, bemerkt hätte; ich wollte, wenn sie wünschte,
mich näher kennenzulernen, sie aufsuchen, wo sie verlangte.

Sie antwortete dem Bedienten, er hätte ihr keine bessere Neuigkeit
bringen können, sie wollte kommen, wohin ich sie bestellte, nur mit
der Bedingung, daß sie eine Nacht mit mir unter einer Decke zubringen
dürfte.

Ich nahm den Vorschlag an und fragte den Bedienten, ob er nicht etwa
einen Ort kenne, wo wir zusammenkommen könnten. Er antwortete, daß er
sie zu einer gewissen Kupplerin führen wollte, rate mir aber, weil die
Pest sich hier und da zeige, Matratzen, Decken und Leintücher aus
meinem Hause hinbringen zu lassen. Ich nahm den Vorschlag an, und er
versprach, mir ein gutes Bett zu bereiten.

Des Abends ging ich hin und fand eine sehr schöne Frau von ungefähr
zwanzig Jahren mit einer zierlichen Nachtmütze, einem sehr feinen
Hemde, einem kurzen Unterrocke von grünwollenem Zeuge. Sie hatte
Pantoffeln an den Füßen und eine Art von Pudermantel übergeworfen.
Sie gefiel mir außerordentlich, und da ich mir einige Freiheiten
herausnehmen wollte, lehnte sie meine Liebkosungen mit sehr guter Art
ab und verlangte, mit mir zwischen zwei Leintüchern zu sein. Ich
erfüllte ihr Begehren und kann sagen, daß ich niemals ein zierlicheres
Weib gekannt habe noch von irgendeiner mehr Vergnügen genossen hätte.
Den andern Morgen fragte ich sie, ob ich sie nicht noch einmal sehen
könnte, ich verreise erst Sonntag; und wir hatten die Nacht vom
Donnerstag auf den Freitag miteinander zugebracht.

Sie antwortete mir, daß sie es gewiß lebhafter wünsche als ich; wenn
ich aber nicht den ganzen Sonntag bliebe, sei es ihr unmöglich, denn
nur in der Nacht vom Sonntag auf den Montag könne sie mich wiedersehen.
Als ich einige Schwierigkeiten machte, sagte sie: "Ihr seid wohl
meiner in diesem Augenblicke schon überdrüssig und wollt nun Sonntags
verreisen; aber Ihr werdet bald wieder an mich denken und gewiß noch
einen Tag zugeben, um eine Nacht mit mir zuzubringen."

Ich war leicht zu überreden, versprach ihr, den Sonntag zu bleiben und
die Nacht auf den Montag mich wieder an dem nämlichen Orte einzufinden.
Darauf antwortete sie mir: "Ich weiß recht gut, mein Herr, daß ich
in ein schändliches Haus um Ihrentwillen gekommen bin; aber ich habe
es freiwillig getan, und ich hatte ein so unüberwindliches Verlangen,
mit Ihnen zu sein, daß ich jede Bedingung eingegangen wäre. Aus
Leidenschaft bin ich an diesen abscheulichen Ort gekommen, aber ich
würde mich für eine feile Dirne halten, wenn ich zum zweitenmal dahin
zurückkehren könnte. Möge ich eines elenden Todes sterben, wenn ich
außer meinem Mann und Euch irgend jemand zu Willen gewesen bin und
nach irgendeinem andern verlange! Aber was täte man nicht für eine
Person, die man liebt, und für einen Bassompierre? Um seinetwillen
bin ich in das Haus gekommen, um eines Mannes willen, der durch seine
Gegenwart diesen Ort ehrbar gemacht hat. Wollt Ihr mich noch einmal
sehen, so will ich Euch bei meiner Tante einlassen."

Sie beschrieb mir das Haus aufs genaueste und fuhr fort: "Ich will
Euch von zehn Uhr bis Mitternacht erwarten, ja noch später, die Türe
soll offen sein. Erst findet Ihr einen kleinen Gang, in dem haltet
Euch nicht auf, denn die Türe meiner Tante geht da heraus. Dann stößt
Euch eine Treppe sogleich entgegen, die Euch ins erste Geschoß führt,
wo ich Euch mit offnen Armen empfangen werde."

Ich machte meine Einrichtung, ließ meine Leute und meine Sachen
vorausgehen und erwartete mit Ungeduld die Sonntagsnacht, in der ich
das schöne Weibchen wiedersehen sollte. Um zehn Uhr war ich schon am
bestimmten Orte. Ich fand die Türe, die sie mir bezeichnet hatte,
sogleich, aber verschlossen und im ganzen Hause Licht, das sogar von
Zeit zu Zeit wie eine Flamme aufzulodern schien. Ungeduldig fing ich
an zu klopfen, um meine Ankunft zu melden; aber ich hörte eine
Mannsstimme, die mich fragte, wer draußen sei.

Ich ging zurück und einige Straßen auf und ab. Endlich zog mich das
Verlangen wieder nach der Türe. Ich fand sie offen und eilte durch
den Gang die Treppe hinauf. Aber wie erstaunt war ich, als ich in dem
Zimmer ein paar Leute fand, welche Bettstroh verbrannten, und bei der
Flamme, die das ganze Zimmer erleuchtete, zwei nackte Körper auf dem
Tische ausgestreckt sah. Ich zog mich eilig zurück und stieß im
Hinausgehen auf ein paar Totengräber, die mich fragten, was ich suchte.
Ich zog den Degen, um sie mir vom Leibe zu halten, und kam nicht
unbewegt von diesem seltsamen Anblick nach Hause. Ich trank sogleich
drei bis vier Gläser Wein, ein Mittel gegen die pestilenzialischen
Einflüsse, das man in Deutschland sehr bewährt hält, und trat, nachdem
ich ausgeruhet, den andern Tag meine Reise nach Lothringen an.

Alle Mühe, die ich mir nach meiner Rückkunft gegeben, irgend etwas von
dieser Frau zu erfahren, war vergeblich. Ich ging sogar nach dem
Laden der zwei Engel; allein die Mietleute wußten nicht, wer vor ihnen
darin gesessen hatte.

Dieses Abenteuer begegnete mir mit einer Person vom geringen Stande,
aber ich versichere, daß ohne den unangenehmen Ausgang es eins der
reizendsten gewesen wäre, deren ich mich erinnere, und daß ich niemals
ohne Sehnsucht an das schöne Weibchen habe denken können."

Ferdinands Schuld und Wandlung

Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

(1795)

Man kann in Familien oft die Bemerkung machen, daß Kinder sowohl der
Gestalt als dem Geiste nach bald vom Vater, bald von der Mutter
Eigenschaften an sich tragen, und so kommt auch manchmal der Fall vor,
daß ein Kind die Naturen beider Eltern auf eine besondere und
verwundernswürdige Weise verbindet.

Hievon war ein junger Mensch, den ich Ferdinand nennen will, ein
auffallender Beweis. Seine Bildung erinnerte an beide Eltern, und
ihre Gemütsart konnte man in der seinigen genau unterscheiden. Er
hatte den leichten und frohen Sinn des Vaters, so auch den Trieb, den
Augenblick zu genießen, und eine gewisse leidenschaftliche Art, bei
manchen Gelegenheiten nur sich selbst in Anschlag zu bringen. Von der
Mutter aber hatte er, so schien es, ruhige Überlegung, ein Gefühl von
Recht und Billigkeit und eine Anlage zur Kraft, sich für andere
aufzuopfern. Man sieht hieraus leicht, daß diejenigen, die mit ihm
umgingen, oft, um seine Handlungen zu erklären, zu der Hypothese ihre
Zuflucht nehmen mußten, daß der junge Mann wohl zwei Seelen haben
möchte.

Ich übergehe mancherlei Szenen, die in seiner Jugend vorfielen, und
erzähle nur eine Begebenheit, die seinen ganzen Charakter ins Licht
setzt und in seinem Leben eine entschiedene Epoche machte.

Er hatte von Jugend auf eine reichliche Lebensart genossen, denn seine
Eltern waren wohlhabend, lebten und erzogen ihre Kinder, wie es
solchen Leuten geziemt, und wenn der Vater in Gesellschaften, beim
Spiel und durch zierliche Kleidung mehr, als billig war, ausgab, so
wußte die Mutter als eine gute Haushälterin dem gewöhnlichen Aufwande
solche Grenzen zu setzen, daß im Ganzen ein Gleichgewicht blieb und
niemals ein Mangel zum Vorschein kommen konnte. Dabei war der Vater
als Handelsmann glücklich; es gerieten ihm manche Spekulationen, die
er sehr kühn unternommen hatte, und weil er gern mit Menschen lebte,
hatte er sich in Geschäften auch vieler Verbindungen und mancher
Beihülfe zu erfreuen.

Die Kinder, als strebende Naturen, wählen sich gewöhnlich im Hause das
Beispiel dessen, der am meisten zu leben und zu genießen scheint. Sie
sehen in einem Vater, der sichs wohl sein läßt, die entschiedene Regel,
wornach sie ihre Lebensart einzurichten haben, und weil sie schon
früh zu dieser Einsicht gelangen, so schreiten meistenteils ihre
Begierden und Wünsche in großer Disproportion der Kräfte ihres Hauses
fort. Sie finden sich bald überall gehindert, um so mehr, als jede
neue Generation neue und frühere Anforderungen macht und die Eltern
den Kindern dagegen meistenteils nur gewähren möchten, was sie selbst
in früherer Zeit genossen, da noch jedermann mäßiger und einfacher zu
leben sich bequemte.

Ferdinand wuchs mit der unangenehmen Empfindung heran, daß ihm oft
dasjenige fehle, was er an seinen Gespielen sah. Er wollte in
Kleidung, in einer gewissen Liberalität des Lebens und Betragens
hinter niemanden zurückbleiben, er wollte seinem Vater ähnlich werden,
dessen Beispiel er täglich vor Augen sah und der ihm doppelt als
Musterbild erschien: einmal als Vater, für den der Sohn gewöhnlich ein
günstiges Vorurteil hegt, und dann wieder, weil der Knabe sah, daß der
Mann auf diesem Wege ein vergnügliches und genußreiches Leben führte
und dabei von jedermann geschätzt und geliebt wurde. Ferdinand hatte
hierüber, wie man sich leicht denken kann, manchen Streit mit der
Mutter, da er dem Vater die abgelegten Röcke nicht nachtragen, sondern
selbst immer in der Mode sein wollte. So wuchs er heran, und seine
Forderungen wuchsen immer vor ihm her, so daß er zuletzt, da er
achtzehn Jahre alt war, ganz außer Verhältnis mit seinem Zustande sich
fühlen mußte.

Schulden hatte er bisher nicht gemacht, denn seine Mutter hatte ihm
davor den größten Abscheu eingeflößt, sein Vertrauen zu erhalten
gesucht und in mehreren Fällen das äußerste getan, um seine Wünsche zu
erfüllen oder ihn aus kleinen Verlegenheiten zu reißen.
Unglücklicherweise mußte sie in eben dem Zeitpunkte, wo er nun als
Jüngling noch mehr aufs äußere sah, wo er durch die Neigung zu einem
sehr schönen Mädchen, verflochten in größere Gesellschaft, sich andern
nicht allein gleichzustellen, sondern vor andern sich hervorzutun und
zu gefallen wünschte, in ihrer Haushaltung gedrängter sein als jemals;
anstatt also seine Forderungen wie sonst zu befriedigen, fing sie an,
seine Vernunft, sein gutes Herz, seine Liebe zu ihr in Anspruch zu
nehmen, und setzte ihn, indem sie ihn zwar überzeugte, aber nicht
veränderte, wirklich in Verzweiflung.

Er konnte, ohne alles zu verlieren, was ihm so lieb als sein Leben war,
die Verhältnisse nicht verändern, in denen er sich befand. Von der
ersten Jugend an war er diesem Zustande entgegen; er war mit allem,
was ihn umgab, zusammengewachsen; er konnte keine Faser seiner
Verbindungen, Gesellschaften, Spaziergänge und Lustpartien zerreißen,
ohne zugleich einen alten Schulfreund, einen Gespielen, eine neue,
ehrenvolle Bekanntschaft und, was das Schlimmste war, seine Liebe zu
verletzen.

Wie hoch und wert er seine Neigung hielt, begreift man leicht, wenn
man erfährt, daß sie zugleich seiner Sinnlichkeit, seinem Geiste,
seiner Eitelkeit und seinen lebhaften Hoffnungen schmeichelte. Eins
der schönsten, angenehmsten und reichsten Mädchen der Stadt gab ihm,
wenigstens für den Augenblick, den Vorzug vor seinen vielen Mitwerbern.
Sie erlaubte ihm, mit dem Dienst, den er ihr widmete, gleichsam zu
prahlen, und sie schienen wechselsweise auf die Ketten stolz zu sein,
die sie einander angelegt hatten. Nun war es ihm Pflicht, ihr überall
zu folgen, Zeit und Geld in ihrem Dienste zu verwenden und auf jede
Weise zu zeigen, wie wert ihm ihre Neigung und wie unentbehrlich ihm
ihr Besitz sei.

Dieser Umgang und dieses Bestreben machte Ferdinanden mehr Aufwand,
als es unter andern Umständen natürlich gewesen wäre. Sie war
eigentlich von ihren abwesenden Eltern einer sehr wunderlichen Tante
anvertraut worden, und es erforderte mancherlei Künste und seltsame
Anstalten, um Ottilien, diese Zierde der Gesellschaft, in Gesellschaft
zu bringen. Ferdinand erschöpfte sich in Erfindungen, um ihr die
Vergnügungen zu verschaffen, die sie so gern genoß und die sie jedem,
der um sie war, zu erhöhen wußte.

Und in eben diesem Augenblicke von einer geliebten und verehrten
Mutter zu ganz andern Pflichten aufgefordert zu werden, von dieser
Seite keine Hülfe zu sehen, einen so lebhaften Abscheu vor Schulden zu
fühlen, die auch seinen Zustand nicht lange würden gefristet haben,
dabei von jedermann für wohlhabend und freigebig angesehen zu werden
und das tägliche und dringende Bedürfnis des Geldes zu empfinden, war
gewiß eine der peinlichsten Lagen, in der sich ein junges, durch
Leidenschaften bewegtes Gemüt befinden kann.

Gewisse Vorstellungen, die ihm früher nur leicht vor der Seele
vorübergingen, hielt er nun fester; gewisse Gedanken, die ihn sonst
nur Augenblicke beunruhigten, schwebten länger vor seinem Geiste, und
gewisse verdrießliche Empfindungen wurden dauernder und bitterer.
Hatte er sonst seinen Vater als sein Muster angesehen, so beneidete er
ihn nun als seinen Nebenbuhler. Von allem, was der Sohn wünschte, war
jener im Besitz; alles, worüber dieser sich ängstigte, ward jenem
leicht. Und es war nicht etwa von dem Notwendigen die Rede, sondern
von dem, was jeder hätte entbehren können. Da glaubte denn der Sohn,
daß der Vater wohl auch manchmal entbehren sollte, um ihn genießen zu
lassen. Der Vater dagegen war ganz anderer Gesinnung; er war von
denen Menschen, die sich viel erlauben und die deswegen in den Fall
kommen, denen, die von ihnen abhängen, viel zu versagen. Er hatte dem
Sohne etwas Gewisses ausgesetzt und verlangte genaue Rechenschaft, ja
eine regelmäßige Rechnung von ihm darüber.

Nichts schärft das Auge des Menschen mehr, als wenn man ihn
einschränkt. Darum sind die Frauen durchaus klüger als die Männer,
und auf niemand sind Untergebene aufmerksamer als auf den, der
befiehlt, ohne zugleich durch sein Beispiel vorauszugehen. So ward
der Sohn auf alle Handlungen seines Vaters aufmerksam, besonders auf
solche, die Geldausgaben betrafen. Er horchte genauer auf, wenn er
hörte, der Vater habe im Spiel verloren oder gewonnen, er beurteilte
ihn strenger, wenn jener sich willkürlich etwas Kostspieliges erlaubte.

"Ist es nicht sonderbar", sagte er zu sich selbst, "daß Eltern,
während sie sich mit Genuß aller Art überfüllen, indem sie bloß nach
Willkür ein Vermögen, das ihnen der Zufall gegeben hat, benutzen, ihre
Kinder gerade zu der Zeit von jedem billigen Genusse ausschließen, da
die Jugend am empfänglichsten dafür ist! Und mit welchem Rechte tun
sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall
allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall
wirkt? Lebte der Großvater noch, der seine Enkel wie seine Kinder
hielt, es würde mir viel besser ergehen; er würde es mir nicht am
Notwendigen fehlen lassen; denn ist uns das nicht notwendig, was wir
in Verhältnissen brauchen, zu denen wir erzogen und geboren sind? Der
Großvater würde mich nicht darben lassen, so wenig er des Vaters
Verschwendung zugeben würde. Hätte er länger gelebt, hätte er klar
eingesehen, daß sein Enkel auch wert ist zu genießen, so hätte er
vielleicht in dem Testament mein früheres Glück entschieden. Sogar
habe ich gehört, daß der Großvater eben vom Tode übereilt worden, da
er seinen letzten Willen aufzusetzen gedachte, und so hat vielleicht
bloß der Zufall mir meinen frühern Anteil an einem Vermögen entzogen,
den ich, wenn mein Vater so zu wirtschaften fortfährt, wohl gar auf
immer verlieren kann."

Mit diesen und anderen Sophistereien über Besitz und Recht, über die
Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine
Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und inwiefern es dem
Menschen erlaubt sei, im stillen von den bürgerlichen Gesetzen
abzuweichen, beschäftigte er sich oft in seinen einsamen,
verdrießlichsten Stunden, wenn er irgend aus Mangel des baren Geldes
eine Lustpartie oder eine andere angenehme Gesellschaft ausschlagen
mußte. Denn schon hatte er kleine Sachen von Wert, die er besaß,
vertrödelt, und sein gewöhnliches Taschengeld wollte keinesweges
hinreichen.

Sein Gemüt verschloß sich, und man kann sagen, daß er in diesen
Augenblicken seine Mutter nicht achtete, die ihm nicht helfen konnte,
und seinen Vater haßte, der ihm nach seiner Meinung überall im Wege
stand.

Zu eben der Zeit machte er eine Entdeckung, die seinen Unwillen noch
mehr erregte. Er bemerkte, daß sein Vater nicht allein kein guter,
sondern auch ein unordentlicher Haushälter war. Denn er nahm oft aus
seinem Schreibtische in der Geschwindigkeit Geld, ohne es
aufzuzeichnen, und fing nachher manchmal wieder an zu zählen und zu
rechnen und schien verdrießlich, daß die Summen mit der Kasse nicht
übereinstimmen wollten. Der Sohn machte diese Bemerkung mehrmals, und
um so empfindlicher ward es ihm, wenn er zu eben der Zeit, da der
Vater nur geradezu in das Geld hineingriff, einen entschiedenen Mangel
spürte.

Zu dieser Gemütsstimmung traf ein sonderbarer Zufall, der ihm eine
reizende Gelegenheit gab, dasjenige zu tun, wozu er nur einen dunkeln
und unentschiedenen Trieb gefühlt hatte.

Sein Vater gab ihm den Auftrag, einen Kasten alter Briefe durchzusehen
und zu ordnen. Eines Sonntags, da er allein war, trug er ihn durch
das Zimmer, wo der Schreibtisch stand, der des Vaters Kasse enthielt.
Der Kasten war schwer; er hatte ihn unrecht gefaßt und wollte ihn
einen Augenblick absetzen oder vielmehr nur anlehnen. Unvermögend,
ihn zu halten, stieß er gewaltsam an die Ecke des Schreibtisches, und
der Deckel desselben flog auf. Er sah nun alle die Rollen vor sich
liegen, zu denen er manchmal nur hineingeschielt hatte, setzte seinen
Kasten nieder und nahm, ohne zu denken und zu überlegen, eine Rolle
von der Seite weg, wo der Vater gewöhnlich sein Geld zu willkürlichen
Ausgaben herzunehmen schien. Er drückte den Schreibtisch wieder zu
und versuchte den Seitenstoß: der Deckel flog jedesmal auf, und es war
so gut, als wenn er den Schlüssel zum Pulte gehabt hätte.

Mit Heftigkeit suchte er nunmehr jede Vergnügung wieder, die er bisher
hatte entbehren müssen. Er war fleißiger um seine Schöne; alles, was
er tat und vornahm, war leidenschaftlicher; seine Lebhaftigkeit und
Anmut hatten sich in ein heftiges, ja beinahe wildes Wesen verwandelt,
das ihm zwar nicht übel ließ, doch niemanden wohltätig war.

Was der Feuerfunke auf ein geladnes Gewehr, das ist die Gelegenheit
zur Neigung, und jede Neigung, die wir gegen unser Gewissen
befriedigen, zwingt uns, ein übermaß von physischer Stärke anzuwenden;
wir handeln wieder als wilde Menschen, und es wird schwer, äußerlich
diese Anstrengung zu verbergen.

Je mehr ihm seine innere Empfindung widersprach, desto mehr häufte
Ferdinand künstliche Argumente aufeinander, und desto mutiger und
freier schien er zu handeln, je mehr er sich selbst von einer Seite
gebunden fühlte.

Zu derselbigen Zeit waren allerlei Kostbarkeiten ohne Wert Mode
geworden. Ottilie liebte sich zu schmücken; er suchte einen Weg, sie
ihr zu verschaffen, ohne daß Ottilie selbst eigentlich wußte, woher
die Geschenke kamen. Die Vermutung ward auf einen alten Oheim
geworfen, und Ferdinand war doppelt vergnügt, indem ihm seine Schöne
ihre Zufriedenheit über die Geschenke und ihren Verdacht auf den Oheim
zugleich zu erkennen gab.

Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen, mußte er noch
einigemal den Schreibtisch seines Vaters eröffnen, und er tat es mit
desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld
hineingelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.

Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige Monate verreisen.
Die jungen Leute betrübten sich äußerst, da sie scheiden sollten,
und ein Umstand machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr
durch einen Zufall, daß die Geschenke von Ferdinanden kamen; sie
setzte ihn darüber zu Rede, und als er es gestand, schien sie sehr
verdrießlich zu werden. Sie bestand darauf, daß er sie zurücknehmen
sollte, und diese Zumutung machte ihm die bittersten Schmerzen. Er
erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch wolle; er bat sie,
ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwor sie, ihm ihre Hand nicht
zu versagen, sobald er versorgt und häuslich eingerichtet sein würde.
Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was er wünschte,
und in diesem glücklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen
mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen.

Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein. Die
Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen pflegte, reizten ihn nicht
mehr, indem sie fehlte. Er besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl
Freunde als Lustörter, und nur mit Widerwillen griff er noch einigemal
in die Kasse des Vaters, um Ausgaben zu bestreiten, zu denen ihn keine
Leidenschaft nötigte. Er war oft allein, und die gute Seele schien
die Oberhand zu gewinnen. Er erstaunte über sich selbst bei ruhigem
Nachdenken, wie er jene Sophistereien über Recht und Besitz, über
Ansprüche an fremdes Gut, und wie die Rubriken alle heißen mochten,
bei sich auf eine so kalte und schiefe Weise habe durchführen und
dadurch eine unerlaubte Handlung beschönigen können. Es ward ihm nach
und nach deutlich, daß nur Treue und Glauben die Menschen
schätzenswert mache, daß der Gute eigentlich leben müsse, um alle
Gesetze zu beschämen, indem ein anderer sie entweder umgehen oder zu
seinem Vorteil gebrauchen mag.

Inzwischen, ehe diese wahren und guten Begriffe bei ihm ganz klar
wurden und zu herrschenden Entschlüssen führten, unterlag er doch noch
einigemal der Versuchung, aus der verbotenen Quelle in dringenden
Fällen zu schöpfen. Niemals tat er es aber ohne Widerwillen, und nur
wie von einem bösen Geiste an den Haaren hingezogen.

Endlich ermannte er sich und faßte den Entschluß, vor allen Dingen die
Handlung sich unmöglich zu machen und seinen Vater von dem Zustande
des Schlosses zu unterrichten. Er fing es klug an und trug den Kasten
mit den nunmehr geordneten Briefen in Gegenwart seines Vaters durch
das Zimmer, beging mit Vorsatz die Ungeschicklichkeit, mit dem Kasten
wider den Schreibtisch zu stoßen, und wie erstaunte der Vater, als er
den Deckel auffahren sah! Sie untersuchten beide das Schloß und
fanden, daß die Schließhaken durch die Zeit abgenutzt und die Bänder
wandelbar waren. Sogleich ward alles repariert, und Ferdinand hatte
seit langer Zeit keinen vergnügtern Augenblick, als da er das Geld in
so guter Verwahrung sah.

Aber dies war ihm nicht genug. Er nahm sich sogleich vor, die Summe,
die er seinem Vater entwendet hatte und die er noch wohl wußte, wieder
zu sammeln und sie ihm auf eine oder die andere Weise zuzustellen. Er
fing nun an, aufs genaueste zu leben und von seinem Taschengelde, was
nur möglich war, zu sparen. Freilich war das nur wenig, was er hier
zurückhalten konnte, gegen das, was er sonst verschwendet hatte;
indessen schien die Summe schon groß, da sie ein Anfang war, sein
Unrecht wiedergutzumachen. Und gewiß ist ein ungeheurer Unterschied
zwischen dem letzten Taler, den man borgt, und zwischen dem ersten,
den man abbezahlt.

Nicht lange war er auf diesem guten Wege, als der Vater sich entschloß,
ihn in Handelsgeschäften zu verschicken. Er sollte sich mit einer
entfernten Fabrikanstalt bekannt machen. Man hatte die Absicht, in
einer Gegend, wo die ersten Bedürfnisse und die Handarbeit sehr
wohlfeil waren, selbst ein Comptoir zu errichten, einen Kompagnon
dorthin zu setzen, den Vorteil, den man gegenwärtig andern gönnen
mußte, selbst zu gewinnen und durch Geld und Kredit die Anstalt ins
Große zu treiben. Ferdinand sollte die Sache in der Nähe untersuchen
und davon einen umständlichen Bericht abstatten. Der Vater hatte ihm
ein Reisegeld ausgesetzt und ihm vorgeschrieben, damit auszukommen; es
war reichlich, und er hatte sich nicht darüber zu beklagen.

Auch auf seiner Reise lebte Ferdinand sehr sparsam, rechnete und
überrechnete und fand, daß er den dritten Teil seines Reisegeldes
ersparen könnte, wenn er auf jede Weise sich einzuschränken fortfahre.
Er hoffte nun auch auf Gelegenheit, zu dem übrigen nach und nach zu
gelangen, und er fand sie. Denn die Gelegenheit ist eine
gleichgültige Göttin, sie begünstigt das Gute wie das Böse.

In der Gegend, die er besuchen sollte, fand er alles weit
vorteilhafter, als man geglaubt hatte. Jedermann ging in dem alten
Schlendrian handwerksmäßig fort. Von neuentdeckten Vorteilen hatte
man keine Kenntnis, oder man hatte keinen Gebrauch davon gemacht. Man
wendete nur mäßige Summen Geldes auf und war mit einem mäßigen Profit
zufrieden, und er sah bald ein, daß man mit einem gewissen Kapital,
mit Vorschüssen, Einkauf des ersten Materials im großen, mit Anlegung
von Maschinen durch die Hülfe tüchtiger Werkmeister eine große und
solide Einrichtung würde machen können.

Er fühlte sich durch die Idee dieser möglichen Tätigkeit sehr erhoben.
Die herrliche Gegend, in der ihm jeden Augenblick seine geliebte
Ottilie vorschwebte, ließ ihn wünschen, daß sein Vater ihn an diesen
Platz setzen, ihm das neue Etablissement anvertrauen und ihn so auf
eine reichliche und unerwartete Weise ausstatten möchte.

Er sah alles mit größerer Aufmerksamkeit, weil er alles schon als das
Seinige ansah. Er hatte zum erstenmal Gelegenheit, seine Kenntnisse,
seine Geisteskräfte, sein Urteil anzuwenden. Die Gegend sowohl als
die Gegenstände interessierten ihn aufs höchste, sie waren Labsal und
Heilung für sein verwundetes Herz; denn nicht ohne Schmerzen konnte er
sich des väterlichen Hauses erinnern, in welchem er wie in einer Art
von Wahnsinn eine Handlung begehen konnte, die ihm nun das größte
Verbrechen zu sein schien.

Ein Freund seines Hauses, ein wackerer, aber kränklicher Mann, der
selbst den Gedanken eines solchen Etablissements zuerst in Briefen
gegeben hatte, war ihm stets zur Seite, zeigte ihm alles, machte ihn
mit seinen Ideen bekannt und freute sich, wenn ihm der junge Mensch
entgegen-, ja zuvorkam. Dieser Mann führte ein sehr einfaches Leben
teils aus Neigung, teils weil seine Gesundheit es so forderte. Er
hatte keine Kinder, eine Nichte pflegte ihn, der er sein Vermögen
zugedacht hatte, der er einen wackern und tätigen Mann wünschte, um
mit Unterstützung eines fremden Kapitals und frischer Kräfte dasjenige
ausgeführt zu sehen, wovon er zwar einen Begriff hatte, wovon ihn aber
seine physischen und ökonomischen Umstände zurückhielten.

Kaum hatte er Ferdinanden gesehen, als ihm dieser sein Mann zu sein
schien, und seine Hoffnung wuchs, als er soviel Neigung des jungen
Menschen zum Geschäft und zu der Gegend bemerkte. Er ließ seiner
Nichte seine Gedanken merken, und diese schien nicht abgeneigt. Sie
war ein junges, wohlgebildetes, gesundes und auf jede Weise
gutgeartetes Mädchen. Die Sorgfalt für ihres Oheims Haushaltung
erhielt sie immer rasch und tätig und die Sorge für seine Gesundheit
immer weich und gefällig. Man konnte sich zur Gattin keine
vollkommnere Person wünschen.

Ferdinand, der nur die Liebenswürdigkeit und die Liebe Ottiliens vor
Augen hatte, sah über das gute Landmädchen hinweg oder wünschte, wenn
Ottilie einst als seine Gattin in diesen Gegenden wohnen würde, ihr
eine solche Haushälterin und Beschließerin beigeben zu können. Er
erwiderte die Freundlichkeit und Gefälligkeit des Mädchens auf eine
sehr ungezwungene Weise, er lernte sie näher kennen und sie schätzen;
er begegnete ihr bald mit mehrerer Achtung, und sowohl sie als ihr
Oheim legten sein Betragen nach ihren Wünschen aus.

Ferdinand hatte sich nunmehr genau umgesehen und von allem
unterrichtet. Er hatte mit Hülfe des Oheims einen Plan gemacht und
nach seiner gewöhnlichen Leichtigkeit nicht verborgen, daß er darauf
rechne, selbst den Plan auszuführen. Zugleich hatte er der Nichte
viele Artigkeiten gesagt und jede Haushaltung glücklich gepriesen, die
einer so sorgfältigen Wirtin überlassen werden könnte. Sie und ihr
Onkel glaubten daher, daß er wirklich Absichten habe, und waren in
allem um desto gefälliger gegen ihn.

Nicht ohne Zufriedenheit hatte Ferdinand bei seinen Untersuchungen
gefunden, daß er nicht allein auf die Zukunft vieles von diesem Platze
zu hoffen habe, sondern daß er auch gleich jetzt einen vorteilhaften
Handel schließen, seinem Vater die entwendete Summe wiedererstatten
und sich also von dieser drückenden Last auf einmal befreien könne.
Er eröffnete seinem Freunde die Absicht seiner Spekulation, der eine
außerordentliche Freude darüber hatte und ihm alle mögliche Beihülfe
leistete; ja er wollte seinem jungen Freunde alles auf Kredit
verschaffen, das dieser jedoch nicht annahm, sondern einen Teil davon
sogleich von dem überschusse des Reisegeldes bezahlte und den andern
in gehöriger Frist abzutragen versprach.

Mit welcher Freude er die Waren packen und laden ließ, war nicht
auszusprechen; mit welcher Zufriedenheit er seinen Rückweg antrat,
läßt sich denken. Denn die höchste Empfindung, die der Mensch haben
kann, ist die, wenn er sich von einem Hauptfehler, ja von einem
Verbrechen durch eigne Kraft erhebt und losmacht. Der gute Mensch,
der ohne auffallende Abweichung vom rechten Pfade vor sich hinwandelt,
gleicht einem ruhigen, lobenswürdigen Bürger, da hingegen jener als
ein Held und überwinder Bewunderung und Preis verdient, und in diesem
Sinne scheint das paradoxe Wort gesagt zu sein, daß die Gottheit
selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe als an
neunundneunzig Gerechten.

Aber leider konnte Ferdinand durch seine guten Entschlüsse, durch
seine Besserung und Wiedererstattung die traurigen Folgen der Tat
nicht aufheben, die ihn erwarteten und die sein schon wieder
beruhigtes Gemüt aufs neue schmerzlich kränken sollten. Während
seiner Abwesenheit hatte sich das Gewitter zusammengezogen, das gerade
bei seinem Eintritte in das väterliche Haus losbrechen sollte.

Ferdinands Vater war, wie wir wissen, was seine Privatkasse betraf,
nicht der Ordentlichste, die Handlungssachen hingegen wurden von einem
geschickten und genauen Associé sehr richtig besorgt. Der Alte hatte
das Geld, das ihm der Sohn entwendete, nicht eben gemerkt, außer daß
unglücklicherweise darunter ein Paket einer in diesen Gegenden
ungewöhnlichen Münzsorte gewesen war, die er einem Fremden im Spiel
abgewonnen hatte. Diese vermißte er, und der Umstand schien ihm
bedenklich. Allein was ihn äußerst beunruhigte, war, daß ihm einige
Rollen, jede mit hundert Dukaten, fehlten, die er vor einiger Zeit
verborgt, aber gewiß wiedererhalten hatte. Er wußte, daß der
Schreibtisch sonst durch einen Stoß aufgegangen war, er sah als gewiß
an, daß er beraubt sei, und geriet darüber in die äußerste Heftigkeit.
Sein Argwohn schweifte auf allen Seiten herum. Unter den
fürchterlichsten Drohungen und Verwünschungen erzählte er den Vorfall
seiner Frau; er wollte das Haus um und um kehren, alle Bedienten,
Mägde und Kinder verhören lassen, niemand blieb von seinem Argwohn
frei. Die gute Frau tat ihr möglichstes, ihren Gatten zu beruhigen;
sie stellte ihm vor, in welche Verlegenheit und Diskredit diese
Geschichte ihn und sein Haus bringen könnte, wenn sie ruchbar würde,
daß niemand an dem Unglück, das uns betreffe, Anteil nehme als nur, um
uns durch sein Mitleiden zu demütigen, daß bei einer solchen
Gelegenheit weder er noch sie verschont werden würden, daß man noch
wunderlichere Anmerkungen machen könnte, wenn nichts herauskäme, daß
man vielleicht den Täter entdecken und, ohne ihn auf zeitlebens
unglücklich zu machen, das Geld wiedererhalten könne. Durch diese und
andere Vorstellungen bewog sie ihn endlich, ruhig zu bleiben und durch
stille Nachforschung der Sache näher zu kommen.

Und leider war die Entdeckung schon nahe genug. Ottiliens Tante war
von dem wechselseitigen Versprechen der jungen Leute unterrichtet.
Sie wußte von den Geschenken, die ihre Nichte angenommen hatte. Das
ganze Verhältnis war ihr nicht angenehm, und sie hatte nur geschwiegen,
weil ihre Nichte abwesend war. Eine sichere Verbindung mit Ferdinand
schien ihr vorteilhaft, ein ungewisses Abenteuer war ihr unerträglich.
Da sie also vernahm, daß der junge Mensch bald zurückkommen sollte,
da sie auch ihre Nichte täglich wieder erwartete, eilte sie, von dem,
was geschehen war, den Eltern Nachricht zu geben und ihre Meinung
darüber zu hören, zu fragen, ob eine baldige Versorgung für Ferdinand
zu hoffen sei und ob man in eine Heirat mit ihrer Nichte willige.

Die Mutter verwunderte sich nicht wenig, als sie von diesen
Verhältnissen hörte. Sie erschrak, als sie vernahm, welche Geschenke
Ferdinand an Ottilien gegeben hatte. Sie verbarg ihr Erstaunen, bat
die Tante, ihr einige Zeit zu lassen, um gelegentlich mit ihrem Manne
über die Sache zu sprechen, versicherte, daß sie Ottilien für eine
vorteilhafte Partie halte und daß es nicht unmöglich sei, ihren Sohn
nächstens auf eine schickliche Weise auszustatten.

Als die Tante sich entfernt hatte, hielt sie es nicht für rätlich,
ihrem Manne die Entdeckung zu vertrauen. Ihr lag nur daran, das
unglückliche Geheimnis aufzuklären, ob Ferdinand, wie sie fürchtete,
die Geschenke von dem entwendeten Geld gemacht habe. Sie eilte zu dem
Kaufmann, der diese Art Geschmeide vorzüglich verkaufte, feilschte um
ähnliche Dinge und sagte zuletzt, er müsse sie nicht überteuern, denn
ihrem Sohn, der eine solche Kommission gehabt, habe er die Sachen
wohlfeiler gegeben. Der Handelsmann beteuerte: nein! zeigte die
Preise genau an und sagte dabei, man müsse noch das Agio der Geldsorte
hinzurechnen, in der Ferdinand zum Teil bezahlt habe. Er nannte ihr
zu ihrer größten Betrübnis die Sorte; es war die, die dem Vater fehlte.

Sie ging nun, nachdem sie sich zum Scheine die nächsten Preise
aufsetzen lassen, mit sehr bedrängtem Herzen hinweg. Ferdinands
Verirrung war zu deutlich, die Rechnung der Summe, die dem Vater
fehlte, war groß, und sie sah nach ihrer sorglichen Gemütsart die
schlimmste Tat und die fürchterlichsten Folgen. Sie hatte die
Klugheit, die Entdeckung vor ihrem Manne zu verbergen; sie erwartete
die Zurückkunft ihres Sohnes mit geteilter Furcht und Verlangen. Sie
wünschte sich aufzuklären und fürchtete, das Schlimmste zu erfahren.

Endlich kam er mit großer Heiterkeit zurück. Er konnte Lob für seine
Geschäfte erwarten und brachte zugleich in seinen Waren heimlich das
Lösegeld mit, wodurch er sich von dem geheimen Verbrechen zu befreien
gedachte.

Der Vater nahm seine Relation gut, doch nicht mit solchem Beifall auf,
wie er hoffte, denn der Vorgang mit dem Gelde machte den Mann
zerstreut und verdrießlich, um so mehr, als er einige ansehnliche
Posten in diesem Augenblicke zu bezahlen hatte. Diese Laune des
Vaters drückte ihn sehr, noch mehr die Gegenwart der Wände, der
Mobilien, des Schreibtisches, die Zeugen seines Verbrechens gewesen
waren. Seine ganze Freude war hin, seine Hoffnungen und Ansprüche; er
fühlte sich als einen gemeinen, ja als einen schlechten Menschen.

Er wollte sich eben nach einem stillen Vertriebe der Waren, die nun
bald ankommen sollten, umsehen und sich durch die Tätigkeit aus seinem
Elende herausreißen, als die Mutter ihn beiseite nahm und ihm mit
Liebe und Ernst sein Vergehen vorhielt und ihm auch nicht den
mindesten Ausweg zum Leugnen offen ließ. Sein weiches Herz war
zerrissen; er warf sich unter tausend Tränen zu ihren Füßen, bekannte,
bat um Verzeihung, beteuerte, daß nur die Neigung zu Ottilien ihn
verleiten können und daß sich keine anderen Laster zu diesem jemals
gesellt hätten. Er erzählte darauf die Geschichte seiner Reue, daß er
vorsätzlich dem Vater die Möglichkeit, den Schreibtisch zu eröffnen,
entdeckt und daß er durch Ersparnis auf der Reise und durch eine
glückliche Spekulation sich imstande sehe, alles wieder zu ersetzen.

Die Mutter, die nicht gleich nachgeben konnte, bestand darauf, zu
wissen, wo er mit den großen Summen hingekommen sei, denn die
Geschenke betrügen den geringsten Teil. Sie zeigte ihm zu seinem
Entsetzen eine Berechnung dessen, was dem Vater fehlte; er konnte sich
nicht einmal ganz zu dem Silber bekennen, und hoch und teuer schwur er,
von dem Golde nichts angerührt zu haben. Hierüber war die Mutter
äußerst zornig. Sie verwies ihm, daß er in dem Augenblicke, da er
durch aufrichtige Reue seine Besserung und Bekehrung wahrscheinlich
machen sollte, seine liebevolle Mutter noch mit Leugnen, Lügen und
Märchen aufzuhalten gedenke, daß sie gar wohl wisse: wer des einen
fähig sei, sei auch alles übrigen fähig. Wahrscheinlich habe er unter
seinen liederlichen Kameraden Mitschuldige, wahrscheinlich sei der
Handel, den er geschlossen, mit dem entwendeten Gelde gemacht, und
schwerlich würde er davon etwas erwähnt haben, wenn die übeltat nicht
zufällig wäre entdeckt worden. Sie drohte ihm mit dem Zorne des
Vaters, mit bürgerlichen Strafen, mit völliger Verstoßung; doch nichts
kränkte ihn mehr, als daß sie ihn merken ließ, eine Verbindung
zwischen ihm und Ottilien sei eben zur Sprache gekommen. Mit
gerührtem Herzen verließ sie ihn in dem traurigsten Zustande. Er sah
seinen Fehler entdeckt, er sah sich in dem Verdachte, der sein
Verbrechen vergrößerte. Wie wollte er seine Eltern überreden, daß er
das Gold nicht angegriffen? Bei der heftigen Gemütsart seines Vaters
mußte er einen öffentlichen Ausbruch befürchten; er sah sich im
Gegensatze von allem dem, was er sein konnte. Die Aussicht auf ein
tätiges Leben, auf eine Verbindung mit Ottilien verschwand. Er sah
sich verstoßen, flüchtig und in fremden Weltgegenden allem Ungemach
ausgesetzt.

Aber selbst alles dieses, was seine Einbildungskraft verwirrte, seinen
Stolz verletzte, seine Liebe kränkte, war ihm nicht das Schmerzlichste.
Am tiefsten verwundete ihn der Gedanke, daß sein redlicher Vorsatz,
sein männlicher Entschluß, sein befolgter Plan, das Geschehene
wiedergutzumachen, ganz verkannt, ganz geleugnet, gerade zum Gegenteil
ausgelegt werden sollte. Wenn ihn jene Vorstellungen zu einer dunkeln
Verzweiflung brachten, indem er bekennen mußte, daß er sein Schicksal
verdient habe, so ward er durch diese aufs innigste gerührt, indem er
die traurige Wahrheit erfuhr, daß eine übeltat selbst gute Bemühungen
zugrunde zu richten imstande ist. Diese Rückkehr auf sich selbst,
diese Betrachtung, daß das edelste Streben vergebens sein sollte,
machte ihn weich; er wünschte nicht mehr zu leben.

In diesen Augenblicken dürstete seine Seele nach einem höhern Beistand.
Er fiel an seinem Stuhle nieder, den er mit seinen Tränen benetzte,
und forderte Hülfe vom göttlichen Wesen. Sein Gebet war eines
erhörenswerten Inhalts: der Mensch, der sich selbst vom Laster wieder
erhebt, habe Anspruch auf eine unmittelbare Hülfe; derjenige, der
keine seiner Kräfte ungebraucht lasse, könne sich da, wo sie eben
ausgehen, wo sie nicht hinreichen, auf den Beistand des Vaters im
Himmel berufen.

In dieser überzeugung, in dieser dringenden Bitte verharrte er eine
Zeitlang und bemerkte kaum, daß seine Türe sich öffnete und jemand
hereintrat. Es war die Mutter, die mit heiterm Gesichte auf ihn zukam,
seine Verwirrung sah und ihn mit tröstlichen Worten anredete. "Wie
glücklich bin ich", sagte sie, "daß ich dich wenigstens als keinen
Lügner finde und daß ich deine Reue für wahr halten kann. Das Gold
hat sich gefunden; der Vater, als er es von einem Freunde
wiedererhielt, gab es dem Kassier aufzuheben, und durch die vielen
Beschäftigungen des Tages zerstreut, hat er es vergessen. Mit dem
Silber stimmt deine Angabe ziemlich zusammen, die Summe ist nun viel
geringer. Ich konnte die Freude meines Herzens nicht verbergen und
versprach dem Vater, die fehlende Summe wieder zu verschaffen, wenn er
sich zu beruhigen und weiter nach der Sache nicht zu fragen verspreche."

Ferdinand ging sogleich zur größten Freude über. Er eilte, sein
Handelsgeschäft zu vollbringen, stellte bald der Mutter das Geld zu,
ersetzte selbst das, was er nicht genommen hatte, wovon er wußte, daß
es bloß durch die Unordnung des Vaters in seinen Ausgaben vermißt
wurde. Er war fröhlich und heiter, doch hatte dieser ganze Vorfall
eine sehr ernste Wirkung bei ihm zurückgelassen. Er hatte sich
überzeugt, daß der Mensch Kraft habe, das Gute zu wollen und zu
vollbringen; er glaubte nun auch, daß dadurch der Mensch das göttliche
Wesen für sich interessieren und sich dessen Beistand versprechen
könne, den er soeben unmittelbar erfahren hatte. Mit großer
Freudigkeit entdeckte er nun dem Vater seinen Plan, sich in jenen
Gegenden niederzulassen. Er stellte die Anstalt in ihrem ganzen Werte
und Umfange vor; der Vater war nicht abgeneigt, und die Mutter
entdeckte heimlich ihrem Gatten das Verhältnis Ferdinands zu Ottilien.
Diesem gefiel eine so glänzende Schwiegertochter, und die Aussicht,
seinen Sohn ohne Kosten ausstatten zu können, war ihm sehr angenehm.

 

"Diese Geschichte gefällt mir", sagte Luise, als der Alte geendigt
hatte, "und ob sie gleich aus dem gemeinen Leben genommen ist, so
kommt sie mir doch nicht alltäglich vor. Denn wenn wir uns selbst
fragen und andere beobachten, so finden wir, daß wir selten durch uns
selbst bewogen werden, diesem oder jenem Wunsche zu entsagen; meist
sind es die äußern Umstände, die uns dazu nötigen."

"Ich wünschte", sagte Karl, "daß wir gar nicht nötig hätten, uns etwas
zu versagen, sondern daß wir dasjenige gar nicht kennten, was wir
nicht besitzen sollen. Leider ist in unsern Zuständen alles
zusammengedrängt, alles ist bepflanzt, alle Bäume hängen voller
Früchte, und wir sollen nur immer drunter weggehen, uns an dem
Schatten begnügen und auf die schönsten Genüsse Verzicht tun."

"Lassen Sie uns", sagte Luise zum Alten, "nun Ihre Geschichte
weiterhören!"

Der Alte. "Sie ist wirklich schon aus."

Luise. "Die Entwicklung haben wir freilich gehört; nun möchten wir
aber auch gerne das Ende vernehmen."

Der Alte. "Sie unterscheiden richtig, und da Sie sich für das
Schicksal meines Freundes interessieren, so will ich Ihnen, wie es ihm
ergangen, noch kürzlich erzählen.

 

Befreit von der drückenden Last eines so häßlichen Vergehens, nicht
ohne bescheidne Zufriedenheit mit sich selbst dachte er nun an sein
künftiges Glück und erwartete sehnsuchtsvoll die Rückkunft Ottiliens,
um sich zu erklären und sein gegebenes Wort im ganzen Umfange zu
erfüllen. Sie kam in Gesellschaft ihrer Eltern; er eilte zu ihr, er
fand sie schöner und heiterer als jemals. Mit Ungeduld erwartete er
den Augenblick, in welchem er sie allein sprechen und ihr seine
Aussichten vorlegen könnte. Die Stunde kam, und mit aller Freude und
Zärtlichkeit der Liebe erzählte er ihr seine Hoffnungen, die Nähe
seines Glücks und den Wunsch, es mit ihr zu teilen. Allein wie
verwundert war er, ja wie bestürzt, als sie die ganze Sache sehr
leichtsinnig, ja, man dürfte beinahe sagen, höhnisch aufnahm. Sie
scherzte nicht ganz fein über die Einsiedelei, die er sich ausgesucht
habe, über die Figur, die sie beide spielen würden, wenn sie sich als
Schäfer und Schäferin unter ein Strohdach flüchteten, und was
dergleichen mehr war.

Betroffen und erbittert kehrte er in sich zurück; ihr Betragen hatte
ihn verdrossen, und er ward einen Augenblick kalt. Sie war ungerecht
gegen ihn gewesen, und nun bemerkte er Fehler an ihr, die ihm sonst
verborgen geblieben waren. Auch brauchte es kein sehr helles Auge, um
zu sehen, daß ein sogenannter Vetter, der mitangekommen war, ihre
Aufmerksamkeit auf sich zog und einen großen Teil ihrer Neigung
gewonnen hatte.

Bei dem unleidlichen Schmerz, den Ferdinand empfand, nahm er sich doch
bald zusammen, und die überwindung, die ihm schon einmal gelungen war,
schien ihm zum zweitenmale möglich. Er sah Ottilien oft und gewann
über sich, sie zu beobachten; er tat freundlich, ja zärtlich gegen sie
und sie nicht weniger gegen ihn; allein ihre Reize hatten ihre größte
Macht verloren, und er fühlte bald, daß selten bei ihr etwas aus dem
Herzen kam, daß sie vielmehr nach Belieben zärtlich und kalt, reizend
und abstoßend, angenehm und launisch sein konnte. Sein Gemüt machte
sich nach und nach von ihr los, und er entschloß sich, auch noch die
letzten Fäden entzweizureißen.

Diese Operation war schmerzhafter, als er sich vorgestellt hatte. Er
fand sie eines Tages allein und nahm sich ein Herz, sie an ihr
gegebenes Wort zu erinnern und jene Augenblicke ihr ins Gedächtnis
zurückzurufen, in denen sie beide, durch das zarteste Gefühl gedrungen,
eine Abrede auf ihr künftiges Leben genommen hatten. Sie war
freundlich, ja man kann fast sagen, zärtlich; er ward weicher und
wünschte in diesem Augenblicke, daß alles anders sein möchte, als er
es sich vorgestellt hatte. Doch nahm er sich zusammen und trug ihr
die Geschichte seines bevorstehenden Etablissements mit Ruhe und Liebe
vor. Sie schien sich darüber zu freuen und gewissermaßen nur zu
bedauern, daß dadurch ihre Verbindung weiter hinausgeschoben werde.
Sie gab zu erkennen, daß sie nicht die mindeste Lust habe, die Stadt
zu verlassen; sie ließ ihre Hoffnung sehen, daß er sich durch einige
Jahre Arbeit in jenen Gegenden in den Stand setzen könnte, auch unter
seinen jetzigen Mitbürgern eine große Figur zu spielen. Sie ließ ihn
nicht undeutlich merken, daß sie von ihm erwarte, daß er künftig noch
weiter als sein Vater gehen und sich in allem noch ansehnlicher und
rechtlicher zeigen werde.

Nur zu sehr fühlte Ferdinand, daß er von einer solchen Verbindung kein
Glück zu erwarten habe, und doch war es schwer, so vielen Reizen zu
entsagen. Ja vielleicht wäre er ganz unschlüssig von ihr weggegangen,
hätte ihn nicht der Vetter abgelöst und in seinem Betragen allzuviel
Vertraulichkeit gegen Ottilien gezeigt. Ferdinand schrieb ihr darauf
einen Brief, worin er ihr nochmals versicherte, daß sie ihn glücklich
machen würde, wenn sie ihm zu seiner neuen Bestimmung folgen wollte,
daß er aber für beide nicht rätlich hielte, eine entfernte Hoffnung
auf künftige Zeiten zu nähren und sich auf eine ungewisse Zukunft
durch ein Versprechen zu binden.

Noch auf diesen Brief wünschte er eine günstige Antwort; allein sie
kam nicht wie sein Herz, sondern wie sie seine Vernunft billigen mußte.
Ottilie gab ihm auf eine sehr zierliche Art sein Wort zurück, ohne
sein Herz ganz loszulassen, und eben so sprach das Billet auch von
ihren Empfindungen; dem Sinne nach war sie gebunden und ihren Worten
nach frei.

Was soll ich nun weiter umständlich sein? Ferdinand eilte in jene
friedlichen Gegenden zurück, seine Einrichtung war bald gemacht; er
war ordentlich und fleißig und ward es nur um so mehr, als das gute,
natürliche Mädchen, die wir schon kennen, ihn als Gattin beglückte und
der alte Oheim alles tat, seine häusliche Lage zu sichern und bequem
zu machen.

Ich habe ihn in spätern Jahren kennenlernen, umgeben von einer
zahlreichen, wohlgebildeten Familie. Er hat mir seine Geschichte
selbst erzählt, und wie es Menschen zu gehen pflegt, denen irgend
etwas Bedeutendes in früherer Zeit begegnet, so hatte sich auch jene
Geschichte so tief bei ihm eingedrückt, daß sie einen großen Einfluß
auf sein Leben hatte. Selbst als Mann und Hausvater pflegte er sich
manchmal etwas, das ihm Freude würde gemacht haben, zu versagen, um
nur nicht aus der übung einer so schönen Tugend zu kommen, und seine
ganze Erziehung bestand gewissermaßen darin, daß seine Kinder sich
gleichsam aus dem Stegreife etwas mußten versagen können.

Auf eine Weise, die ich im Anfang nicht billigen konnte, untersagte er
zum Beispiel einem Knaben bei Tische, von einer beliebten Speise zu
essen. Zu meiner Verwunderung blieb der Knabe heiter, und es war, als
wenn weiter nichts geschehen wäre.

Und so ließen die ältesten aus eigener Bewegung manchmal ein edles
Obst oder sonst einen Leckerbissen vor sich vorbeigehen; dagegen
erlaubte er ihnen, ich möchte wohl sagen, alles, und es fehlte nicht
an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über alles
gleichgültig zu sein und ließ ihnen eine fast unbändige Freiheit, nur
fiel es ihm die Woche einmal ein, daß alles auf die Minute geschehen
mußte. Alsdann wurden des Morgens gleich die Uhren reguliert, ein
jeder erhielt seine Ordre für den Tag, Geschäfte und Vergnügungen
wurden gehäuft, und niemand durfte eine Sekunde fehlen. Ich könnte
Sie stundenlang von seinen Gesprächen und Anmerkungen über diese
sonderbare Art der Erziehung unterhalten. Er scherzte mit mir als
einem katholischen Geistlichen über meine Gelübde und behauptete, daß
eigentlich jeder Mensch sowohl sich selbst Enthaltsamkeit als andern
Gehorsam geloben sollte, nicht um sie immer, sondern um sie zur
rechten Zeit auszuüben."

Der Prokurator

Erzählung aus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

(1795)

In einer italienischen Seestadt lebte vorzeiten ein Handelsmann, der
sich von Jugend auf durch Tätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war
dabei ein guter Seemann und hatte große Reichtümer erworben, indem er
selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waren zu erkaufen oder
einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder
in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wußte. Sein Vermögen
wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschäftigkeit
selbst das größte Vergnügen fand und ihm keine Zeit zu kostspieligen
Zerstreuungen übrigblieb.

Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig
fortbeschäftigt und ihm war von den geselligen Vergnügungen wenig
bekannt worden, mit welchen ruhige Bürger ihr Leben zu würzen
verstehen; ebensowenig hatte das schöne Geschlecht, bei allen Vorzügen
seiner Landsmänninnen, seine Aufmerksamkeit weiter erregt, als
insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl
kannte und sie gelegentlich zu nutzen wußte.

Wie wenig versah er sich daher auf die Veränderung, die in seinem
Gemüte vorgehen sollte, als eines Tages sein reich beladen Schiff in
den Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jährlichen Feste,
das besonders der Kinder wegen gefeiert wurde. Knaben und Mädchen
pflegten nach dem Gottesdienste in allerlei Verkleidungen sich zu
zeigen, bald in Prozessionen, bald in Scharen durch die Stadt zu
scherzen und sodann im Felde auf einem großen freien Platz allerhand
Spiele zu treiben, Kunststücke und Geschicklichkeiten zu zeigen und in
artigem Wettstreit ausgesetzte kleine Preise zu gewinnen.

Anfangs wohnte unser Seemann dieser Feier mit Vergnügen bei; als er
aber die Lebenslust der Kinder und die Freude der Eltern daran lange
betrachtet und so viele Menschen im Genuß einer gegenwärtigen Freude
und der angenehmsten aller Hoffnungen gefunden hatte, mußte ihm bei
einer Rückkehr auf sich selbst sein einsamer Zustand äußerst auffallen.
Sein leeres Haus fing zum erstenmal an, ihm ängstlich zu werden, und
er klagte sich selbst in seinen Gedanken an:

"O ich Unglückseliger! warum gehn mir so spät die Augen auf? Warum
erkenne ich erst im Alter jene Güter, die allein den Menschen
glücklich machen? Soviel Mühe! soviel Gefahren! Was haben sie mir
verschafft? Sind gleich meine Gewölbe voll Waren, meine Kisten voll
edler Metalle und meine Schränke voll Schmuck und Kleinodien, so
können doch diese Güter mein Gemüt weder erheitern noch befriedigen.
Je mehr ich sie aufhäufe, desto mehr Gesellen scheinen sie zu
verlangen; ein Kleinod fordert das andere, ein Goldstück das andere.
Sie erkennen mich nicht für den Hausherrn; sie rufen mir ungestüm zu:
"Geh und eile, schaffe noch mehr unsersgleichen herbei! Gold erfreut
sich nur des Goldes, das Kleinod des Kleinodes." So gebieten sie mir
schon die ganze Zeit meines Lebens, und erst spät fühle ich, daß mir
in allem diesem kein Genuß bereitet ist. Leider jetzt, da die Jahre
kommen, fange ich an zu denken und sage zu mir: Du genießest diese
Schätze nicht, und niemand wird sie nach dir genießen! Hast du jemals
eine geliebte Frau damit geschmückt? Hast du eine Tochter damit
ausgestattet? Hast du einen Sohn in den Stand gesetzt, sich die
Neigung eines guten Mädchens zu gewinnen und zu befestigen? Niemals!
Von allen deinen Besitztümern hast du, hat niemand der Deinigen etwas
besessen, und was du mühsam zusammengebracht hast, wird nach deinem
Tode ein Fremder leichtfertig verprassen.

O wie anders werden heute abend jene glücklichen Eltern ihre Kinder um
den Tisch versammeln, ihre Geschicklichkeit preisen und sie zu guten
Taten aufmuntern! Welche Lust glänzte aus ihren Augen, und welche
Hoffnung schien aus dem Gegenwärtigen zu entspringen! Solltest du
denn aber selbst gar keine Hoffnung fassen können? Bist du denn schon
ein Greis? Ist es nicht genug, die Versäumnis einzusehen, jetzt, da
noch nicht aller Tage Abend gekommen ist? Nein, in deinem Alter ist
es noch nicht töricht, ans Freien zu denken, mit deinen Gütern wirst
du ein braves Weib erwerben und glücklich machen, und siehst du noch
Kinder in deinem Hause, so werden dir diese spätern Früchte den
größten Genuß geben, anstatt daß sie oft denen, die sie zu früh vom
Himmel erhalten, zur Last werden und zur Verwirrung gereichen."

Als er durch dieses Selbstgespräch seinen Vorsatz bei sich befestigt
hatte, rief er zwei Schiffsgesellen zu sich und eröffnete ihnen seine
Gedanken. Sie, die gewohnt waren, in allen Fällen willig und bereit
zu sein, fehlten auch diesmal nicht und eilten, sich in der Stadt nach
den jüngsten und schönsten Mädchen zu erkundigen; denn ihr Patron, da
er einmal nach dieser Ware lüstern ward, sollte auch die beste finden
und besitzen.

Er selbst feierte so wenig als seine Abgesandten. Er ging, fragte,
sah und hörte und fand bald, was er suchte, in einem Frauenzimmer, das
in diesem Augenblick das schönste der ganzen Stadt genannt zu werden
verdiente, ungefähr sechzehn Jahre alt, wohlgebildet und gut erzogen,
deren Gestalt und Wesen das Angenehmste zeigte und das Beste versprach.

Nach einer kurzen Unterhandlung, durch welche der vorteilhafteste
Zustand sowohl bei Lebzeiten als nach dem Tode des Mannes der Schönen
versichert ward, vollzog man die Heirat mit großer Pracht und Lust,
und von diesem Tage an fühlte sich unser Handelsmann zum erstenmal im
wirklichen Besitz und Genuß seiner Reichtümer. Nun verwandte er mit
Freuden die schönsten und reichsten Stoffe zur Bekleidung des schönen
Körpers, die Juwelen glänzten ganz anders an der Brust und in den
Haaren seiner Geliebten als ehemals im Schmuckkästchen, und die Ringe
erhielten einen unendlichen Wert von der Hand, die sie trug.

So fühlte er sich nicht allein so reich, sondern reicher als bisher,
indem seine Güter sich durch Teilnehmung und Anwendung zu vermehren
schienen. Auf diese Weise lebte das Paar fast ein Jahr lang in der
größten Zufriedenheit, und er schien seine Liebe zu einem tätigen und
herumstreifenden Leben gegen das Gefühl häuslicher Glückseligkeit
gänzlich vertauscht zu haben. Aber eine alte Gewohnheit legt sich so
leicht nicht ab, und eine Richtung, die wir früh genommen, kann wohl
einige Zeit abgelenkt, aber nie ganz unterbrochen werden.

So hatte auch unser Handelsmann oft, wenn er andere sich einschiffen
oder glücklich in den Hafen zurückkehren sah, wieder die Regungen
seiner alten Leidenschaft gefühlt, ja er hatte selbst in seinem Hause
an der Seite seiner Gattin manchmal Unruhe und Unzufriedenheit
empfunden. Dieses Verlangen vermehrte sich mit der Zeit und
verwandelte sich zuletzt in eine solche Sehnsucht, daß er sich äußerst
unglücklich fühlen mußte und zuletzt wirklich krank ward.

"Was soll nun aus dir werden?" sagte er zu sich selbst. "Du erfährst
nun, wie töricht es ist, in späten Jahren eine alte Lebensweise gegen
eine neue zu vertauschen. Wie sollen wir das, was wir immer getrieben
und gesucht haben, aus unsern Gedanken, ja aus unsern Gliedern wieder
herausbringen? Und wie geht es mir nun, der ich bisher wie ein Fisch
das Wasser, wie ein Vogel die freie Luft geliebt, da ich mich in einem
Gebäude bei allen Schätzen und bei der Blume aller Reichtümer, bei
einer schönen jungen Frau eingesperrt habe? Anstatt daß ich dadurch
hoffte, Zufriedenheit zu gewinnen und meiner Güter zu genießen, so
scheint es mir, daß ich alles verliere, indem ich nichts weiter
erwerbe. Mit Unrecht hält man die Menschen für Toren, welche in
rastloser Tätigkeit Güter auf Güter zu häufen suchen; denn die
Tätigkeit ist das Glück, und für den, der die Freuden eines
ununterbrochenen Bestrebens empfinden kann, ist der erworbene Reichtum
ohne Bedeutung. Aus Mangel an Beschäftigung werde ich elend, aus
Mangel an Bewegung krank, und wenn ich keinen andern Entschluß fasse,
so bin ich in kurzer Zeit dem Tode nahe.

Freilich ist es ein gewagtes Unternehmen, sich von einer jungen,
liebenswürdigen Frau zu entfernen. Ist es billig, um ein reizendes
und reizbares Mädchen zu freien und sie nach einer kurzen Zeit sich
selbst, der Langenweile, ihren Empfindungen und Begierden zu
überlassen? Spazieren diese jungen, seidnen Herren nicht schon jetzt
vor meinen Fenstern auf und ab? Suchen sie nicht schon jetzt in der
Kirche und in Gärten die Aufmerksamkeit meines Weibchens an sich zu
ziehen? Und was wird erst geschehen, wenn ich weg bin? Soll ich
glauben, daß mein Weib durch ein Wunder gerettet werden könnte? Nein,
in ihrem Alter, bei ihrer Konstitution wäre es töricht zu hoffen, daß
sie sich der Freuden der Liebe enthalten könnte. Entfernst du dich,
so wirst du bei deiner Rückkunft die Neigung deines Weibes und ihre
Treue zugleich mit der Ehre deines Hauses verloren haben."

Diese Betrachtungen und Zweifel, mit denen er sich eine Zeitlang
quälte, verschlimmerten den Zustand, in dem er sich befand, aufs
äußerste. Seine Frau, seine Verwandten und Freunde betrübten sich um
ihn, ohne daß sie die Ursache seiner Krankheit hätten entdecken können.
Endlich ging er nochmals bei sich zu Rate und rief nach einiger
überlegung aus: "Törichter Mensch! du lässest es dir so sauer werden,
ein Weib zu bewahren, das du doch bald, wenn dein übel fortdauert,
sterbend hinter dir und einem andern lassen mußt. Ist es nicht
wenigstens klüger und besser, du suchst das Leben zu erhalten, wenn du
gleich in Gefahr kommst, an ihr dasjenige zu verlieren, was als das
höchste Gut der Frauen geschätzt wird? Wie mancher Mann kann durch
seine Gegenwart den Verlust dieses Schatzes nicht hindern und vermißt
geduldig, was er nicht erhalten kann! Warum solltest du nicht den Mut
haben, dich eines solchen Gutes zu entschlagen, da von diesem
Entschlusse dein Leben abhängt?"

Mit diesen Worten ermannte er sich und ließ seine Schiffsgesellen
rufen. Er trug ihnen auf, nach gewohnter Weise ein Fahrzeug zu
befrachten und alles bereit zu halten, daß sie bei dem ersten
günstigen Winde auslaufen könnten. Darauf erklärte er sich gegen
seine Frau folgendermaßen:

"Laß dich nicht befremden, wenn du in dem Hause eine Bewegung siehst,
woraus du schließen kannst, daß ich mich zu einer Abreise anschicke!
Betrübe dich nicht, wenn ich dir gestehe, daß ich abermals eine
Seefahrt zu unternehmen gedenke! Meine Liebe zu dir ist noch immer
dieselbe, und sie wird es gewiß in meinem ganzen Leben bleiben. Ich
erkenne den Wert des Glücks, das ich bisher an deiner Seite genoß, und
würde ihn noch reiner fühlen, wenn ich mir nicht oft Vorwürfe der
Untätigkeit und Nachlässigkeit im stillen machen müßte. Meine alte
Neigung wacht wieder auf, und meine alte Gewohnheit zieht mich wieder
an. Erlaube mir, daß ich den Markt von Alexandrien wiedersehe, den
ich jetzt mit größerem Eifer besuchen werde, weil ich dort die
köstlichsten Stoffe und die edelsten Kostbarkeiten für dich zu
gewinnen denke. Ich lasse dich im Besitz aller meiner Güter und
meines ganzen Vermögens; bediene dich dessen und vergnüge dich mit
deinen Eltern und Verwandten! Die Zeit der Abwesenheit geht auch
vorüber, und mit vielfacher Freude werden wir uns wiedersehen."

Nicht ohne Tränen machte ihm die liebenswürdige Frau die zärtlichsten
Vorwürfe, versicherte, daß sie ohne ihn keine fröhliche Stunde
hinbringen werde, und bat ihn nur, da sie ihn weder halten könne noch
einschränken wolle, daß er ihrer auch in der Abwesenheit zum besten
gedenken möge.

Nachdem er darauf verschiedenes mit ihr über einige Geschäfte und
häusliche Angelegenheiten gesprochen, sagte er nach einer kleinen
Pause: "Ich habe nun noch etwas auf dem Herzen, davon du mir frei zu
reden erlauben mußt; nur bitte ich dich aufs herzlichste, nicht zu
mißdeuten, was ich sage, sondern auch selbst in dieser Besorgnis meine
Liebe zu erkennen."

"Ich kann es erraten", versetzte die Schöne darauf; "du bist
meinetwegen besorgt, indem du nach Art der Männer unser Geschlecht ein
für allemal für schwach hältst. Du hast mich bisher jung und froh
gekannt, und nun glaubst du, daß ich in deiner Abwesenheit
leichtsinnig und verführbar sein werde. Ich schelte diese Sinnesart
nicht, denn sie ist bei euch Männern gewöhnlich; aber wie ich mein
Herz kenne, darf ich dir versichern, daß nichts so leicht Eindruck auf
mich machen und kein möglicher Eindruck so tief wirken soll, um mich
von dem Wege abzuleiten, auf dem ich bisher an der Hand der Liebe und
Pflicht hinwandelte. Sei ohne Sorgen; du sollst deine Frau so
zärtlich und treu bei deiner Rückkunft wiederfinden, als du sie abends
fandest, wenn du nach einer kleinen Abwesenheit in meine Arme
zurückkehrtest."

"Diese Gesinnungen traue ich dir zu", versetzte der Gemahl, "und bitte
dich, darin zu verharren. Laß uns aber an die äußersten Fälle denken;
warum soll man sich nicht auch darauf vorsehen? Du weißt, wie sehr
deine schöne und reizende Gestalt die Augen unserer jungen Mitbürger
auf sich zieht; sie werden sich in meiner Abwesenheit noch mehr als
bisher um dich bemühen, sie werden sich dir auf alle Weise zu nähern,
ja zu gefallen suchen. Nicht immer wird das Bild deines Gemahls, wie
jetzt seine Gegenwart, sie von deiner Türe und deinem Herzen
verscheuchen. Du bist ein edles und gutes Kind, aber die Forderungen
der Natur sind rechtmäßig und gewaltsam; sie stehen mit unserer
Vernunft beständig im Streite und tragen gewöhnlich den Sieg davon.
Unterbrich mich nicht! Du wirst gewiß in meiner Abwesenheit, selbst
bei dem pflichtmäßigen Andenken an mich, das Verlangen empfinden,
wodurch das Weib den Mann anzieht und von ihm angezogen wird. Ich
werde eine Zeitlang der Gegenstand deiner Wünsche sein; aber wer weiß,
was für Umstände zusammentreffen, was für Gelegenheiten sich finden,
und ein anderer wird in der Wirklichkeit ernten, was die
Einbildungskraft mir zugedacht hatte. Werde nicht ungeduldig, ich
bitte dich, höre mich aus!

Sollte der Fall kommen, dessen Möglichkeit du leugnest und den ich
auch nicht zu beschleunigen wünsche, daß du ohne die Gesellschaft
eines Mannes nicht länger bleiben, die Freuden der Liebe nicht wohl
entbehren könntest, so versprich mir nur, an meine Stelle keinen von
den leichtsinnigen Knaben zu wählen, die, so artig sie auch aussehen
mögen, der Ehre noch mehr als der Tugend einer Frau gefährlich sind.
Mehr durch Eitelkeit als durch Begierde beherrscht, bemühen sie sich
um eine jede und finden nichts natürlicher, als eine der andern
aufzuopfern. Fühlst du dich geneigt, dich nach einem Freunde
umzusehen, so forsche nach einem, der diesen Namen verdient, der
bescheiden und verschwiegen die Freuden der Liebe noch durch die
Wohltat des Geheimnisses zu erheben weiß."

Hier verbarg die schöne Frau ihren Schmerz nicht länger, und die
Tränen, die sie bisher zurückgehalten hatte, stürzten reichlich aus
ihren Augen. "Was du auch von mir denken magst", rief sie nach einer
leidenschaftlichen Umarmung aus, "so ist doch nichts entfernter von
mir als das Verbrechen, das du gewissermaßen für unvermeidlich hältst.
Möge, wenn jemals auch nur ein solcher Gedanke in mir entsteht, die
Erde sich auftun und mich verschlingen, und möge alle Hoffnung der
Seligkeit mir entrissen werden, die uns eine so reizende Fortdauer
unsers Daseins verspricht. Entferne das Mißtrauen aus deiner Brust
und laß mir die ganze reine Hoffnung, dich bald wieder in meinen Armen
zu sehen!"

Nachdem er auf alle Weise seine Gattin zu beruhigen gesucht, schiffte
er sich den andern Morgen ein; seine Fahrt war glücklich, und er
gelangte bald nach Alexandrien.

Indessen lebte seine Gattin in dem ruhigen Besitz eines großen
Vermögens nach aller Lust und Bequemlichkeit, jedoch eingezogen, und
pflegte außer ihren Eltern und Verwandten niemand zu sehen, und indem
die Geschäfte ihres Mannes durch getreue Diener fortgeführt wurden,
bewohnte sie ein großes Haus, in dessen prächtigen Zimmern sie mit
Vergnügen täglich das Andenken ihres Gemahls erneuerte.

So sehr sie aber auch sich stille hielt und eingezogen lebte, waren
doch die jungen Leute der Stadt nicht untätig geblieben. Sie
versäumten nicht, häufig vor ihrem Fenster vorbeizugehen, und suchten
des Abends durch Musik und Gesänge ihre Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Die schöne Einsame fand anfangs diese Bemühungen unbequem und
lästig, doch gewöhnte sie sich bald daran und ließ an den langen
Abenden, ohne sich zu bekümmern, woher sie kämen, die Serenaden als
eine angenehme Unterhaltung sich gefallen und konnte dabei manchen
Seufzer, der ihrem Abwesenden galt, nicht zurückhalten.

Anstatt daß ihre unbekannten Verehrer, wie sie hoffte, nach und nach
müde geworden wären, schienen sich ihre Bemühungen noch zu vermehren
und zu einer beständigen Dauer anzulassen. Sie konnte nun die
wiederkehrenden Instrumente und Stimmen, die wiederholten Melodien
schon unterscheiden und bald sich die Neugierde nicht mehr versagen,
zu wissen, wer die Unbekannten und besonders wer die Beharrlichen sein
möchten. Sie durfte sich zum Zeitvertreib eine solche Teilnahme wohl
erlauben.

Sie fing daher an, von Zeit zu Zeit durch ihre Vorhänge und Halbläden
nach der Straße zu sehen, auf die Vorbeigehenden zu merken und
besonders die Männer zu unterscheiden, die ihre Fenster am längsten im
Auge behielten. Es waren meist schöne, wohlgekleidete junge Leute,
die aber freilich in Gebärden sowohl als in ihrem ganzen äußern
ebensoviel Leichtsinn als Eitelkeit sehen ließen. Sie schienen mehr
durch ihre Aufmerksamkeit auf das Haus der Schönen sich merkwürdig
machen als jener eine Art von Verehrung beweisen zu wollen.

"Wahrlich", sagte die Dame manchmal scherzend zu sich selbst, "mein
Mann hat einen klugen Einfall gehabt! Durch die Bedingung, unter der
er mir einen Liebhaber zugesteht, schließt er alle diejenigen aus, die
sich um mich bemühen und dir mir allenfalls gefallen könnten. Er weiß
wohl, daß Klugheit, Bescheidenheit und Verschwiegenheit Eigenschaften
eines ruhigen Alters sind, die zwar unser Verstand schätzt, die aber
unsre Einbildungskraft keinesweges aufzuregen noch unsre Neigung
anzureizen imstande sind. Vor diesen, die mein Haus mit ihren
Artigkeiten belagern, bin ich sicher, daß sie kein Vertrauen erwecken,
und die, denen ich mein Vertrauen schenken könnte, finde ich nicht im
mindesten liebenswürdig."

In der Sicherheit dieser Gedanken erlaubte sie sich immer mehr, dem
Vergnügen an der Musik und an der Gestalt der vorbeigehenden Jünglinge
nachzuhängen, und ohne daß sie es merkte, wuchs nach und nach ein
unruhiges Verlangen in ihrem Busen, dem sie nur zu spät zu
widerstreben gedachte. Die Einsamkeit und der Müßiggang, das bequeme,
gute und reichliche Leben waren ein Element, in welchem sich eine
unregelmäßige Begierde früher, als das gute Kind dachte, entwickeln
mußte.

Sie fing nun an, jedoch mit stillen Seufzern, unter den Vorzügen ihres
Gemahls auch seine Welt--und Menschenkenntnis, besonders die Kenntnis
des weiblichen Herzens zu bewundern. "So war es also doch möglich,
was ich ihm so lebhaft abstritt", sagte sie zu sich selbst, "und so
war es also doch nötig, in einem solchen Falle mir Vorsicht und
Klugheit anzuraten! Doch was können Vorsicht und Klugheit da, wo der
unbarmherzige Zufall nur mit einem unbestimmten Verlangen zu spielen
scheint! Wie soll ich den wählen, den ich nicht kenne? Und bleibt
bei näherer Bekanntschaft noch eine Wahl übrig?"

Mit solchen und hundert andern Gedanken vermehrte die schöne Frau das
übel, das bei ihr schon weit genug um sich gegriffen hatte. Vergebens
suchte sie sich zu zerstreuen; jeder angenehme Gegenstand machte ihre
Empfindung rege, und ihre Empfindung brachte, auch in der tiefsten
Einsamkeit, angenehme Bilder in ihrer Einbildungskraft hervor.

In solchem Zustande befand sie sich, als sie unter andern
Stadtneuigkeiten von ihren Verwandten vernahm, es sei ein junger
Rechtsgelehrter, der zu Bologna studiert habe, soeben in seine
Vaterstadt zurückgekommen. Man wußte nicht genug zu seinem Lobe zu
sagen. Bei außerordentlichen Kenntnissen zeigte er eine Klugheit und
Gewandtheit, die sonst Jünglingen nicht eigen ist, und bei einer sehr
reizenden Gestalt die größte Bescheidenheit. Als Prokurator hatte er
bald das Zutrauen der Bürger und die Achtung der Richter gewonnen.
Täglich fand er sich auf dem Rathause ein, um daselbst seine Geschäfte
zu besorgen und zu betreiben.

Die Schöne hörte die Schilderung eines so vollkommenen Mannes nicht
ohne Verlangen, ihn näher kennenzulernen, und nicht ohne stillen
Wunsch, in ihm denjenigen zu finden, dem sie ihr Herz, selbst nach der
Vorschrift ihres Mannes, übergeben könnte. Wie aufmerksam ward sie
daher, als sie vernahm, daß er täglich vor ihrem Hause vorbeigehe; wie
sorgfältig beobachtete sie die Stunde, in der man auf dem Rathause
sich zu versammeln pflegte! Nicht ohne Bewegung sah sie ihn endlich
vorbeigehen, und wenn seine schöne Gestalt und seine Jugend für sie
notwendig reizend sein mußten, so war seine Bescheidenheit von der
andern Seite dasjenige, was sie in Sorgen versetzte.

Einige Tage hatte sie ihn heimlich beobachtet und konnte nun dem
Wunsche nicht länger widerstehen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen. Sie kleidete sich mit Sorgfalt, trat auf den Balkon, und das
Herz schlug ihr, als sie ihn die Straße herkommen sah. Allein wie
betrübt, ja beschämt war sie, als er wie gewöhnlich mit bedächtigen
Schritten, in sich gekehrt und mit niedergeschlagenen Augen, ohne sie
auch nur zu bemerken, auf das zierlichste seines Weges vorbeiging.

Vergebens versuchte sie mehrere Tage hintereinander auf ebendiese
Weise, von ihm bemerkt zu werden. Immer ging er seinen gewöhnlichen
Schritt, ohne die Augen aufzuschlagen oder da--und dorthin zu wenden.
Je mehr sie ihn aber ansah, desto mehr schien er ihr derjenige zu sein,
dessen sie so sehr bedurfte. Ihre Neigung ward täglich lebhafter und,
da sie ihr nicht widerstand, endlich ganz und gar gewaltsam. "Wie!"
sagte sie zu sich selbst, "nachdem dein edler, verständiger Mann den
Zustand vorausgesehen, in dem du dich in seiner Abwesenheit befinden
würdest, da seine Weissagung eintrifft, daß du ohne Freund und
Günstling nicht leben kannst, sollst du dich nun verzehren und
abhärmen zu der Zeit, da dir das Glück einen Jüngling zeigt, völlig
nach deinem Sinne, nach dem Sinne deines Gatten, einen Jüngling, mit
dem du die Freuden der Liebe in einem undurchdringlichen Geheimnis
genießen kannst? Töricht, wer die Gelegenheit versäumt, töricht, wer
der gewaltsamen Liebe widerstehen will!" Mit solchen und vielen
andern Gedanken suchte sich die schöne Frau in ihrem Vorsatze zu
stärken, und nur kurze Zeit ward sie noch von Ungewißheit hin und her
getrieben. Endlich aber, wie es begegnet, daß eine Leidenschaft,
welcher wir lange widerstehen, uns zuletzt auf einmal dahinreißt und
unser Gemüt dergestalt erhöht, daß wir auf Besorgnis und Furcht,
Zurückhaltung und Scham, Verhältnisse und Pflichten mit Verachtung als
auf kleinliche Hindernisse zurücksehen, so faßte sie auf einmal den
raschen Entschluß, ein junges Mädchen, das ihr diente, zu dem
geliebten Manne zu schicken und, es koste nun, was es wolle, zu seinem
Besitze zu gelangen.

Das Mädchen eilte und fand ihn, als er eben mit vielen Freunden zu
Tische saß, und richtete ihren Gruß, den ihre Frau sie gelehrt hatte,
pünktlich aus. Der junge Prokurator wunderte sich nicht über diese
Botschaft; er hatte den Handelsmann in seiner Jugend gekannt, er wußte,
daß er gegenwärtig abwesend war, und ob er gleich von seiner Heirat
nur von weitem gehört hatte, vermutete er doch, daß die
zurückgelassene Frau in der Abwesenheit ihres Mannes wahrscheinlich in
einer wichtigen Sache seines rechtlichen Beistandes bedürfe. Er
antwortete deswegen dem Mädchen auf das verbindlichste und versicherte,
daß er, sobald man von der Tafel aufgestanden, nicht säumen würde,
ihrer Gebieterin aufzuwarten. Mit unaussprechlicher Freude vernahm
die schöne Frau, daß sie den Geliebten nun bald sehen und sprechen
sollte. Sie eilte, sich aufs beste anzuziehen, und ließ geschwind ihr
Haus und ihre Zimmer auf das reinlichste ausputzen. Orangenblätter
und Blumen wurden gestreut, der Sofa mit den köstlichsten Teppichen
bedeckt. So ging die kurze Zeit, die er ausblieb, beschäftigt hin,
die ihr sonst unerträglich lang geworden wäre.

Mit welcher Bewegung ging sie ihm entgegen, als er endlich ankam, mit
welcher Verwirrung hieß sie ihn, indem sie sich auf das Ruhebett
niederließ, auf ein Taburett sitzen, das zunächst dabeistand! Sie
verstummte in seiner so erwünschten Nähe, sie hatte nicht bedacht, was
sie ihm sagen wollte; auch er war still und saß bescheiden vor ihr.
Endlich ermannte sie sich und sagte nicht ohne Sorge und Beklommenheit:

"Sie sind noch nicht lange in Ihrer Vaterstadt wiederangekommen, mein
Herr, und schon sind Sie allenthalben für einen talentreichen und
zuverlässigen Mann bekannt. Auch ich setze mein Vertrauen auf Sie in
einer wichtigen und sonderbaren Angelegenheit, die, wenn ich es recht
bedenke, eher für den Beichtvater als für den Sachwalter gehört. Seit
einem Jahre bin ich an einen würdigen und reichen Mann verheiratet,
der, solange wir zusammenlebten, die größte Aufmerksamkeit für mich
hatte und über den ich mich nicht beklagen würde, wenn nicht ein
unruhiges Verlangen zu reisen und zu handeln ihn seit einiger Zeit aus
meinen Armen gerissen hätte.

Als ein verständiger und gerechter Mann fühlte er wohl das Unrecht,
das er mir durch seine Entfernung antat. Er begriff, daß ein junges
Weib nicht wie Juwelen und Perlen verwahrt werden könne; er wußte, daß
sie vielmehr einem Garten voll schöner Früchte gleicht, die für
jedermann so wie für den Herrn verloren wären, wenn er eigensinnig die
Türe auf einige Jahre verschließen wollte. Er sprach mir daher vor
seiner Abreise sehr ernstlich zu, er versicherte mir, daß ich ohne
Freund nicht würde leben können, er gab mir dazu nicht allein die
Erlaubnis, sondern er drang in mich und nötigte mir gleichsam das
Versprechen ab, daß ich der Neigung, die sich in meinem Herzen finden
würde, frei und ohne Anstand folgen wollte."

Sie hielt einen Augenblick inne, aber bald gab ihr ein
vielversprechender Blick des jungen Mannes Mut genug, in ihrem
Bekenntnis fortzufahren.

"Eine einzige Bedingung fügte mein Gemahl zu seiner übrigens so
nachsichtigen Erlaubnis. Er empfahl mir die äußerste Vorsicht und
verlangte ausdrücklich, daß ich mir einen gesetzten, zuverlässigen,
klugen und verschwiegenen Freund wählen sollte. Ersparen Sie mir, das
übrige zu sagen, mein Herr, ersparen Sie mir die Verwirrung, mit der
ich Ihnen bekennen würde, wie sehr ich für Sie eingenommen bin, und
erraten Sie aus diesem Zutrauen meine Hoffnungen und meine Wünsche."

Nach einer kurzen Pause versetzte der junge, liebenswürdige Mann mit
gutem Bedachte: "Wie sehr bin ich Ihnen für das Vertrauen verbunden,
durch welches Sie mich in einem so hohen Grade ehren und glücklich
machen! Ich wünsche nur lebhaft, Sie zu überzeugen, daß Sie sich an
keinen Unwürdigen gewendet haben. Lassen Sie mich Ihnen zuerst als
Rechtsgelehrter antworten; und als ein solcher gesteh ich Ihnen, daß
ich Ihren Gemahl bewundere, der sein Unrecht so deutlich gefühlt und
eingesehen hat, denn es ist gewiß, daß einer, der ein junges Weib
zurückläßt, um ferne Weltgegenden zu besuchen, als ein solcher
anzusehen ist, der irgendein anderes Besitztum völlig derelinquiert
und durch die deutlichste Handlung auf alles Recht daran Verzicht tut.
Wie es nun dem ersten besten erlaubt ist, eine solche völlig ins
Freie gefallene Sache wieder zu ergreifen, so muß ich es um so mehr
für natürlich und billig halten, daß eine junge Frau, die sich in
diesem Zustande befindet, ihre Neigung abermals verschenke und sich
einem Freunde, der ihr angenehm und zuverlässig scheint, ohne Bedenken
überlasse.

Tritt nun aber gar wie hier der Fall ein, daß der Ehemann selbst,
seines Unrechts sich bewußt, mit ausdrücklichen Worten seiner
hinterlassenen Frau dasjenige erlaubt, was er ihr nicht verbieten kann,
so bleibt gar kein Zweifel übrig, um so mehr, da demjenigen kein
Unrecht geschieht, der es willig zu ertragen erklärt hat.

Wenn Sie mich nun", fuhr der junge Mann mit ganz andern Blicken und
dem lebhaftesten Ausdrucke fort, indem er die schöne Freundin bei der
Hand nahm, "wenn Sie mich zu Ihrem Diener erwählen, so machen Sie mich
mit einer Glückseligkeit bekannt, von der ich bisher keinen Begriff
hatte. Sein Sie versichert", rief er aus, indem er die Hand küßte,
"daß Sie keinen ergebnern, zärtlichern, treuern und verschwiegenern
Diener hätten finden können!"

Wie beruhigt fühlte sich nach dieser Erklärung die schöne Frau. Sie
scheute sich nicht, ihm ihre Zärtlichkeit aufs lebhafteste zu zeigen;
sie drückte seine Hände, drängte sich näher an ihn und legte ihr Haupt
auf seine Schulter. Nicht lange blieben sie in dieser Lage, als er
sich auf eine sanfte Weise von ihr zu entfernen suchte und nicht ohne
Betrübnis zu reden begann: "Kann sich wohl ein Mensch in einem
seltsamern Verhältnisse befinden? Ich bin gezwungen, mich von Ihnen
zu entfernen und mir die größte Gewalt anzutun in einem Augenblicke,
da ich mich den süßesten Gefühlen überlassen sollte. Ich darf mir das
Glück, das mich in Ihren Armen erwartet, gegenwärtig nicht zueignen.
Ach! wenn nur der Aufschub mich nicht um meine schönsten Hoffnungen
betriegt!"

Die Schöne fragte ängstlich nach der Ursache dieser sonderbaren
äußerung.

"Eben als ich in Bologna", versetzte er, "am Ende meiner Studien war
und mich aufs äußerste angriff, mich zu meiner künftigen Bestimmung
geschickt zu machen, verfiel ich in eine schwere Krankheit, die, wo
nicht mein Leben zu zerstören, doch meine körperlichen und
Geisteskräfte zu zerrütten drohte. In der größten Not und unter den
heftigsten Schmerzen tat ich der Mutter Gottes ein Gelübde, daß ich,
wenn sie mich genesen ließe, ein Jahr lang in strengem Fasten
zubringen und mich alles Genusses, von welcher Art er auch sei,
enthalten wolle. Schon zehn Monate habe ich mein Gelübde auf das
treulichste erfüllt, und sie sind mir in Betrachtung der großen
Wohltat, die ich erhalten, keinesweges lang geworden, da es mir nicht
beschwerlich ward, manches gewohnte und bekannte Gute zu entbehren.
Aber zu welcher Ewigkeit werden mir nun zwei Monate, die noch übrig
sind, da mir erst nach Verlauf derselben ein Glück zuteil werden kann,
welches alle Begriffe übersteigt! Lassen Sie sich die Zeit nicht lang
werden und entziehen Sie mir Ihre Gunst nicht, die Sie mir so
freiwillig zugedacht haben!"

Die Schöne, mit dieser Erklärung nicht sonderlich zufrieden, faßte
doch wieder bessern Mut, als der Freund nach einigem Nachdenken zu
reden fortfuhr: "Ich wagte kaum, Ihnen einen Vorschlag zu tun und das
Mittel anzuzeigen, wodurch ich früher von meinem Gelübde entbunden
werden kann. Wenn ich jemand fände, der so streng und sicher wie ich
das Gelübde zu halten übernähme und die Hälfte der noch übrigen Zeit
mit mir teilte, so würde ich um so geschwinder frei sein, und nichts
würde sich unsern Wünschen entgegenstellen. Sollten Sie nicht, meine
süße Freundin, um unser Glück zu beschleunigen, willig sein, einen
Teil des Hindernisses, das uns entgegensieht, hinwegzuräumen? Nur der
zuverlässigsten Person kann ich einen Anteil an meinem Gelübde
übertragen; es ist streng, denn ich darf des Tages nur zweimal Brot
und Wasser genießen, darf des Nachts nur wenige Stunden auf einem
harten Lager zubringen und muß ungeachtet meiner vielen Geschäfte eine
große Anzahl Gebete verrichten. Kann ich, wie es mir heute geschehen
ist, nicht vermeiden, bei einem Gastmahl zu erscheinen, so darf ich
deswegen doch nicht meine Pflicht hintansetzen, vielmehr muß ich den
Reizungen aller Leckerbissen, die an mir vorübergehen, zu widerstehen
suchen. Können Sie sich entschließen, einen Monat lang gleichfalls
alle diese Gesetze zu befolgen, so werden Sie alsdann sich selbst in
dem Besitz eines Freundes desto mehr erfreuen, als Sie ihn durch ein
so lobenswürdiges Unternehmen gewissermaßen selbst erworben haben."

Die schöne Dame vernahm ungern die Hindernisse, die sich ihrer Neigung
entgegensetzten; doch war ihre Liebe zu dem jungen Manne durch seine
Gegenwart dergestalt vermehrt worden, daß ihr keine Prüfung zu streng
schien, wenn ihr nur dadurch der Besitz eines so werten Gutes
versichert werden konnte. Sie sagte ihm daher mit den gefälligsten
Ausdrücken: "Mein süßer Freund! das Wunder, wodurch Sie Ihre
Gesundheit wiedererlangt haben, ist mir selbst so wert und
verehrungswürdig, daß ich es mir zur Freude und Pflicht mache, an dem
Gelübde teilzunehmen, das Sie dagegen zu erfüllen schuldig sind. Ich
freue mich, Ihnen einen so sichern Beweis meiner Neigung zu geben; ich
will mich auf das genaueste nach Ihrer Vorschrift richten, und ehe Sie
mich lossprechen, soll mich nichts von dem Wege entfernen, auf den Sie
mich einleiten."

Nachdem der junge Mann mit ihr aufs genaueste diejenigen Bedingungen
abgeredet, unter welchen sie ihm die Hälfte seines Gelübdes ersparen
konnte, entfernte er sich mit der Versicherung, daß er sie bald wieder
besuchen und nach der glücklichen Beharrlichkeit in ihrem Vorsatze
fragen würde, und so mußte sie ihn gehen lassen, als er ohne
Händedruck, ohne Kuß, mit einem kaum bedeutenden Blicke von ihr schied.
Ein Glück für sie war die Beschäftigung, die ihr der seltsame
Vorsatz gab, denn sie hatte manches zu tun, um ihre Lebensart völlig
zu verändern. Zuerst wurden die schönen Blätter und Blumen
hinausgekehrt, die sie zu seinem Empfang hatte streuen lassen; dann
kam an die Stelle des wohlgepolsterten Ruhebettes ein hartes Lager,
auf das sie sich, zum erstenmal in ihrem Leben nur von Wasser und Brot
kaum gesättigt, des Abends niederlegte. Des andern Tages war sie
beschäftigt, Hemden zuzuschneiden und zu nähen, deren sie eine
bestimmte Zahl für ein Armen--und Krankenhaus fertig zu machen
versprochen hatte. Bei dieser neuen und unbequemen Beschäftigung
unterhielt sie ihre Einbildungskraft immer mit dem Bilde ihres süßen
Freundes und mit der Hoffnung künftiger Glückseligkeit, und bei
ebendiesen Vorstellungen schien ihre schmale Kost ihr eine
herzstärkende Nahrung zu gewähren.

So verging eine Woche, und schon am Ende derselben fingen die Rosen
ihrer Wangen an, einigermaßen zu verbleichen. Kleider, die ihr sonst
wohl paßten, waren zu weit und ihre sonst so raschen und muntern
Glieder matt und schwach geworden, als der Freund wieder erschien und
ihr durch seinen Besuch neue Stärke und Leben gab. Er ermahnte sie,
in ihrem Vorsatze zu beharren, munterte sie durch sein Beispiel auf
und ließ von weitem die Hoffnung eines ungestörten Genusses
durchblicken. Nur kurze Zeit hielt er sich auf und versprach, bald
wiederzukommen.

Die wohltätige Arbeit ging aufs neue muntrer fort, und von der
strengen Diät ließ man keineswegs nach. Aber auch, leider! hätte sie
durch eine große Krankheit nicht mehr erschöpft werden können. Ihr
Freund, der sie am Ende der Woche abermals besuchte, sah sie mit dem
größten Mitleiden an und stärkte sie durch den Gedanken, daß die
Hälfte der Prüfung nun schon vorüber sei.

Nun ward ihr das ungewohnte Fasten, Beten und Arbeiten mit jedem Tage
lästiger, und die übertriebene Enthaltsamkeit schien den gesunden
Zustand eines an Ruhe und reichliche Nahrung gewöhnten Körpers
gänzlich zu zerrütten. Die Schöne konnte sich zuletzt nicht mehr auf
den Füßen halten und war genötigt, ungeachtet der warmen Jahrszeit
sich in doppelte und dreifache Kleider zu hüllen, um die beinah völlig
verschwindende innerliche Wärme einigermaßen zusammenzuhalten. Ja sie
war nicht länger imstande, aufrecht zu bleiben, und sogar gezwungen,
in der letzten Zeit das Bett zu hüten.

Welche Betrachtungen mußte sie da über ihren Zustand machen! Wie oft
ging diese seltsame Begebenheit vor ihrer Seele vorbei, und wie
schmerzlich fiel es ihr, als zehn Tage vergingen, ohne daß der Freund
erschienen wäre, der sie diese äußersten Aufopferungen kostete!
Dagegen aber bereitete sich in diesen trüben Stunden ihre völlige
Genesung vor, ja sie ward entschieden. Denn als bald darauf ihr
Freund erschien und sich an ihr Bette auf eben dasselbe Taburett
setzte, auf dem er ihre erste Erklärung vernommen hatte, und ihr
freundlich, ja gewissermaßen zärtlich zusprach, die kurze Zeit noch
standhaft auszudauern, unterbrach sie ihn mit Lächeln und sagte: "Es
bedarf weiter keines Zuredens, mein werter Freund, und ich werde mein
Gelübde diese wenigen Tage mit Geduld und mit der überzeugung
ausdauern, daß Sie es mir zu meinem Besten auferlegt haben. Ich bin
jetzt zu schwach, als daß ich Ihnen meinen Dank ausdrücken könnte, wie
ich ihn empfinde. Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich
mir selbst gegeben, und ich erkenne, daß ich mein ganzes Dasein von
nun an Ihnen schuldig bin.

Wahrlich! mein Mann war verständig und klug und kannte das Herz einer
Frau; er war billig genug, sie über eine Neigung nicht zu schelten,
die durch seine Schuld in ihrem Busen entstehen konnte, ja er war
großmütig genug, seine Rechte der Forderung der Natur hintanzusetzen.
Aber Sie, mein Herr, Sie sind vernünftig und gut; Sie haben mich
fühlen lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr
das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut
zu entsagen und selbst unsere heißesten Wünsche von uns zu entfernen.
Sie haben mich in diese Schule durch Irrtum und Hoffnung geführt; aber
beide sind nicht mehr nötig, wenn wir uns erst mit dem guten und
mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns
wohnt und so lange, bis es die Herrschaft im Hause gewinnt, wenigstens
durch zarte Erinnerungen seine Gegenwart unaufhörlich merken läßt.
Leben Sie wohl! Ihre Freundin wird Sie künftig mit Vergnügen sehen;
wirken Sie auf Ihre Mitbürger wie auf mich; entwickeln Sie nicht
allein die Verwirrungen, die nur zu leicht über Besitztümer entstehen,
sondern zeigen Sie ihnen auch durch sanfte Anleitung und durch
Beispiel, daß in jedem Menschen die Kraft der Tugend im Verborgenen
keimt; die allgemeine Achtung wird Ihr Lohn sein, und Sie werden mehr
als der erste Staatsmann und der größte Held den Namen Vater des
Vaterlandes verdienen."

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten ist eine Novellensammlung von Johann Wolfgang von Goethe, erschienen 1795.

Inhaltsverzeichnis
1 Rahmenhandlung
2 Inhalt
3 Literatur
4 Weblinks

Rahmenhandlung
Das Konzept der Rahmenhandlung − der realen Situation einer Gruppe, die einen Zerfall der Kultur erlebt, wird als Hort der Kultur eine Erzählwelt entgegengesetzt − hat Goethe von Boccaccios Decamerone übernommen. Was bei Boccaccio die Pest in Florenz ist, ist bei Goethe der Ausbruch der Französischen Revolution und ihre Auswirkungen auf Deutschland. Doch zeigt sich bei ihm, dass die Rahmengesellschaft in ihrer Funktion versagt. Es gelingt nicht mehr, das schreckliche Ereignis, das die Rahmengesellschaft konstituiert und dazu motiviert, sich mittels Erzählungen über das drohende Schicksal zu vertrösten, mittels Erzählen vergessen zu machen. Im Gegenteil: Das Ereignis der Revolution dringt in den Themenkreis der Rahmengesellschaft ein (zunächst streitet der junge Karl als Befürworter der Revolution mit dem konservativen alten Geheimrat, der aus Verärgerung die Gesellschaft verlässt, später bricht ein Bedienter in die Runde ein und berichtet von Feuer auf den Gütern, die den Franzosen in die Hand gefallen sind). Etwa ein Zehntel (insbesondere der Einstieg) handelt direkt oder indirekt von den außenpolitischen Verhältnissen, infolge derer jene Leute flüchten mussten. Der zeitgeschichtliche Hintergrund der erzählten Ereignisse sind der Erste Koalitionskrieg und die Ereignisse um die Mainzer Republik.

Inhalt
Aus der Runde (die Baronesse, Karl, Luise, der Geistliche) treten die einzelnen Figuren kaum durch besondere Charaktereigenschaften hervor. Die Baronesse ist sehr freundlich und tritt als Gastgeberin auf, Luise ist schnippisch und interessiert an Frivolitäten. Einzig Karl fällt durch leidenschaftliche Verfechtung seiner Überzeugungen auf. Als Erzähler treten der alte Geistliche, aber auch Karl auf (Die schöne Krämerin / Der Schleier). Zwischen den beiden finden wir einen Gegensatz: Karl verkörpert den Novellenerzähler in der Tradition Boccaccios, während der Geistliche als Aufklärer einen moralischen, erzieherischen Ansatz verfolgt.

Was die erzählten Geschichten betrifft, so bestehen sie aus insgesamt sieben Erzählungen:

Die Sängerin Antonelli
Das rätselhafte Klopfen
Die schöne Krämerin
Der Schleier
Der Prokurator
Ferdinand
Das Märchen

Die meisten der Novellen wurden von Goethe aufgrund einer Vorlage nacherzählt (leicht abgewandelt). Einzig die Geschichte von Ferdinand und das Kunstmärchen hat Goethe selbst erdacht. Von allen Geschichten behandeln die ersten beiden Gespenstisches (Schauernovellen). Die beiden darauf folgenden, die der leidenschaftliche Karl erzählt, handeln von erotischen Abenteuern. Hernach folgen moralische Erzählungen, dann das über allem stehende symbolische Märchen, das sich allein schon durch seine Gattungszugehörigkeit und dadurch, dass es die einzige von Goethe explizit durch Überschrift abgesetzte Erzählung ist, gegenüber den anderen Erzählungen abhebt.

In der wissenschaftlichen Diskussion sind vor allem zwei Problemfelder besonders hervorgetreten: zum einen das Verhältnis von Rahmenerzählung und Binnengeschichten (sowie die Genese dieser Binnengeschichten), zum anderen die Frage, ob und inwieweit Goethes Novellensammlung eine narrative Auseinandersetzung mit Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung bedeutet. Die Unterhaltungen sind sukzessive in Schillers Zeitschrift Die Horen erschienen.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Unterhaltungen_deutscher_Ausgewanderten

 

 

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